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Feste und Begräbnisse
 
Wenn die Glocke in der Silvesternacht zwölf Mal schlägt, quetschen sich die Andranesi für einen göttlichen Start ins neue Jahr in die Chiesa di Sant’Andrea. Dort bekommen sie vom achtzigjährigen Priester ihrer Stadt die jährliche Dorfstatistik mit sämtlichen Geburten, Todesfällen und Hochzeiten zu hören. Doch in den letzten Jahren musste Don Francesco bestätigen, was eine schwindende Schar von Gläubigen ohnehin wusste, nämlich dass Andranos Geistliche mehr beerdigen als taufen.
Auch wir würden bald von hier weggehen, wenn auch nicht für immer. In einem süditalienischen Fischerdorf gibt es nicht viel Arbeit für Italiener, geschweige denn für einen Australier. Deshalb würden Daniela und ich im September nach Mailand ziehen, um dort zu arbeiten. Ich hatte einen Job als Texter in der Werbeagentur ihres Bruders, während sie eine Versetzung an eine innerstädtische Grundschule organisiert hatte. Mit Ende des Schuljahres hatte Daniela jene scuola elementare verlassen, an der ihre Lehrerinnenlaufbahn vor neun Jahren begonnen hatte. Um seine Tränen über die traurige Nachricht zu rechtfertigen, sprach ein Achtjähriger für die ganze Klasse, als er sagte: »Wir sind keine Roboter. Wir haben schließlich auch ein Herz.«
Abgesehen von einer kurzen Reise nach Sizilien, um Danielas Familie kennenzulernen, blieben uns immer noch die ersten Augustwochen, um die skurrilen Besonderheiten eines Orts zu genießen, den ich nur ungern schon so bald verließ. Ich hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können, um Andrano und seine Umgebung zu erkunden, denn in der offiziellen Ferienzeit geht es im Salento trotz der heftigen Temperaturen richtig hoch her.
Der August im Absatz des italienischen Stiefels ist ein Marathon an Festivals, mit denen Orte wie Andrano ihrer Geschichte Respekt zollen. Jeden Abend kann man in einen anderen Ort fahren, wo die Einwohner ihren Schutzheiligen ebenso huldigen wie ihren Lieblingsspeisen – und mehr braucht man nicht zum Überleben. Wenn ich die Wahl zwischen einer sagra – einem Volksfest rund ums Essen – und einer festa patronale – einem religiösen Fest – hatte, stimmte ich zu Danielas Erleichterung regelmäßig mit dem Magen ab.
Im Fischerdorf Porto Badisco rächte ich mich bei der Sagra del Riccio di Mare an dem Seeigel, der meinen Fuß zerstochen hatte. Bewaffnet mit speziellen Messern, die sie gegen die Stacheln schützen, boten Fischer die scheuen Mollusken feil und servierten sie mit selbst gemachtem Brot und Wein. Die Rache schmeckte süß, viel süßer als das Krustentier, das von mir aus gut und gern am Meeresboden hätte bleiben dürfen.
Im Ort Depressa, der nach seiner Lage in einem tiefen Tal und nicht nach dem psychischen Gesundheitszustand seiner Einwohner benannt war, gingen wir zur Sagra della Pasta Fatta in Casa – zum Fest der selbst gemachten Nudeln. Sie schmeckten teigig und langweilig, und ich schockierte Daniela und sämtliche Puristen in Hörweite, indem ich gestand, dass ich Barilla-Nudeln aus der Packung bevorzuge. Daniela hatte sich mit einem Banausen eingelassen.
Bei einer solchen Gastronomietour schleifte mich Daniela von einem Fest zum nächsten: Es gab das Olivenfestival in Torre dell’Orso, das Fischfestival in La Marina di Torre Vado, das Auberginenfestival in Collemento, das Pferdefleischfestival in Seclì, das Schneckenfestival in Cannole und das Pizzafestival in einem Ort, dessen Namen ich längst vergessen habe, aber in dem mehrere Küchenchefbrigaden eine Pizza backten, die fast so groß war wie seine Piazza. Mein Lieblingsfestival war die Sagra delle Cozze in Castro, wo ich zwei Teller Spaghetti mit Miesmuscheln in Weißweinsauce verputzte, gefolgt von mehreren Bechern Pfirsich- und Zitroneneis. Im Vergleich dazu war Daniela richtig spartanisch. Ihr Lieblingsfestival war die Sagra della Frisella in Specchia Gallone, wo sich einen Abend lang alles um trockenes Weizenbrot mit Tomaten, Olivenöl, Salz, Ruccola und Oregano dreht. Daniela liebt die unzähligen Variationen von Grundnahrungsmitteln wie Brot. Zweifellos ein Erbe aus schlechten Zeiten, als solche Grundnahrungsmittel alles waren, was die Menschen besaßen. Selbst in den feinsten Restaurants füllt sie ihren Magen mit Brot, lange bevor die Vorspeise kommt. Keine Ahnung, warum ich sie überhaupt dahin ausführe.
Die auf den verschiedenen Sagre angefressenen Pfunde wurden wir auf der bizarren Festa del Ballo wieder los, einem fünfzehntägigen Tanzmarathon, der in der Stadt Melpignano in der Notte della Tarantola – der Tarantellanacht – seinen Höhepunkt findet. Indem sie ein wildes sinnliches Gezappel namens Tarantola aufführen, imitieren die Tänzer Opfer einer heute als psychosomatisch geltenden Erkrankung, die über tausend Jahre alt ist. Solche Fälle sind in ganz Süditalien dokumentiert, aber die Krankheit grassierte vor allem in Apulien. Dort ist auch die Stadt Taranto beheimatet, von der die Tarantelspinne ihren Namen hat.
Der Glaube, dass der Biss einer Tarantel das Opfer bzw. den sogenannten Tarantato zum Sklaven der riesigen Spinne macht, war weithin verbreitet. Der Tarantato begann zu zittern, sobald sich die Tarantel bewegte oder paarte, und lockte damit Musiker mit Violinen und Tamburinen an. Die spielten dann, was als Pizzica – als »Kneifen« oder »Beißen« – der Tarantel bekannt wurde. Eine Art Musiktherapie, die half, die voodooartigen Qualen zu vertreiben. Die Opfer flehten die Musiker an, immer schneller zu spielen und sich immer mehr zusammenzudrängen, damit die Schwingungen der Instrumente den Schmerz des Bisses linderten und die Blutgerinnung beschleunigten.
Der Tarantato vollführte zuckende, rhythmisch wiederkehrende Bewegungen, die langsam begannen und sich dann zu einer tranceartigen Ekstase steigerten. Die Menschen tanzten Tage hintereinander und sollen dabei Spinnenkräfte angenommen haben. Ein Tarantato, ein ansonsten erschöpfter Achtzigjähriger, soll drei Tage lang getanzt und auf das Dach seiner Kirche geklettert sein, während eine Frau unter die vier Beine eines Holzstuhls getanzt sein soll, wo sie zitternd und mit verdrehten Gliedmaßen mehrere unangenehme Stunden ausharrte.
Die Wissenschaft hat einige verbürgte Fälle von Tarantismo nachweisen können. Überzeugender ist jedoch eine alternative Theorie. Sie entstand, als man entdeckte, dass die meisten Opfer Frauen waren. Aufgrund ihrer sozialen und sexuellen Unterdrückung sollen sie ihren befreienden, erotischen Tanz, der unter normalen Umständen inakzeptabel gewesen wäre, mit dem Biss einer Spinne gerechtfertigt haben. Der erlaubte ein wollüstiges Ausbrechen aus jeder Etikette – angefangen vom Striptease in der Öffentlichkeit bis hin zu blasphemischen Flüchen in der Kirche.
Trotz ihres psychosomatischen Stigmas gibt es die Krankheit heute noch. In der Stadt Galatina, 30 Kilometer nördlich von Andrano, versammeln sich jedes Jahr am 29. Juni jene Tarantati, die darauf bestehen, von einer Spinne besessen zu sein. In der Kirche von San Paolo bitten sie dann den Schutzheiligen der Tarantati um Erlösung. Wie mir erzählt wurde, müssen sie stinkendes Wasser aus einer Quelle voller Schlangen, Frösche und Spinnen trinken. Wer danach dringend urinieren muss, wurde erlöst. Wie es bewertet wird, wenn man sich übergeben muss, weiß ich nicht.
Wir tranken in der Notte della Tarantola jedenfalls etwas erheblich Köstlicheres, nämlich einen herben Weißwein eines lokalen Weinguts, der gerade mal drei Dollar pro Flasche kostete. Der Wahn der Pizzica befiel die ganze Piazza von Melpignano, und sogar ich verausgabte mich bei der Tarantella, obwohl ich mich mit erotischen Trancezuständen in der Öffentlichkeit eher schwertue. Daniela meinte, ich hätte mich wohl eher in einem Spinnennetz verfangen, als von seiner Eigentümerin gebissen worden zu sein. Ihre englische Freundin aus Lecce übte noch heftigere Kritik an meinem unorthodoxen Stil und sagte, ich sähe aus wie ein brünstiger Vogel Strauß mit einem nervösen Tick. Daraufhin zog ich es vor, einer Gruppe knapp bekleideter junger Frauen zuzusehen, die einmal im Jahr einen guten Vorwand hatten, um ihre biegsamen, braun gebrannten Körper zur Schau zu stellen.
 
Am frühen Abend des 2. August saß ich auf den Haustürstufen und beobachtete wie sooft das Leben auf der Straße, als ein vigile vorbeikam und ein Plakat an unserem Mäuerchen befestigte, auf dem stand: »Sonderveranstaltung – Parken verboten«. Ungefähr alle zehn Meter befestigte er ein weiteres Plakat, sei es an einem Laternenmast, einer Mülltonne oder am Mäuerchen unserer Nachbarn, um die Einwohner zu informieren, dass morgen eine religiöse Prozession an ihren Häusern vorbeikäme.
Schon um sieben Uhr früh wurde ich am nächsten Morgen von einem Chor derart unsanft geweckt, dass ich dachte, die Sarazenen wären wieder da. Die Wände zitterten, die Schutzbleche an unseren Fahrrädern klapperten, die Scheiben klirrten, Danielas Druck von Gustav Klimts Der Kuss fiel von der Wand, und die zwei Chihuahuas im Nachbargarten mussten kotzen vor lauter Angst. Nachdem die Burgkanone von Andrano ein Dutzend Mal abgefeuert worden war, hatte zweifellos der ganze Salento mitbekommen, dass heute Abend Andranos Festa Patronale della Madonna stattfinden würde.
Kulinarische Feste sind geradezu bedeutungslos im Vergleich zur jährlichen Hommage einer Stadt an ihren persönlichen Schutzheiligen. Die meisten Orte im Salento feiern ein solches Dankesfest im Sommer. Beinahe jeden Abend hörte ich ein Grollen in der Ferne, welches das wundersame Aufziehen eines Gewitters anzukündigen schien – ein kleiner Hoffnungsschimmer auf Regen, der dem von der Sonne ausgedörrten Süden nur gutgetan hätte. Aber wenn ich dann auf die Dachterrasse eilte, stellte ich regelmäßig fest, dass der Donner nur von einer weiteren Kanone stammte, die auf einer etwas weiter weg gelegenen Burg abgefeuert wurde, oder aber von einem Feuerwerk weit hinten am Horizont. Keine Festa Patronale kommt ohne Feuerwerk aus, denn wichtiger als das Fest selbst ist es, die umliegenden Orte damit zu beeindrucken.
Auf Danielas ketzerischen Rat hin hatte ich die religiösen Feste anderer Orte gemieden. Aber als Einwohner von Andrano konnte ich das eigene schlecht ignorieren. Seit dreihundert Jahren ehren die Andranesi ihre Schutzheilige, die Madonna delle Grazie – die Madonna voller Gnaden -, Anfang August mit einem extravaganten Stadtfest. Die Madonna ist die Koschutzheilige von Andrano und teilt sich die Verantwortung mit dem heiligen Andreas – dem Schutzheiligen der Fischer -, nach dem Andrano benannt wurde. So kommt der Ort in den Genuss von gleich zwei Feiertagen. Selbst in Orten, wo sie keine offizielle Schutzheilige ist, stehen am Straßenrand und auf den Piazze Schreine, die der Madonna gewidmet sind. Aber in Andrano ist sie etwas ganz Besonderes und schmückt viele Privathäuser. Deren Bewohner bringen oft einen Schaukasten an der Hauswand an, in dem die heilige Jungfrau steht, gütig und verstaubt, und für immer über jene wacht, die dahinter leben.
Kurz nachdem unser Nachbar Umberto seine Chihuahuas gesäubert und beruhigt hatte, begannen sie erneut zu kläffen, weil die Prozession kam. Voraus gingen Don Francesco und mehrere Geistliche mit goldenen Stäben. Diesen heiligen Herren folgten vier untersetzte Männer mit einer lebensgroßen Madonnenstatue auf ihren Schultern sowie eine Blechblaskapelle, die mit mehr Begeisterung als Begabung spielte. Das Ende der Menschenschlange, die sich beinahe den ganzen Vormittag durch die Straßen schlängelte, wurde von mehreren Hundert Gläubigen in unordentlichen Reihen gebildet, die sich unterhielten und versuchten, ihre Kinder um sich zu scharen – und zwar mit einem Vokabular, das sich für eine religiöse Prozession geziemt.
Um elf Uhr morgens tobte die Kirchenglocke etwa eine halbe Stunde lang. Es folgten mehrere Sekunden bemerkenswerter Ruhe – vielleicht das einzige Wunder der Madonna an diesem Tag -, bis das Feuerwerk begann und sämtliche Straßenköter Reißaus nahmen. Neugierig rannte ich auf die Dachterrasse, wo sich das Pulver von Hunderten von Explosionen vor einem blauen Hintergrund abhob wie Flakgeschütze vor einem von Krieg zerrissenen Himmel. Daniela, die mir auf die Terrasse gefolgt war, nahm meine Frage vorweg und schrie, dass es auf das richtige Timing der Explosionen ankäme, das nur von Eingeweihten beurteilt werden könne. Da sie nicht wissen konnten, welch genauer Choreographie dieses bedrohliche Spektakel folgte, übergaben sich die Chihuahuas erneut und ruinierten den Teppich ihres Besitzers. Der Lärm war unglaublich aufregend und absurd.
Gegen zwei pausierte der Ort, während die Feiernden sich und wahrscheinlich auch ihr Gehör erholten, um sich auf die lange Nacht vorzubereiten. Eine Zigeunerfamilie hatte ihre Zelte im Burgpark vor unserem Haus aufgeschlagen. Zwei nackte Kinder sahen zu, wie ihre Mutter den Bruder wusch, ihm Wasser über den Kopf schüttete und seinen mageren Körper mit ihren Händen abrubbelte. Der Vater schlief auf einer schmutzigen Matratze auf der Straße. Sie lag hinter einem zerbeulten Auto, dessen Motorhaube von Spielzeug bedeckt war, das später auf dem Fest verkauft werden sollte. Die Kleidung der Kinder, die genauso nachlässig gewaschen worden war wie ihre Besitzer, war auf einer hüfthohen Hecke zum Trocknen ausgebreitet worden. Andrano schlief. Der Einzige, der etwas gegen die Zigeuner einzuwenden hatte, war ein Straßenköter, der in der Hecke sein Zuhause gefunden hatte. Die Kinder zogen an seinem Schwanz voller Flöhe, während sie auf ihre Dusche warteten.
Kurz darauf hörte ich, wie Umberto dem vigile etwas zuschrie, der gerade auf seinem Motorrad vorbeikam. Da meine Übersetzerin schlief, versuchte ich, etwas von ihrem Streit mitzubekommen, nahm jedoch an, es ginge um die Nomadenfamilie unweit von Umbertos Gartentor. Ihre Auseinandersetzung wollte gar kein Ende mehr nehmen. Als sie endlich vorbei war, ging ich nach draußen und sah, dass die Zigeunerfamilie schlief und zwei streunende Hunde mitten auf der Straße kopulierten – die süditalienische Variante eines Quickies. Trotz Umbertos Empörung stand es offensichtlich nicht in der Macht des vigile, die Nomaden zum Weiterziehen zu bewegen. Erst nach acht, als das Fest bereits begonnen hatte, pflückten sie ihre Kleider aus den Sträuchern und zogen zur Piazza, wo es vor Menschen nur so wimmelte.
Etwa um dieselbe Zeit sprach Daniela ihr alljährliches Gebet zur Madonna. Nichts Besonderes, nur ihre normale Bitte um einen Hagelsturm, der die kitschige Deko auf der Piazza zerstören sollte. Tausende winzig kleine Lämpchen, die bunte Muster bildeten, waren an drei Stockwerke hohen Gerüsten befestigt worden, die nun den Dorfplatz säumten. Ein Knopfdruck genügte, und die schlichte Piazza verwandelte sich in Las Vegas, in ein Neongefängnis aus Palmen und Wasserfällen, eine grellbunte Amüsiermeile. Die Burg, die Kirche, jedes Bauwerk, das sich auf der Piazza erhob, wurde von den Lichtern schier ausgelöscht, so als müsse das Dorf aufhören zu existieren, wenn das Fest begann.
Die Stangen, die das kitschige Lämpchenarrangement stützten, wurden von Angelschnüren gehalten, die überall festgebunden waren: an Balkonen, Glockentürmen, Straßenlaternen und Statuen. Obwohl die Struktur gigantisch war, hätte man sie leicht mithilfe einer Schere und ein paar Grundkenntnissen des Dominoeffekts zu Fall bringen können. Aber Daniela vertraute lieber auf die Kraft des Gebets und flehte einen Hagelsturm herbei. Den sollte die abergläubische Gemeinde dann zum Zeichen nehmen, dass die Madonna ihr Opfer verweigert habe, was dem Ort in den kommenden Jahren ein Vermögen gespart hätte. Irgendjemand musste den Leuten doch sagen, dass das Fest reine Geldverschwendung war! Daniela fand, das könne gut und gern der Ehrengast übernehmen.
Die Lämpchen strahlten eine enorme Hitze ab – laut Daniela, die das Fest sichtlich nicht genoss, kam man sich darunter vor wie in einer Mikrowelle. Wenn ich sie gelassen hätte, wäre sie längst nach Hause gegangen, aber ich wollte unbedingt verstehen, was ihr an dem Spektakel so missfiel – eine Einstellung, mit der sie, den anschwellenden Menschenmassen nach zu urteilen, ziemlich alleine dastand.
Am Ende des Platzes befand sich eine Bühne, auf der die Blechbläser trompeteten, was das Zeug hielt. Die von der Piazza abgehenden Straßen waren für den Verkehr gesperrt und wurden von Ständen mit Spielzeug, Schießständen, Wurfbuden, Karussells und einem winzigen Riesenrad gesäumt. Ein Schweinekopf markierte den Beginn der Fressstände. An einer improvisierten Bar wurden Bier, Wein und Mineralwasser verkauft. Eltern schenkten ihren Kindern mit Helium gefüllte Ballons – Delfine und Dalmatiner, die an roten Bändern über der Menge schwebten. Die Einheimischen saßen auf Plastikstühlen und unterhielten sich über den Lärm der Blechbläser hinweg, die Verdi und Rossini sechs Stunden am Stück den Garaus machten.
Einwandererfamilien, meist Asiaten und Afrikaner, die im August von einem Fest zum nächsten zogen, verkauften Modeaccessoires und jede Menge Krimskrams wie Mikroskope, Blutdruckmessgeräte, Wasserpistolen, Ferngläser, Socken, gefälschte Handtaschen, Uhren und Kulis. Letztere dienten gleichzeitig als Feuerzeug (für Autoren mit Schreibblockade geradezu ideal). Und falls einen die Lichter zu sehr blendeten, gab es auch noch Sonnenbrillen. Das einzig Religiöse an diesem Abend war, dass die vigili die Einwanderer in Ruhe ließen, weil sie viel mehr damit beschäftigt waren, den Verkehr in den umliegenden Straßen zu regeln, als ihre Papiere zu überprüfen.
Mehr oder weniger lebendige Ware wurde ebenfalls verkauft. Wie beliebt sie war, sah man daran, dass ihr Verkäufer schlief. Hinter ihm befand sich ein dreckiges Aquarium mit etwa fünfzig Fischen. Das Wasser, in dem sie sich um die letzten Spuren von Sauerstoff stritten, war so brackig, dass es einen Tarantato hätte heilen können. Über dem Aquarium hingen winzige Vogelkäfige, würdelose Kerker, die so klein waren, dass ihre Bewohner sich nicht einmal darin umdrehen konnten. Der Heilige Geist schien nicht allen Geschöpfen Gottes gleichermaßen wohlgesonnen zu sein.
Die Festbesucher hatten sich herausgeputzt. Laut Daniela hatten sich fast alle Frauen zu diesem Anlass ein neues Kleid gekauft. Die Männer waren ebenfalls tipptopp gekleidet. Manche trugen schwarze Toupets und merkten gar nicht, dass die Las-Vegas-Beleuchtung den Unterschied zwischen dem kümmerlichen Rest an Echthaar und der künstlichen Pracht noch erbarmungsloser hervorhob.
Um den religiösen Anlass nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen, schauten die meisten noch kurz in der Kirche vorbei, bevor sie sich zu ihren Freunden unter den Lichtern gesellten. Dazu mussten sie über die Zigeunerin steigen, die im Schneidersitz in der Tür saß. Zwischen den Falten ihres Rocks verbarg sich eine Bettelschale aus Plastik. Ihr Mann befand sich in der Menge und verkaufte Spielzeug, während ihre drei Kinder, von ihrer Körpergröße her alle auf Taschenhöhe, nirgendwo zu sehen waren.
Wir trafen Umberto und fragten ihn nach der Auseinandersetzung wegen der Zigeuner. »Zigeuner?«, rief er über die eigenwillige Interpretation der Blechbläser des Barbier von Sevilla hinweg. »Was interessieren mich die Zigeuner? Ich habe mich über das Bußgeld beschwert, das mir auferlegt wurde, weil ich beim Motorradfahren keinen Helm aufhatte. Und das von einem Mann, der heute an meinem Haus vorbeifuhr und auch keinen aufhatte!« Er tobte vor Wut und verschwand in der Menge, wobei er »ipocrisia!« schrie.
Süditalienische Dörfer brauchen keine Zeitung, weil sich auf der Piazza ohnehin alles herumspricht. Während ich über das Kopfsteinpflaster lief und an den Andranesi in ihren weiten Sommerkleidern vorbeiging, wurde mir anhand dessen, was Daniela über sie wusste, klar, wie viel sie über uns wissen mussten. Nicht einer kam vorbei, über den Daniela keine lustige oder tragische Anekdote erzählte, sobald er außer Hörweite war. Auf einem süditalienischen Dorffest sind die Festbesucher genauso schillernd wie die Festbeleuchtung.
Auf den Kirchenstufen saß ein Schuster und rauchte Pfeife. Er war dafür berühmt, dass er einen Kaufvertrag vor den Augen eines Händlers verschluckt hatte, weil er ihm nicht mehr nachkommen wollte. Vor der Tabaccheria leckte ein Arzt, der Pyromane war, an seinem Eis. Nachdem er mehrere Müllautos angesteckt hatte, war ihm die Approbation entzogen worden. Der Mann, der seinen Sohn auf dem Riesenrad im Auge behielt, suchte überall nach dem Dieb seines motorino. Angeblich waren seine chronischen Rückenschmerzen mit dem motorino verschwunden. Dafür wollte er sich bei dem Dieb bedanken und ihm den Zündschlüssel geben, statt ihn den Behörden auszuliefern. Der Dieb glaubt jedoch an einen Trick und hält sich lieber versteckt.
Viele Anekdoten waren jedoch eher tragisch wie die des Mannes mittleren Alters und der Frau an der Bar – Romeo und Julia von Andrano. Kurz nach der Hochzeit kam er nach Hause und fand einen Abschiedsbrief vor, in dem von Ehebruch die Rede war. Seine Frau war neben einer halbleeren Flasche Bleiche zusammengebrochen. Nachdem er den Rest selbst ausgetrunken hatte, landete der Mann im selben Krankenhaus wie seine Frau, wo sie dann in Pantoffeln und Schlafanzug schmutzige Wäsche wuschen.
Kein so gutes Ende war einer alten Frau beschert worden, die gerade eine Hand voll Haselnüsse im Burghof aß. Nachdem sie ihre Rente von der Post geholt hatte, kam sie eines Tages nach Hause und sah, dass ihr Mann von zwei Banditen mit Sturmhaube bedroht wurde. Als man ihr befahl, die Rente herzugeben, zeigte die Frau auf ihre leeren Taschen und sagte, die Computer auf der Post seien kaputt, die Diebe sollten am nächsten Tag wiederkommen. Erstaunlicherweise taten sie das, zusammen mit den carabinieri, die daraufhin den Sohn der Frau und seinen besten Freund entwaffneten und demaskierten. Manchmal ist eine Sturmhaube alles, was von den engmaschigen Beziehungen einer italienischen Familie übrig bleibt.
Wir trafen auch Danielas Bankberater Errico, den ich eine Woche zuvor kennengelernt hatte, als ich ein Konto in seiner Filiale eröffnete. Nachdem wir ein paar Höflichkeiten mit seiner Frau und Tochter ausgetauscht hatten, teilte ihm Daniela mit, dass bei seinem Bankautomaten die Druckerpatronen leer seien. »Wir müssen die Quittung mit einem Bleistift schraffieren, um sie lesen zu können.«
»Ach ja? Genauso wird in Sizilien gewählt«, entgegnete Errico und lachte über seinen eigenen Witz. »Bei uns laufen die Dinge etwas anders, Crris«, fuhr er fort. »Gestern habe ich einen Mann angerufen, um ihm zu sagen, dass ich den Scheck nicht einlösen kann, den er seinem Automechaniker gegeben hat, weil er kein Geld auf dem Konto hat. Um das Problem zu lösen, schlug er mir vor, der Bank einen Scheck auszuschreiben.« Er lachte erneut und tätschelte meinen Arm.
Hinter der Bühne begegneten wir Concetta und noch einer Irlandreisegefährtin Danielas. Sie trugen knallorange Sanitäteruniformen und lehnten an der Tür der Misericordia- oder Erste-Hilfe-Station. Sie hatten Bereitschaftsdienst, falls irgendjemand unter den Lichtern einen Herzinfarkt erleiden sollte. »Buonasera paramedici«, sagte ich, bevor ich die beiden auf ein Erfrischungsgetränk an der Bar einlud. Während sie ihre Zunge um drei Kugeln Ananaseis gleiten ließ, erzählte mir Concetta, wie sie und ihre ehrenamtlichen Kollegen jahrelang versucht hatten, genug Geld zu sammeln, damit Andrano seinen eigenen Krankenwagen bekäme. Auf diese Weise wären zukünftige Bleichetrinker zehn kostbare Minuten früher ins Krankenhaus gekommen. »Das Geld für den Krankenwagen verpufft da oben«, rief Concetta und zeigte auf das Feuerwerk über ihrem Kopf. Zu dumm, dass Erricos Kunde ihr nicht einfach einen Scheck ausschreiben kann!
Langsam begann ich Danielas Aversion gegenüber der Festa Padronale von Andrano zu verstehen. Was ursprünglich eine religiöse Prozession gewesen war, gefolgt von einem kleinen Fest, auf dem man bescheidene Mengen an Brot, Gemüse und seltenem Fleisch aß, ist heute ein übertriebener Versuch, so zu tun, als seien bessere Zeiten angebrochen. Da so viele öffentliche Dienstleistungen immer noch dermaßen primitiv oder gar nicht vorhanden sind, hält Daniela das Fest angesichts der damit verbundenen atemberaubenden Kosten von 40 000 Euro für eine idiotische Verschwendung. Dabei sind die 5000 Andranesi geradezu geizig im Vergleich zu den 1500 Einwohnern von Diso, die jährlich über 200 000 Euro für eine Party zu Ehren der Heiligen Filippo und Giacomo springen lassen. Dagegen wirkt Andranos Feier so, als hätten ein paar alte Leute vergessen, das Licht auszumachen.
Trotzdem gibt es nur wenige in Andrano, die so denken wie Daniela. Die meisten spenden mit vollen Händen, wenn die Organisatoren des Fests an ihre Türen klopfen, auch wenn die Straßen eine einzige Katastrophe sind und die gesamte Kanalisation aus einer Grube unter dem Haus besteht. Aber Andranos Bürgermeister konnte einem Fest nie etwas entgegensetzen, das der Madonna dafür dankt, dass sie ihre schützende Hand über die Einwohner hält. Auch wenn sie Straßen befahren, die immer gefährlich sein werden, weil es die Kosten für ebenjenes Fest sind, die Ausbesserungsarbeiten verhindern. Hauptsache, den religiösen Ritualen wird Genüge getan. Der liebe Gott wird’s schon richten. Daniela und Concetta finden nur, dass er zur Abwechslung mal was anderes richten und sich zum Beispiel um einen Krankenwagen für jene Motorradfahrer kümmern könnte, die sich in puncto Straßensicherheit bisher noch auf die Madonna verlassen müssen.
Als wir nach der festa nach Hause gingen, sah ich einen Jungen von vielleicht vierzehn an einer Steinmauer lehnen. Mit einer Trommel auf den Knien und Trommelstöcken, die aus seinen Hosentaschen hervorschauten, wartete er darauf, nach Hause gebracht zu werden, nachdem er in der Kapelle den richtigen Rhythmus vorgegeben hatte. Seine Eltern würden bald kommen und ihn abholen. Wozu die Eile? Es war schließlich erst zwei Uhr nachts, und es waren noch viele Menschen unterwegs. Ich kenne nicht viele Orte, an denen ein Kind zu so einer Uhrzeit mutterseelenallein und nur mit Trommelstöcken bewaffnet auf seine Eltern warten kann. Ich legte meinen Arm um Daniela. Bei aller Kritik war es doch schön, an einem solchen Ort zu leben, wenn auch nur für kurze Zeit.
 
Am nächsten Tag wachte Andrano mit einem schlimmen Kater wieder auf, für den allerdings nicht das Fest verantwortlich war. Wir wussten, dass etwas nicht stimmte, als wir an der »California«-Tankstelle hielten und zweimal hupen mussten, bevor Signor Api seinem Spitznamen ausnahmsweise keine Ehre machte und mit schweren Schritten, krummen Schultern und gesenktem Kopf hinter seinem Fliegengitter hervorkam.
»Heute ist ein schwarzer Tag für Andrano«, sagte er. »Haben Sie’s schon gehört?«
»Che cosa?«
»Wir haben gestern Abend einen unserer Söhne verloren. Der Junge von Francesco, dem Vermessungsingenieur. Ein Autounfall.«
»Madonna!«, rief Daniela ungläubig.
»Er saß mit zwei Freunden im Wagen, die ebenfalls tot sind. Sie wollten nach Rimini, Urlaub machen. Anscheinend ist er am Steuer eingeschlafen.«
Signor Api betankte uns schweigend, was genauso selten wie traurig war. Anschließend wies er auf ein Werbeplakat seiner Benzingesellschaft, das einen Tyrannosaurus Rex zeigte.
»Der ist der Glücklichste von allen«, überlegte er laut. »Der König der Welt, dabei wusste er es nicht mal.«
Keine Ahnung, wovon der Mann redete.
Als wir wieder zu Hause waren, ersetzte der vigile vom Vortag das Sonderveranstaltungsplakat durch eine weniger fröhliche Ankündigung: »lutto cittadino« – die Gemeinde trug Trauer, und Andranos Fest war vorbei.
So ein tragischer Tod bringt das öffentliche Leben vollkommen zum Erliegen. Alle Feste, sogar private, werden aus Respekt abgesagt. Die Läden bleiben geschlossen, eine besondere Messe wird gefeiert, und die Einwohner legen eine Schweigeminute ein. Aber nur eine Tragödie oder der Tod eines sehr prominenten Mitbürgers führt dazu, dass die ganze Gemeinde trauert. Natürlichere Tode wie der von Tonio, einem neunzigjährigen Freund von Danielas Familie, der in denselben Monat fiel, gehören in einem Ort mit einer dermaßen überalterten Bevölkerung zum Alltag.
Von Signor Api, dem manifesto di morte oder dem Klatsch auf der Piazza erfahren die Einwohner Andranos schnell, wenn sie wieder einer weniger sind. Danielas Mutter erfuhr sogar in Sizilien vom Tod Tonios und rief an, um dafür zu sorgen, dass wir sie bei der Beerdigung vertreten. Zusammen mit Freunden, Verwandten und dem Apotheker des Orts, der dem Verstorbenen immer seine Medizin gebracht hatte, trafen wir uns am Abend vor Tonios Beerdigung bei ihm zu Hause, um die engsten Verwandten zu trösten und unsere vorletzte Aufwartung zu machen.
Am darauf folgenden Nachmittag kamen die Trauernden erneut zum Haus des Verstorbenen. Um fünf Uhr schlugen die Totenglocken, das Signal für uns, Tonio zu Andranos moderner, wenig eleganter Kirche, der Chiesa di Santa Maria delle Grazie, zu geleiten, und zwar durch Straßen, die erneut von einem überarbeiteten vigile abgesperrt worden waren. Die Kirchenglocken läuteten von dem Moment an, an dem unser Trauermarsch begann, bis alles vorbei war. Nachdem sie Tonios gesamtes Leben dirigiert hatten, dirigierten sie jetzt seinen Tod. Ein leerer Leichenwagen fuhr langsam hinter uns her, während sich die Prozession zwischen dicht gedrängten Häusern hindurchschlängelte. Stoische Gesichter sahen aus den Türen, so versteinert und ausdruckslos wie die lethargische Glocke, die durch den ganzen Ort schallte und die Einwohner darüber informierte, dass sich einer der Ihren auf dem Weg ins Grab befand.
Am Kopf des aus rund hundert Personen bestehenden Begräbniszugs wurde der Sarg von den Brüdern von Andranos Confraternità getragen, einer religiösen Gemeinschaft, der auch Tonio angehört hatte. Zwölf alte Männer, die in weiße Tuniken und blauen, am Hals von einem rosa Bändchen zusammengehaltene Schals gekleidet waren, hielten die Banner, Stäbe und Kruzifixe mit dem Emblem ihrer Bruderschaft hoch. Die Confraternità ist über hundert Jahre alt und wurde gegründet, um die hier ansässigen Christen zu religiösen Gesprächen und Gebeten zusammenzuführen. Während wir im Schneckentempo durch Andrano liefen, erzählte mir Daniela, wie ihre Großmutter versucht hatte, ihren Vater ebenfalls von einer Mitgliedschaft in der Bruderschaft zu überzeugen. Immerhin bot sie gegen eine geringe Jahresgebühr die Garantie eines Grabes auf dem Friedhof sowie ein ehrwürdiges Begräbnisgeleit durch die Mitbrüder. Aber ihr nonkonformistischer Vater hatte diese Vorstellung gehasst. Heutzutage stellt der municipio seinen Einwohnern die letzte Ruhestätte zur Verfügung, Gräber, die von den schwindenden Brüdern einer kraftlosen Bruderschaft zügig gefüllt werden.
Nach einem zehnminütigen Marsch erreichten wir die Flachdachkirche, die wegen ihrer Größe für Beerdigungen benutzt wird. Tonio wurde vor dem Altar aufgebahrt, und die Trauernden zogen vorbei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Luft war heiß und stickig. Da mich meine Krawatte bei Temperaturen um die 38 Grad beinahe erwürgte, musste ich mich schwer beherrschen, mir nicht mit einer Bibel Luft zuzufächeln. Als sie merkte, in welch ungewohnter Umgebung ich mich befand – und damit meine ich die Kirche und nicht das Land -, behielt Daniela sowohl ihr Gesangbuch als auch mich genau im Auge. Der in schwere Gewänder gehüllte Don Francesco litt ebenfalls unter der Hitze. Er feierte eine schnelle Messe, die mit einem »Amen« endete – eines der wenigen Wörter seines Segens, die ich verstand. Bald darauf befand sich unsere Prozession wieder vor der Tür und wurde erneut von monotonem Glockenklang begleitet, bis wir den Friedhof erreichten.
Andranos Friedhof liegt am südlichen Ende des Ortes. Das bedeutete, dass unsere Prozession auf unserem zehnminütigen Spaziergang auch die Piazza Castello überqueren musste. Eine ziemlich passende Route, wie ich finde, und die Chance für Tonio, sich noch einmal richtig von seinem Ort zu verabschieden: Von der Chiesa di Sant’Andrea, in der er geheiratet, vom municipio, wo er seine Steuern bezahlt hatte (einschließlich der zehn Euro im Jahr für das Lämpchen auf dem Grab seiner Frau), und von der Bar, wo er gespielt, geraucht, Kaffee getrunken und seine Meinung kundgetan hatte. Als wir den Platz überquerten und die Kirchenglocke dröhnte, erzählte mir Daniela, dass Tonio jeden Tag seines neunzigjährigen Lebens in Andrano verbracht hatte. Das war etwas, auf das er stolz war. Er hatte Italien nie gesehen, geschweige denn die Welt. Andrano war seine Welt. Klein und überschaubar. Ein voller Magen und eine gesunde Familie. Was wollte man mehr?
Passanten neigten Köpfe und Hüte, als wir mit Tonio an ihnen vorbeizogen. Und so marschierten wir in der Bruthitze langsam weiter, bis wir das große Friedhofstor erreichten, wo ein Straßenschild steht, auf dem das Wort »Andrano« rot durchgestrichen ist und das sowohl das Ende des Ortes wie auch das von Tonio markierte. Dahinter lagen Olivenbäume, Felder, auf denen verschiedene Gemüsesorten angebaut wurden, und primitive Unterkünfte, die aus denselben Steinen errichtet worden waren wie die ungemörtelten Mauern, die ein Grundstück vom nächsten trennen. Dahinter befand sich der Absatz des italienischen Stiefels, das Meer und schließlich Afrika. Über den Friedhof ragte ein zehn Meter hoher Funkmast. Das Leben ging weiter.
Repräsentative Familiengräber, die fast schon winzigen Kapellen glichen, säumten den rechteckigen Friedhof, in dessen Mitte ein sechs Gräber hohes Bauwerk für die Toten stand. In Andrano liegen die Gräber eher über als unter der Erde. Särge werden in die Zementstruktur geschoben wie Schubladen in eine Kommode und dann mit einer Marmorplatte versiegelt, auf der eine kurze Biographie und ein Foto des Verstorbenen prangen, normalerweise in Schwarzweiß. Die Stockwerke eins bis drei sind vom Boden aus zu erreichen, während eine erhöhte Metallplattform Zutritt zu den Stockwerken vier bis sechs gibt. Von ihrer Position aus genießen die Toten von Andrano einen Blick auf jene Felder, auf denen die meisten von ihnen wie Tonio ihr ganzes Leben lang geschuftet haben. Angesichts ihres Berufs scheint man ihnen die Umarmung von Mutter Erde unrechtmäßig vorzuenthalten. Die einstige Lebensgefährtin sollte sie wenigstens auch in den Tod begleiten.
In der Nähe der Hauptkapelle des Friedhofs, an deren Wänden sich ebenfalls sterbliche Überreste stapeln, liegen die privaten Gräber der königlichen Familien, die in Andranos Burg gelebt haben und dort gestorben sind. Das Grab, das der Kapelle am nächsten liegt, gehört der Familie Caracciolo und enthält neben vielen anderen auch die Prinzessin Ippolita, nach deren Tod im Jahr 1963 die Burg vom municipio erworben worden war. Danielas Großmutter war eine Vertraute von Ippolita gewesen. Bis sie der Prinzessin für immer Gesellschaft leistete, pflegte sie das königliche Grab regelmäßig zu reinigen, das heute verstaubt und verwahrlost ist.
Als Tonios Sarg zur Aussegnung in die Kapelle gebracht wurde, flüsterte mir Daniela zu, dass sie ihr Soll als Vertreterin ihrer mamma nunmehr erfüllt habe. Sie schlug vor, schwimmen zu gehen, solange uns die Sonne noch schneller trocknete als jedes Handtuch. Wir verabschiedeten uns leise und gingen nach Hause, während wir die Glocke der Kapelle und die Zikaden in den Olivenbäumen singen hörten.
Als wir schließlich auf Danielas Terrasse saßen und zusahen, wie die Sonne hinter der Stadt versank, verblüffte ich Daniela mit dem Satz, dass es mir leidtäte, Andrano zu verlassen. Ich wäre gern noch länger geblieben, um zu sehen, wie der Herbst die ausgeblichenen Farben satter werden lässt. Um Signor Apis Winterlebensweisheiten zu hören und an der Mitternachtsmette an Silvester teilzunehmen. Aber Daniela war wesentlich weniger sentimental, was unseren bevorstehenden Abschied betraf. Sie versicherte mir, dass diejenigen, die nach Andrano zurückgeeilt waren, den Ort Ende August, wenn die Sonne und der Geschmack der Wassermelonen nachließ, genauso eilig wieder verlassen würden. Ironischerweise empfanden die Andranesi nicht den Sommer mit Temperaturen um die 40 Grad als unangenehm, sondern den Winter. Der Sommer brachte Leben in den Salento, während man den Winter damit verbrachte, auf seine Rückkehr zu warten.
Mailand und die Arbeit warteten auf uns. Aber was wurde aus Andrano? Heute gab es noch eine Beerdigung, und zwei andere Einwohner würden ebenfalls bald fortgehen. Wieder einmal würde Don Francesco in der Neujahrsmesse nichts Gutes zu berichten haben.