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Der einheimische Ausländer
Als ich aus London
anrief, erzählte mir Danielas Mutter, dass ich italienischer sei
als ihre Tochter. Und als ich nach Andrano zurückkehrte, merkte
ich, dass sie Recht hatte. Nicht, weil ich morgens nicht ohne
Kaffee, mittags nicht ohne Pasta und am Nachmittag nicht ohne
Siesta auskomme, sondern weil ein Spengler vorschlug, die
Versicherungsgesellschaft zu betrügen, um unser Auto zu reparieren
– und ich einwilligte.
Das Erste, was man
tun muss, wenn man nach Italien zieht, ist, die Telefonnummer eines
Spenglers im Handy zu speichern, um sie nicht ständig nachschauen
zu müssen. Egal, wie gut man Auto fährt, man wird Unfälle bauen.
Sie sind Teil einer Lernkurve, die, wie die meisten Kurven in
Italien, mit hoher Geschwindigkeit genommen werden. Italiener
werden heißt mit den Händen reden und den Füßen fahren. Aber es ist
nicht die Fahrweise, die einen zum Italiener macht, sondern die
Art, wie man Autoreparaturen managt.
Mein erster Unfall
geschah weniger als einen Monat nach meiner Ankunft in Italien, als
mir ein Auto auf Tricases chaotischer Piazza Cappuccini den Weg
abschnitt. Ich fuhr dem Opel Corsa hinten drauf, dessen Fahrer alle
Schuld auf sich nahm, aber Daniela drängte, keine Zeit, kein Geld
und keine Geduld an eine Versicherungsgesellschaft zu verschwenden.
Stattdessen bot er an, seinen Cousin anzurufen, der »sich gut mit
Autos auskennt« und den Schaden schnell beheben würde. Wir bekamen
ein Ersatzfahrzeug angeboten – wahrscheinlich das, das wir
angefahren hatten -, während unseres von der Straße genommen
wurde.
Daniela, die
jahrelange Erfahrung mit italienischen Versicherungsgesellschaften
hat, war an dem Angebot sehr interessiert, ich dagegen weniger. Als
begeisterter Anhänger gesetzeskonformer Wege dankte ich dem Mann
für seinen großzügigen Vorschlag und befahl Daniela, seine
Personalien aufzunehmen. Dann nahm ich ihren Arm und führte sie
zurück zum Wagen. Dass sie das Angebot ernsthaft in Erwägung zog,
bedeutete, dass sie eine ernste Gehirnerschütterung davongetragen
haben musste.
Das Ergebnis meiner
Arroganz waren Monate voller Anrufe und Faxe, und zwar zusätzlich
zu dem Papierkram für meine Aufenthaltsgenehmigung, um die wir
damals immer noch kämpften. Und das alles nur, um ein
selbstverständliches Recht einzufordern! Die
Versicherungsgesellschaft zahlte erst vier Monate später, nachdem
Daniela ihren Anwalt eingeschaltet hatte. Hätte der nervöse
Australier die Sache nicht so verkompliziert, hätten Daniela und
der Cousin das Problem innerhalb weniger Tage aus der Welt
geschafft.
Mein zweiter Unfall
passierte auf der Straße von Mailand zum Comer See, als ein
Zementlaster die Spur wechselte, ohne zu blinken und unseren
rechten Vorderreifen sowie die Stoßstange darüber zerstörte. Da er
ein ebenso guter Samariter wie Autofahrer war, beschloss der
Lastwagenfahrer nicht anzuhalten. Also fuhren wir mühsam von der
Autobahn ab und fanden einen Mechaniker, der den Reifen ersetzte
und die Stoßstange mit einem Hammer ausbeulte.
Trotz einer Garage
voller Autos ließ der Mechaniker alles stehen und liegen, um uns zu
helfen. »Was für ein Arsch«, sagte er über den Lastwagenfahrer,
während er unseren armen Lancia verarztete. Er arbeitete mehr als
vierzig Minuten an unserem Auto und weigerte sich, Geld dafür zu
nehmen. Das Einzige, was er akzeptierte, waren die Pralinen, die
wir im Handschuhfach hatten. Und da soll noch mal einer sagen, die
Italiener seien alle gleich! An dem Nachmittag, an dem unser Wagen
von einem »Arsch« demoliert worden war, hatte es ein Engel zum
Preis von ein paar Pralinen auch schon wieder
repariert.
Weil der
Lastwagenfahrer nicht angehalten hatte, konnten wir uns keine
bessere Reparatur leisten, ohne Unsummen dafür zu bezahlen. Das war
echt unfair, doch ein Tankwart in Mailand bot uns bald darauf an,
Abhilfe zu schaffen. Während des Tankens bemerkte er die
notwendigen Reparaturen und sagte, sein Bruder sei Lastwagenfahrer
und habe eine Versicherung, die es ihm erlaube, so viele Unfälle zu
bauen, wie er wolle, ohne die Gebühr zu erhöhen – wirklich ein
unglaublicher Sicherheitsanreiz. Keine Ahnung, ob er Gefallen an
Daniela gefunden oder einfach nur etwas gegen Ungerechtigkeiten
hatte (wahrscheinlich eher Ersteres), auf jeden Fall sagte er, sein
Bruder würde bereitwillig erklären, sein Laster habe den Schaden
verursacht, sodass seine Versicherung für den Schaden aufkommen
würde.
»Dann nur zu«, sagte
Daniela, die erhebliche Einsparmöglichkeiten witterte. Bloß weg
hier, dachte ich und witterte eine Situation, die mir gefährlicher
erschien als der Unfall selbst. Daniela notierte sich die
Telefonnummer des Mannes und hätte ihn bestimmt auch angerufen,
wenn ich nicht wieder auf der offiziellen Vorgehensweise bestanden
hätte. Ich versuchte immer noch, ein schmutziges Spiel nach
sauberen Regeln zu spielen, bei dem ich selbstverständlich verlor.
Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass die Ungerührtheit, mit der
sich Italiener über Versicherungsbetrug unterhalten, nur eine Folge
der unzähligen Male ist, wo sie selbst darunter zu leiden hatten.
Ja, die Autofahrer werden sogar regelrecht zum Betrug an den
Versicherungsgesellschaften gezwungen! Versicherungsgesellschaften,
die die Autofahrer laut einem Ombudsmann bereits seit Jahren
betrügen, indem sie Preisabsprachen treffen, gemeinsam die Prämien
erhöhen, auf diese Weise keinen Wettbewerb zulassen und sich
gegenseitig reicher machen.
Mit meinem Auto
wurden auch alle meine Prinzipien zerstört, als ich eines Morgens
die Wohnung verließ, um ein kaputtes Rücklicht, eine verbeulte
Stoßstange und einen offenen Kofferraum vorzufinden. Ein
ungeschickter Autofahrer, wahrscheinlich einer der wenigen, der in
Italien zu Recht einen Blindenausweis besitzt, hatte das stehende
Hindernis mitgenommen und wieder einmal Fahrerflucht
begangen.
Genug! Jetzt wurde
es höchste Zeit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, weshalb ich
sofort mit »Si« antwortete, als uns ein
geschäftstüchtiger Spengler vorschlug, wie wir den Schaden
kostenlos beheben könnten. Er würde einen Unfall mit dem Auto eines
anderen Kunden erfinden, dem ähnliches Unrecht geschehen war, und
auf ein rotes Auto mit einem Schaden auf der rechten Seite wartete.
Unser Lancia passte perfekt auf diese Beschreibung: Er war rot und
auf der rechten Seite beschädigt. Ehrlich gesagt war er überall
beschädigt.
Anfangs konnte ich
mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein Problem dadurch
zu lösen, dass man gegen das Gesetz verstößt – etwas, das die
meisten italienischen Unfälle überhaupt erst verursacht. Aber dann
begriff ich, dass sich im Ausland einleben auch bedeutet, sich den
dort herrschenden Gesetzen anzupassen, und seien sie auch noch so
ungeschrieben. Ich lernte, dass es einen Unterschied zwischen einer
guten und einer richtigen Entscheidung gibt. Zu überleben war
wichtiger als alle Skrupel, und ich hatte wirklich keine Lust, ein
Magengeschwür als Souvenir mit in meine Heimat zu nehmen. Ich war
ein Jahr gegen den Strom geschwommen und hatte mich abgestrampelt,
ohne je irgendwo anzukommen. Jetzt war es an der Zeit, sich treiben
zu lassen. Meinen Gesetzesverstoß rechtfertigte ich mit Vergeltung,
jener uralten italienischen Entschuldigung für Unrecht, das
begangen wird, um erlittenes Unrecht zu sühnen. Die
Versicherungsgesellschaft hatte uns übers Ohr gehauen, also hauten
wir sie auch übers Ohr. Es war wie ein Spiel – eines von vielen in
ähnlich gelagerten Situationen.
Als uns der Spengler
seinen Plan im Detail schilderte, musste ich nicht mehr groß
überzeugt werden. Für Tausende von gesparten Euros an
Reparaturkosten würde ich nur einmal meinen Stolz hinunterschlucken
und dem Spengler für seine Mühe vielleicht noch eine Flasche Scotch
spendieren müssen. Aber nachdem wir die Unfalldetails
einschließlich des Unfalldiagramms ausgearbeitet hatten, tauchte
ein unerwartetes Hindernis auf: Daniela. Die Zeichnung war sogar
für eine geborene Intrigantin wie sie zu weit hergeholt. Wir hatten
anscheinend beide unsere Einstellung geändert.
Im Laufe eines
Jahres hatten Daniela und ich nicht nur gelernt, miteinander zu
leben, sondern auch die Rollen getauscht. Am Anfang hatten wir noch
gestritten, weil sie allzu bereit war, das Gesetz zu ihren Gunsten
auszulegen. Jetzt stritten wir, weil ich allzu sehr dazu bereit
war. Meine Vorsicht hatte vor ihrer Durchtriebenheit kapituliert
und ihre Durchtriebenheit vor meiner Vorsicht. Und diese
Kehrtwendung betraf nicht nur das Gesetz. Ich wollte mittlerweile
etwas Warmes zu Mittag essen, während sich Daniela mit einem
Sandwich zufriedengab. Der Müll auf den Straßen störte sie mehr als
mich, und nachdem ich sie monatelang ermahnt hatte, sich
anzuschnallen, musste sie mich mittlerweile daran
erinnern.
Nachdem wir uns eine
Weile hitzig beraten hatten, baten wir den Spengler, mit seinen
Reparaturen fortzufahren, aber sich von uns und nicht von der
Versicherungsgesellschaft bezahlen zu lassen. »Auch gut«,
entgegnete er. »Nicht weil die irgendwas gemerkt hätten, sondern
weil ein Angestellter Ihrer Versicherung das letzte Mal das Geld
für sich selbst eingestrichen hat.« Das hätte fast gereicht, um
Danielas Meinung zu ändern, aber nur fast.
Wenn ich das Auto
selbst hätte reparieren können, wäre ich endgültig in den Kreis der
Einheimischen aufgenommen worden. Aber da ich Fahrräder reparierte,
wurde ich wieder zum Ausländer. Die quietschenden Antiquitäten
waren unsere einzigen Fortbewegungsmittel, als der Wagen in der
Werkstatt war, und mussten nach einem Jahr in Danielas Keller
ebenfalls repariert werden.
Daniela rief einen
Mann an, den sie »compare« nannte – ein
liebevoller Begriff, der so etwas Ähnliches wie Patenonkel bedeutet
und für einen Mann reserviert war, der ihrer Familie sehr
nahestand. Daniela besaß viele compari
in Andrano, einschließlich Signor Api, der sich Francos Schwester
zur Patin seines Sohnes auserkoren hatte. Warum das bedeutete, dass
Daniela ihn Pate nennen sollte, war mir allerdings ein Rätsel. Aber
so langsam wurde mir klar, warum sie jeden zweiten älteren Herrn im
Dorf compare und jede zweite ältere
Dame comare nannte: Jeder braucht eine
Art Titel.
Dieser spezielle
compare, ein buckliger Herr mit
silbergrauem Haar, hatte sich nach seiner Pensionierung das
Reparieren von Fahrrädern zum Hobby gemacht, obwohl ich nicht
glaube, dass er von Aufträgen überschwemmt wurde. Kaum hatte
Daniela aufgelegt, fuhr sein Citroën vor unserem Tor vor, das
typische Kakerlakenmodell. Da hinein zwängte er mit Gewalt unsere
Räder, während die Pedale aus dem Fenster ragten und die Lenker das
Handschuhfach blockierten.
Für jemanden, der
fast zur Familie gehört, benahm sich der compare bemerkenswert distanziert. Er tauschte ein
paar Höflichkeiten aus, wollte nicht wissen, wer ich war, und seine
in Falten gezogene Stirn legte nahe, dass das sein ständiger
Gesichtsausdruck war. So sahen viele ältere Leute in Andrano aus,
deren Leben sich ausschließlich um so einfache Freuden wie Familie,
das Essen und die Religion drehte. Das Leben war für diese Leute
eine einzige Prüfung, eine Pflicht, die man erfüllen muss. Sie
waren nicht unbeschwert aufgewachsen und sorglos auf Vespas
herumgesaust. Sie hatten keine SMS-Nachrichten verschickt oder die
bestaussehenden Mädchen oder Jungen verführt. Ihr Lebensinhalt
bestand einzig und allein darin, gesund zu bleiben und genügend zu
essen zu haben, und jedes Mal, wenn die Sonne auf- und unterging,
dankten sie dem lieben Herrgott für beides. Alles an ihnen zeugte
von harter Arbeit unter der sengenden Sonne – von der ledrigen Haut
ihrer Hände bis hin zu ihren ausgeblichenen Brauen.
Der compare, der die meiste Zeit seines Lebens als
Bauer gearbeitet hatte, war verheiratet, hatte seinen Darmkrebs
überlebt, aber den eigenen Sohn an die Straßen Italiens verloren.
Die Bar an der Piazza war seine Welt, wo er mehr grappe trank, als sein Arzt ihm empfahl, und Karten
spielte, bis die Bilder darauf verblassten. Er rauchte, fischte,
furzte und begrub seine Freunde, bis sie ihn eines Tages begraben
würden. Das war’s auch schon, außer dass er vielleicht noch zweimal
die Woche Superenalotto spielte, in der
Hoffnung, den Jackpot zu knacken. Ich hätte zu gern gesehen, was er
mit mehreren Millionen Euro angefangen hätte. Vielleicht hätte er
mehr Geld beim Kartenspielen verwettet.
Daniela wusste auch
nicht, warum sie ihn compare nannte.
Sie war damit aufgewachsen und hatte das nie hinterfragt, etwas,
das nur ich merkwürdig fand. In diesen abgelegenen Orten ist
irgendwie jeder mit jedem verwandt. Egal, wie lange ich in Andrano
bleiben würde – ich würde niemals irgendwelche Gemeinsamkeiten mit
einem Mann wie dem compare entdecken
können. Er war nicht so lebhaft wie der andere compare, Signor Api, und hatte weder das
Temperament noch die Absicht, sich mit mir zu unterhalten. Wir
stammten aus verschiedenen Welten. Er hatte keine Ahnung, wo
Australien lag, noch zeigte er Interesse daran, es zu erfahren. Wir
würden auch nie eine gemeinsame Sprache sprechen, denn ehrlich
gesagt war ich der Einzige von uns beiden, der Italienisch
konnte.
Der compare unterhielt sich in einem bizarren Dialekt
mit Daniela, der unzusammenhängend und abrupt klang. Ich erkannte
zwar einzelne Wörter wieder, aber die Gesamtbedeutung begriff ich
nicht. Es war der Dialekt von Andrano, ein nicht sehr elegant
klingender Slang. Etwas, das im Sieb hängen bleibt, wenn man das
Hochitalienisch herausgefiltert hat. Andranos Jargon besitzt viel
mehr gutturale Laute als das Hochitalienische und ist deutlich
schwerer zu lernen. Trotzdem ist er die einzige Möglichkeit, sich
mit Männern wie dem compare zu
unterhalten, der fast jede Minute seines achtzigjährigen Lebens in
diesem Ort verbracht hat und für den Italienisch seine erste und
einzige Fremdsprache ist. Daniela nannte ihn sogar im Dialekt
compare.
Italien ist auch als
das Land der tausend Dialekte bekannt. Jedes Dorf auf der Halbinsel
hat seine eigene Sprache, eine wilde Mischung aus heutigem
Italienisch und der uralten Sprache der Begründer des Dorfes, also
jener Eindringlinge und Fremdherrscher der jeweiligen Region. In
der Region Lecce zum Beispiel weist der Dialekt starke griechische
Einflüsse auf, in Turin gehen viele Wörter auf das Französische
zurück und in Sizilien auf alle möglichen Sprachen – das
linguistische Erbe arabischer Invasoren, albanischer Siedler und
spanischer Konquistadoren.
Der Dialekt ist ein
linguistisches Muttermal, ein Code, der die Italiener mit ihrem
Heimatort und seinen Bewohnern verbindet. Für den Ausländer sind
diese Codes kaum zu erlernen, da der Dialekt aus Wörtern besteht,
die in keinem Italienischwörterbuch stehen. Andere
Fremdsprachenlexika kann man auch nicht konsultieren, weil die
Italiener die ihrem Dialekt einverleibten Fremdwörter unter anderem
durch eine andere Betonung deformiert haben.
Das beste, wenn auch
nicht unbedingt einfachste Beispiel dafür ist eine Frage, die mir
in meinem ersten Sommer in Andrano oft gestellt wurde und die ich
im zweiten Jahr endlich verstand: Sciamu mare
crai? Sollen wir morgen an den Strand gehen? Auf Italienisch
lautet dieselbe Frage: Andiamo al mare
domani? Aber im Dialekt von Andrano wird aus andiamo (gehen wir) sciamu. Mare (Meer oder
Strand) ist gleich geblieben und domani
(morgen) wurde durch crai ersetzt, was
vom lateinischen cras
abstammt.
Das ist genauso
schwer zu erklären, wie es zu verstehen ist. Und ehrlich gesagt,
gab ich es auch bald auf, mich zu bemühen, als ich begriff, dass
sich der Nutzen solcher Wörter auf den Umkreis von ein paar Dutzend
Kilometern und ein paar Tausend Menschen beschränkt. Außerdem
gefiel mir der Klang nicht. Die ständigen Us in Wörtern wie
sciamu ließen die Sprache primitiv
klingen, so als diskutiere eine Horde Affen, ob sie morgen an den
Strand gehen soll.
Einen Dialekt paukt
man nicht bewusst, sondern lernt ihn nebenbei. Das Vorhandensein
des ein oder anderen italienischen Worts stellte sicher, dass ich
zumindest ungefähr mitbekam, um was es ging, wenn die Leute ihr
provinzlerisches Patois sprachen. Aber nur den Dialekt von Andrano
konnte ich einigermaßen verstehen. Der anderer Orte und Dörfer war
in meinen Ohren ein einziges Kauderwelsch. Deshalb muss man
Italienisch können, wenn man sich mit Menschen aus anderen Regionen
verständigen will. So gesehen ist für einen Mann wie den
compare, der nur Dialekt spricht, jede
Reise über die Stadtgrenzen hinaus wie eine
Überseereise.
Laut den
New Italians konnte sich noch 1990
einer von sieben Italienern nur in seinem Dorfdialekt unterhalten.
Diese Anzahl wäre sogar noch höher, wenn Mussolini die
Standardisierung der Sprache nicht so vorangetrieben hätte – wenn
auch nur unità nazionale zuliebe
beziehungsweise zu dem Zweck, dass die Soldaten seine Befehle
verstehen konnten. Interessanterweise stellten sich die Dialekte
der Soldaten als wirksame Waffe gegen Il
Duce heraus, denn wenn sie von der Front Briefe nach Hause
schrieben und sich über Faschismus und Krieg beschwerten, konnten
die Zensoren ihre verschlüsselte Korrespondenz nicht
verstehen.
Dank einer besseren
Bildungspolitik und dank der Nachkriegsmigration können heute die
meisten Italiener Hochitalienisch. Puristen bezeichnen einen Mann
wie den compare als ungebildet, da er
nur Dialekt spricht. Andere sagen, er sei sehr wohl gebildet, weil
sein Dialekt, auch wenn er nur von einer sehr begrenzten Anzahl von
Menschen gesprochen wird, eine Grammatik besitzt. Wie dem auch sei
– jemand, der nur Dialekt spricht, gilt heutzutage als ignorant, da
er nicht in der Lage ist, sich mit dem Rest der Nation zu
unterhalten, und außerhalb seines Dorfes nicht kommunizieren kann.
Aber wenn sich die gesamte Außenwelt ohnehin auf die Bar an der
Piazza konzentriert, ist das auch kein Problem.
Bis auf extreme
Fälle benutzt die jüngere Generation den Dialekt eher spielerisch.
Zwei Bewohner eines Dorfes, die beide fließend Italienisch
sprechen, verfallen mitten im Gespräch in den Dialekt, um ihm einen
bestimmten Charakter zu verleihen. Daniela sagt, das sei so, wie
selbstgezogene Kräuter an fertig gekaufte Pasta zu geben. Der
Dialekt ist mehr eine Art Passwort als eine Sprache, ein Schlüssel
zu den Herzen und Köpfen eines Dorfes. Ein Wort davon genügt, um
Intimität und Identität herzustellen. Der Dialekt ist so etwas wie
ein Insider-Witz: amüsant für diejenigen, die ihn begreifen, und
bedeutungslos für jene, an denen er vorbeigeht. Daniela und ihre
Mutter unterhalten sich auf Italienisch, nur um plötzlich im
Dialekt weiterzureden. Nicht weil ich sie nicht verstehen soll –
zumindest hoffe ich das -, sondern weil bestimmte Typen in Andrano
an Persönlichkeit verlieren, wenn man auf Italienisch über sie
spricht. So auch der compare, den man
ruft, um »na bici« zu reparieren statt
»la bicicletta«.
Jetzt, wo immer
weniger Menschen Dialekt sprechen, befürchten viele, dass ihre
einzigartige Sprache ausstirbt, und denken sich Methoden aus, um
ihr Leben zu verlängern. Wie der Bürgermeister von Mayo, ein
kleiner Ort in der Region Veneto, der seinen Einwohnern verbot,
drei Tage etwas anderes als Dialekt zu sprechen. Die Idee war
erfolgreich. Der Bürgermeister war schließlich kein Dummkopf: Er
hatte von Italienern nicht verlangt zu schweigen.
Aber solange es noch
Männer wie den compare gibt, der
Andrano nur einmal verlassen hat, um in den Krieg zu ziehen, und
der den Dialekt zum Überleben braucht, lebt »das Land der tausend
Dialekte« weiter. Wie kann man solche Männer als ungebildet
bezeichnen? Die Kenntnisse des compare
der einzigen Sprache, die er je gebraucht hat, sind so umfassend,
dass ihn die meisten jüngeren Einwohner von Andrano gar nicht mehr
verstehen. Nicht weil er ihre Sprache nicht spricht, sondern weil
sie die seine nicht sprechen. Sogar Daniela, eine Akademikerin,
besitzt ein kleineres Vokabular als dieser vermeintlich ignorante
alte Mann.
Der compare machte sich nicht die Mühe, den
Kofferraumdeckel zuzubinden. Er fuhr ja nicht weit, war nie weit
gefahren und würde es wohl auch niemals tun. Er murmelte irgendwas,
hupte einmal und bog um die Ecke, um zu Hause Fahrräder zu
reparieren, die genauso verrostet waren wie er selbst.
»Wie lange dauert
die Reparatur, hat er gesagt?«, fragte ich Daniela.
»Keine Ahnung«,
sagte sie. »Geben wir dem alten Herrn eine Woche.«