68. KAPITEL


Dazwischen

 

Sie hatten ihre Arbeit auf Thistledown beendet. Jetzt bewegten sie sich durch ihre verborgenen Leitungen zu Punkten zwischen Welten. Laniers Zeitsinn war vergangen. Nicht ganz unpassend, da er als tot galt. Aber er konnte noch denken und sich erinnern. Sein Geist arbeitete irgendwie in einer neuen Matrix, die von Pavel Mirsky eingesetzt und erhalten war.

»Bin ich jetzt tot?« fragte der Pavel Mirsky.

Ja, natürlich.

Es gibt kein Vergessen.

Möchtest du Heber Vergessen haben? Es ist nicht alles zerstört worden.

Nein.

Unsere Zeit hier ist erfüllt. Wir müssen Entscheidungen treffen… Entscheidungen, wie wir heimkommen.

Lanier hatte Lust zu lachen. Er teilte das Mirsky mit.

Wunderbar, nein? Solche Freiheit. Wir können zurückkehren, wie Ry Oyu es tun wird, oder eine andere Route wählen… viel länger, viel beschwerlicher.

Und er skizzierte Lanier, wohin diese Route sie bringen würde, und wie lange es dauern würde.

Schwebend im beruhigenden, anspruchslosen Dazwischen nahm Lanier diese Information auf. Er fühlte sich schon getrennt von der Realität, die sein Leben gewesen war. Beide Wege schienen akzeptabel zu sein… Aber der zweite Weg war außergewöhnlich. Nur selten hatte er sich überhaupt so etwas vorgestellt. Völlige Freiheit, eine Reise über alle Reisen hinaus… und, wie Mirsky darlegte, eine Reise mit einem bestimmten Zweck.

Der Endgültige Geist braucht viele Beobachter längs des Weges, viele Fortschrittsberichte. Wir können einen ständigen Bericht erstatten, vom Anfang bis zum Ende.

Wir werden nicht hier anfangen? fragte Lanier.

Nein. Wir gehen zurück zum Anfang. Wir sind schließlich nur Beobachter und keine Akteure, jetzt, da unsere Arbeit getan ist. Die Informationen, die wir sammeln, können keinen Einfluß haben auf die Zeit, aus der wir sie bekommen.

Laniers Gedanken wurden wieder kristallklar, und er fühlte eine scharfe Welle von Emotionen, in der sich Pflichtgefühl, Liebe und Nostalgie mischten. Ich habe meine Wurzeln zur Gegenwart noch nicht abgeschnitten.

Sollen wir uns verabschieden? Kurz, unaufdringlich. Von denen, die wir lieben.

Zum letzten Mal? fragte Lanier.

Für eine sehr lange Zeit in der Zukunft… aber nicht unbedingt endgültig.

Jetzt wirst du unklar.

Das ist unser Vorrecht, mit solcher Freiheit! Wohin willst du gehen, um Lebewohl zu sagen?

Ich muß Karen finden.

Und ich will Garabedian finden. Sollen wir in, sagen wir, ein paar Sekunden wieder zusammenkommen und anfangen?

Lanier fand, daß er immer noch lachen konnte, und das Gefühl von Leichtigkeit in ihm wurde nur durch ein gleiches Gewicht von Pflicht und Nostalgie aufgewogen.

In Ordnung. Ein paar Sekunden. Wie lange es auch dauern mag.

Sie eilten durch die Leitungen, die für die subtilen Mitteilungen subatomarer Partikel reserviert waren, das verborgene Netz von Raum-Zeit.

 

Karen ging mit drei terrestrischen Senatoren durch die frisch angestrichenen Straßen des Lagers von Melbourne. »Man nennt sie Lager. Ich bezeichne sie als Paläste«, sagte die Senatorin aus Südaustralien. »Unser Volk wird noch neidisch sein…«

Diese Debatte hatte den ganzen Morgen gedauert, und sie wurde dadurch rasch müde. Der Tag schien unerträglich lang zu werden – noch mehr Meetings, noch mehr sinnloses Gezänk, noch mehr die Erkenntnis, daß sie in der ganzen Geschichte der Menschheit von ihrem Affen-Erbe nie frei sein würde.

Karen machte halt und fühlte ihre Knie zittern. Irgend etwas quoll in ihr auf, eine Flut von Liebe, Angst und Freude. Freude darüber, daß sie soviele Jahre der Zusammenarbeit mit ihrem Gatten verbracht und soviel getan hatte, wie menschenmöglich war.

Absolution. Wir sind nicht vollkommen. Es genügt, daß wir getan haben, was wir konnten.

»Garry!« sagte sie. Sie konnte seine Anwesenheit fühlen und ihn fast einatmen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ein Teil von ihr sagte: Nicht jetzt. Verliere es nicht angesichts so vieler Leute! Aber die Erregung hielt an, und sie reckte die Arme empor wie zu einer fernen Sonne.

Die Senatorin aus Südaustralien wandte sich um und sah sie fragend an.

»Geht es Ihnen nicht gut?« fragte sie.

»Ich fühle ihn. Er ist es wirklich. Nicht bloß ich.« Sie schloß fest die Augen, nahm die Arme herunter und hielt sie fest an die Seiten. »Ich fühle ihn.«

»Sie hat kürzlich ihren Mann verloren«, sagte die Senatorin der neuseeländischen Südinsel erklärend zu den anderen. »Sie hat unter schrecklichem Streß gestanden.«

Karen hörte sie nicht. Statt dessen lauschte sie einer vertrauten Stimme.

Wir sind immer ein Team.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie. Geh nicht fort! Wo bist du? Bist du es wirklich? Sie hob wieder die Arme, griff immer noch mit geschlossenen Augen in die Luft und fühlte einen winzigen Augenblick, wie seine Finger die ihren berührten.

Es gibt noch viele Überraschungen mehr, hörte sie ihn sagen. Und dann war die Berührung vorbei, und er schien in eine ungeheure Distanz zurückzuweichen.

Sie öffnete die Augen und starrte die erstaunten Gesichter rings um sie an. »Mein Gatte«, sagte sie mit unkontrollierbarem Zittern. »Garry.«

Man führte sie zu einer kleinen Grünfläche zwischen Gebäuden. Sie sagte: »Ich bin in Ordnung. Lassen Sie mich bloß sitzen.« Für einen Moment, umgeben von jungen Bäumen und gut gepflegtem Rasen, in einigen Dutzend Metern Entfernung von Hexamonarchitektur, dachte sie, sie könnte sich wieder auf Thistledown befinden, in der Stadt der zweiten Kammer, vor einer Zusammenkunft und der Arbeit mit Garry. Daß alles gerade erst anfinge…

Sie erschauerte und tat einen tiefen Atemzug. Ihr Kopf wurde jetzt klar. Der Kontakt war heftig und unbestreitbar äußerlich gewesen. Sie hatte keine Halluzinationen, obwohl sie bezweifelte, jemals andere überzeugen zu können. »Ich komme gut zurecht. Bestimmt. Jetzt geht es mir wieder gut.«

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