39. KAPITEL


Der Weg

 

Die peinliche Sorgfalt ihres Fängers, sie Schritt um Schritt nach Gaia zu führen, begann Rhita schon bald auf der Reise zu ermüden. Nichts, nicht einmal der Maßstab dessen, was sie sah, war vertraut oder verständlich.

Zuerst wurde sie aus ihrer Kammer geholt – tatsächlich ein recht kleiner Raum, keineswegs nahe der Kaverne, wie sie gedacht hatte – und in eine ovale Schutzblase gehüllt, wo sie auf einer flachen, mit Geländer versehenen Plattform von vier bis fünf Ellen Breite und schwarz wie Lampenruß, stehen konnte. Der Begleiter leistete ihr in der Blase Gesellschaft, die aus äußerst dünnem Glas zu bestehen schien.

Oder vielleicht Seife? Sie wollte den Möglichkeiten ihrer Fänger keine Grenzen setzen.

»Wo sind meine Gefährten?« fragte sie. Das Bild von Demetrios war zurückgeblieben. Sie waren in der Blase allein.

»Sie nehmen eine viel schnellere Route. Was ich mit dir tue, ist, wenn ich so sagen darf, kostspielig. Es kostet viel Energie. Ich habe für meine Aufgaben nur eine begrenzte Menge davon.«

Die Blase hing in Finsternis. Vor ihnen, am entfernten Ende des Dunkels, wuchs ein strahlendes Dreieck aus weißem Licht, so groß wie ihre ausgestreckte Hand. Dann hielt es inne. Einen Moment lang geschah nichts weiter. Der Begleiter stand schweigend da und starrte auf das Licht vor ihnen.

Rhita erschauerte. Irgend etwas Animalisches in ihr suchte einen Ausweg in der Hoffnung, daß irgendeine Magie alle diese Realität aufgehoben und ihr eine Fluchtmöglichkeit geboten hätte. Aber sie versuchte es nicht. Mit ihren Gedanken allein gelassen, wandte sie sich um und sah hinter ihnen eine undurchsichtige Mauer, die mit einer schimmernden Ölschicht auf schwarzem Wasser bedeckt war und Gold, Silber und allen Regenbogenfarben. Die Wand reichte über ihnen bis in schattige Dunkelheit. Sie war bezaubernd und auf mächtige Art schön. Sie gab ihr aber keinen Hinweis darauf, wo sie war, oder was als nächstes geschehen würde. Die Stille erschreckte sie. Um nicht zu schreien, mußte sie etwas sagen.

»Ich kenne deinen Namen nicht.« Der Begleiter wandte sich ihr zu mit aufmerksamer Miene in seinem glatten Gesicht; und sie schämte sich irgendwie, daß sie solche Dinge über ihren Feind in Erfahrung bringen wollte. Die Scham rührte zum Teil davon her, daß sie diese Figur nicht hassen konnte, die da neben ihr stand. Sie war sich nicht einmal sicher, was sie war. Um mehr zu erfahren, würde sie Fragen stellen müssen, die sie vielleicht schwach erscheinen ließen.

»Möchtest du, daß ich einen Namen habe?« fragte der Begleiter freundlich.

»Hast du keinen eigenen Namen für dich?«

»Meine Kameraden reden mich auf verschiedene Weise an. Aber in dieser Form, wo nur du mich siehst und zu mir Kontakt hast, habe ich keinen Namen.«

Seine scheinbare Stumpfheit erneuerte ihre Verstimmtheit. »Bitte, wähle einen Namen!« sagte sie und wandte sich von ihm ab.

»Dann werde ich Kimon sein. Ist das ein passender Name?«

Sie hatte in der Schule einen Paidagogos namens Kimon gehabt. Er war ein rundlicher, sympathischer Mann gewesen, höflich und beharrlich, aber nicht schnell. Als junges Mädchen hatte sie eine tiefe Zuneigung empfunden. Vielleicht hoffte der Begleiter, sich das zu Nutze zu machen. Und vielleicht braucht er gar keinen so deutlichen Vorwand. »Nein«, sagte sie. »Das ist nicht dein Name.«

»Wie sollte mein Name dann lauten?«

»Ich werde dich Typhon nennen«, sagte sie. Aus Hesiodos das schreckliche Wesen, welches mit Zeus gekämpft hatte, Sohn von Gaia (daher das menschliche Aussehen des Begleiters) und Tartaros, ein tief vergrabenes, unendlich böses Monster… Dieser Name würde sie stets zur Vorsicht mahnen.

Der Begleiter nickte: »Also Typhon.«

Von einer Sekunde auf die andere entfernte sich die Blase schnell von der Wand dahinter. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Geschwindigkeit abzuschätzen. Sie fühlte keine Bewegung. Ringsum schien die Finsternis von kaum erkennbaren Regenbögen erfüllt zu sein. Wenn sie hochschaute, sah sie eine Myriade schwacher Lichtstrahlen, die parallel von dem weißen Dreieck vorn ausgingen, über sie weg und hinter sie, wo sie verschwanden. Das Dreieck wurde größer und heller. Offenbar näherten sie sich irgend etwas, aber was das war, dessen konnte sie nicht sicher sein.

Hypnotisiert starrte Rhita nach vorn, bis das weiße Leuchten ihr Gesichtsfeld füllte, fast blendend hell mit einem perligen Schimmer, der sie zugleich mit Ehrfurcht und Beruhigung erfüllte. Dies war das Licht, worin gekleidet ein Gott kommen könnte. Diese Götter, an die ich nicht wirklich glaube, dachte sie. Sie sind aber doch immer noch in mir. Athene und Astarte und Isis und Serapis und Zeus… und jetzt Typhon.

Plötzlich umgab das Licht sie ganz, und die Dunkelheit wurde zu einem gähnenden Wall oder Loch hinter ihr. Sie erkannte alsbald, daß sie aus einem riesigen dreieckigen Prisma in ein umfassendes Bad aus perlfarbenem Licht aufgetaucht war. Sie drehte sich um und sah, daß das dunkle, gleichseitige Maul zurückwich. Es war eingerahmt von einer dünnen, dunkelroten Linie, deren Fülle und Eleganz schwer zu beschreiben war – eine Farbe, die in sich die Eigenschaften heiterer Würde, vibrierenden Lebens und schrecklicher Gewalt zugleich zu tragen schien.

»Wo bin ich?« fragte sie. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

»Hinter uns ist ein Fahrzeug. Wir befinden uns in einem Vakuum innerhalb einer Röhre aus glühenden Gasen. Wir werden jetzt durch diese Röhre hinuntersteigen.«

Sie hatte immer noch keine klare Vorstellung, wo sie waren. Ihr Magen hatte sich verkrampft. Sie stellte fest, daß so viel Fremdheit ihr nicht gut tat. Wie hatte wohl die Sophe reagiert beim Anblick so vieler seltsamer Dinge? Es gab eine Zeit, da Gaia selbst Rhitas Großmutter fremdartig und vielleicht furchterregend vorgekommen war.

Sie rieb sich die Augen mit den Fäusten. Sie taten weh. Ihr Hals tat auch weh durch so starkes Ausrecken. Kopfschmerzen machten sie elend; und doch war in dem Licht eine Schönheit…

Vielleicht reagiere ich nicht richtig. Ich sollte wohl dankbar sein, daß ich noch bei gesundem Verstand bin.

Das Glühen wurde stärker, und sie empfand ein momentanes Kribbeln. Sie passierten die Grenze der Röhre aus perligem Licht. Unten lag etwas Unverständliches, kompliziert wie eine riesige Karte von blaßgrüner Farbe mit weißen und braunen Linien und punktiert in rhythmischen Intervallen mit Reihen kegelförmiger Türme aus aufgestapelten Scheiben mit abgerundeten Kanten.

Wieder fühlte sie eine Reorientierung und konnte mit Verständnis sehen und hatte nicht nur geordnete Sinneseindrücke.

Sie befanden sich innerhalb einer geschlossenen, länglichen Fläche, rund wie ein Zylinder oder eine Röhre, aber ungeheuer groß. Die Zylinderoberfläche war ausgebreitet wie ein kretisches Textilmuster, alles blaßgrüne, braune und weiße Farben, oder wie… ihr fehlten Vergleiche.

Rhita wußte, wo sie jetzt war. Patrikia hatte viele dieser Dinge beschrieben – wenn auch mit anderen Mustern und Farben. Über ihrer Blase erstreckte sich das weite Band der Plasmaröhre, jetzt viel blasser, und die unmögliche Gegend, die ›Sprung‹ hieß, die Singularität. Vielleicht fuhr das Prisma darauf wie die Sprungschiffe des Hexamons.

Sie erblickte den Weg.

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