23. KAPITEL


Thistledown

 

Olmy kam in der vierten Kammer eine Stunde später an, nachdem er in der aufgegebenen Station in der fünften Kammer zugestiegen war. Der Zug überquerte eine breite Fläche aus silbrig schimmerndem Wasser und setzte ihn ab bei einer Raststätte auf Northspin Island im ersten Viertel, nahe dem nördlichen Kap. Olmy hielt sich von den anderen Reisenden fern, mietete einen Traktor, fuhr zehn Kilometer bis zum Ende des Weges und betrat den dichten Nadelwald.

Innerhalb seiner implantierten Erinnerungen führte das frisch geschaffene Partial isoliert von seiner primären Persönlichkeit eine behutsamere Untersuchung der Jartmentalität durch.

Drei Stunden später stand er unter einem tausendjährigen Redwood-Baum. Ein leichter Nebel trieb vorbei, und seine Füße sanken in alten Lehm ein.

Alles, was er an Isolation und Abstraktion nach Monaten der Forschung über nichtmenschliche Psychologie empfunden hatte, war nichts gegenüber seinem jetzigen Gefühl von Selbstvereinsamung. Er dachte ständig an Tapi, der sich vielleicht gerade jetzt durch seine Inkarnationsprüfungen durcharbeitete. Er dachte nicht, daß er seinen Sohn für einige Zeit, wenn nicht sogar für immer, sehen würde – oder Suli Ram Kikura. Es war unwahrscheinlich, daß sich ihre Wege kreuzen würden.

Er betastete die dicke, zähe Borke der Sequoia und fragte sich, ob er eine Verwandtschaft mit diesem uralten Baum empfinden sollte. In Wirklichkeit hegte er keine verwandtschaftlichen Gefühle mit irgend etwas, nicht einmal seinen Kameraden; und das beunruhigte ihn. Es war kaum möglich, daß seine implantierten Regulatoren nicht richtig funktionierten und daß er mental nicht gesund wäre. Nur um sicher zu sein, ließ er eine Testfaser durch seinen Primärverstand und die regulierenden Implantate laufen.

Die Resultate zeigten keine Fehlzustände an.

Nur extremen Streß und Gefahr.

Alle diese Bäume hatten die Wiederherstellung der Rotation nach der Zerstörung überlebt. Sie hatten zeitweilige Gewichtslosigkeit überdauert, Überschwemmungen, chaotisches Wetter und Jahre der Vernachlässigung. Jetzt schienen sie gut zu gedeihen. Warum konnte er sich nicht durch ihr Beispiel ermutigen lassen?

Warum kann ich überhaupt nichts empfinden?

Hinter den Barrieren tauchte ein planmäßiger Zustandsbericht auf. Sein Partial schickte ein Informationsband, das erfolgreiches Eindringen in die kulturellen und persönlichen Gedächtnisspeicher des Jarts meldete. Außerdem hatte das Partial noch behutsame ›Begrüßungen‹ ausgetauscht.

Olmy lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum und tat einen tiefen Atemzug. Eine Art von Dialog lief viel früher ab, als er erwartet hatte. Der Jart fand im Moment irgendeinen Vorteil in der Kooperation. Vielleicht würde Olmy bald sagen können, wie viele der scheinbaren Erinnerungen des Jarts real und wie viele künstlich waren. Es war unwahrscheinlich, daß der Jart aktuelle Information dieser Art preiszugeben geneigt wäre. Aber dann war auch alles hinsichtlich seiner Situation unwahrscheinlich… und Olmy hatte immer noch keine Ahnung von der Psychologie des Jarts, zu welchen Handlungen es fähig oder unfähig war.

Als das Partial seine Ergebnisse meldete, saß Olmy einige Zeit mit offenen Augen da. Er sah gleichzeitig den Wald und

 

Große prismenförmige Jartkreuzer, die mit majestätischer Ruhe über ein kolonisiertes Segment des Weges dahinzogen

 

(wieder auf verschiedenen visuellen Ebenen, aber diesmal mehr geordnet und weniger ungestüm)

 

und tanzende Wolken zwergenhafter Wartungsmaschinen und Vehikel, die sich von dem Kreuzer zu breiten, gekrümmten Rampen auf dem Boden des Weges bewegten.

 

Olmy ließ die Erinnerung noch einmal ablaufen und bemerkte plötzlich, daß sich unter der nächsten Rampe ein umgedrehtes Bild des Äußeren eines Planeten befand. Er versuchte das zu deuten, konnte es aber nicht. Es schien, daß zumindest in diesem Falle Jart-Tore keine kreisrunden Löcher waren, sondern mehrere Kilometer weite Schlitze im Weg. Es bestand immer die Möglichkeit, daß alle Information, welche er bisher empfangen hatte, trügerisch war und der Jart nur einen listigen Trick darstellte. Eine Möglichkeit, das herauszufinden, war, Korzenowski nach der Existenz länglicher Tore im Weg zu befragen. Aber auch wenn es solche geben sollte, hätten andere Details entstellt sein können…

Eine andere Erinnerung

 

sich vermischend mit anderen Wesen

 

(Jarts? Klienten der Jarts?)

 

in einer dicken grünen Flüssigkeit viel kleinere silberne Würmer, die sich zwischen ihnen bewegen, gelegentlich um das eine oder andere Individuum winden und sich fest genug klammern, um Fleisch zu zerknittern. Einige der Wesen ähnelten dem Jartkörper in dem zweiten Raum des Gedächtnisspeichers der fünften Kammer. Andere waren flache weiße Teppiche mit flimmernden Fransen, die durch die Flüssigkeit flogen, oder dreiseitig symmetrische ›Seesterne‹ mit flexiblen Mandibeln am Ende eines jeden Arms, oder dicke formlose Ausstülpungen farbloser Röhren…

 

Alle schienen einen entfernten, alptraumhaften Meeresboden als gemeinsamen Ursprung zu haben, und keines tat etwas, das Olmy auch nur ansatzweise begreifen konnte.

Es gab noch weitere Bilder, viel zu viele, um sie im Moment näher kennenzulernen. Olmy speicherte diese Eindrücke, ohne sie zu prüfen, und ging zu der ausgetauschten ›Begrüßung‹ über.

 

Partial: (Wiedergabe eingefangener Erinnerungen und einer Faser, die Bewußtheit von Existenz und Zustand des Jarts bezeichnete.)
Jart: ›Ich bin außerhalb des Bereichs der Pflicht? Wo ist dein Etikett als Dienst Ausübender?‹
Partial: Du befindest dich ›außerhalb des Bereichs‹ aller deiner Art.
Jart: ›Was ist der Status als Bruder/Vater? Ist dies eine Kommunikation vom Überwachungskommando?‹
Partial: ›Bruder/Vater-Status‹ unbekannt. Kein Überwachungskommando. Du bist gefangen und wirst examiniert.
Jart: ›Anerkenntnis von persönlichem Status als gefangen.‹

 

Danach sendete das Partial eine lange Liste von Fragen. Diese wurden jetzt verarbeitet. Zumindest für den Moment hatte Olmy eine Illusion von Fortschritt.

Das Partial übermittelte eine andere Faser:

 

Jart: ›Kooperation und Transfer von Status-Information? Auswechseln von Überwachungskommando und Kommando?‹

 

Das schien eine Art von Kapitulation zu sein. Olmy markierte die Ausdrücke ›Ausübender‹, ›Überwachungskommando‹ und das isolierte Wort ›Kommando‹. Er überlegte, ob es sich um Befehlsränge in der Jartgesellschaft handeln könnte. Das Partial hatte der vom Jart angebotenen Bedingung zugestimmt, vorbehaltlich späterer Erklärung. Die Grenzen und Methoden wurden jetzt ausgearbeitet, wobei die Barrieren noch hoch waren und es nicht so schien, als ob sie gesenkt werden würden außer für die Übermittlung weiterer Befunde und Statuskontrollen.

Olmy steckte seine Hand in den Lehm und starrte zu den Baumzweigen empor. All seine Abwehrmöglichkeiten waren alarmiert. Es war möglich, daß der Jart bloß einen neuen Angriff vorbereitete.

Irgendwie hielt er das nicht für einfach. Nachdem es ihm mißlungen war, Olmy unmittelbar zu töten oder zu bezwingen, hatte der Jart offenbar einen anderen Weg vor. Wohin der führen würde, davon hatte Olmy keine Ahnung.

Aber ein detaillierter Austausch hatte begonnen.

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