1. KAPITEL
Wiedereroberte
Erde,
Unabhängiges Gebiet von Neuseeland, A.D. 2046
Der Friedhof der Station von New Murchison enthielt nur dreißig Gräber. Flaches Grasland umgab den eingezäunten Fleck, und ringsum und hindurch schlängelte sich schützend ein schmaler Bach, dessen leise flüsterndes Geplätscher den kühlen, trockenen Wind übertönte. Der Wind ließ die Grashalme säuseln und beben. In graue Wolken gehüllte Berge mit Schneestreifen blickten finster auf das Gelände. Die Sonne stand um eine Stunde über der Zwei-Daumen-Kette im Osten. Ihr Licht war hell, aber nicht warm. Trotz des Windes schwitzte Garry Lanier.
Er half dabei, den Sarg auf Schultern durch den schiefen weißen Lattenzaun zu dem neu ausgehobenen Grab zu tragen, das durch einen Hügel dunkler Erde markiert war. Sein Gesicht war eine Maske, um die Anstrengung und die krampfhaften Schmerzen zu verbergen.
Sechs Freunde dienten als Träger. Der Sarg war nur ein sauber bearbeiteter und genau angepaßter Holzkasten, aber Lawrence Heineman hatte gute neunzig Kilo gewogen, als er starb. Die Witwe, Lenore Carrolson, folgte zwei Schritte dahinter mit erhobenem Kopf. Ihre verwirrten Augen starrten auf etwas eben über dem Ende des Sarges. Ihr einst aschblondes Haar war jetzt silberweiß.
Larry hatte viel jünger ausgesehen als Lenore, die jetzt in ihrem neunzigsten Jahre gebrechlich und unwirklich schien. Er hatte vor vierunddreißig Jahren nach seinem Herzanfall einen neuen Körper bekommen. Nicht Alter oder Krankheit hatten ihn getötet, sondern ein Steinschlag bei einem zwanzig Kilometer entfernten Campingplatz im Gebirge.
Sie legten ihn in die Erde, und die Sargträger zogen die dicken schwarzen Seile weg. Der Sarg kippte und knarrte im Erdreich. Lanier fand, daß Heineman das Grab als ein unbequemes Bett vorkommen würde. Aber dann ließ er diese naive Phantasie sausen. Es war nicht gut, den Tod umzugestalten.
Ein Priester der Neuen Römischen Kirche sprach über dem Grabe Latein. Lanier warf als erster mit dem Spaten muffigen Dreck in das Loch. Asche zu Asche. Der Boden hier ist feucht. Der Sarg wird vermodern.
Lanier rieb sich die Schulter, als er bei Karen stand, die seit fast vierzig Jahren seine Frau war. Ihre Augen huschten über die Gesichter ihrer entfernten Nachbarn und suchten etwas, womit sie ihre Gefühlsverlagerung mildern könnte. Lanier bemühte sich, die Leidtragenden mit ihren Augen zu sehen, und fand nur Trübsal und eine nervöse Niedergeschlagenheit. Er berührte ihren Ellbogen, aber sie hatte nichts von seiner Zuversicht. Karen war, als gehöre sie nicht dazu. Sie hatte Lenore Carrolson wie eine Mutter geliebt, obwohl sie seit zwei Jahren nicht miteinander geredet hatten.
Oben am Himmel tat das Hexamon zwischen den orbitalen Bezirken seinen gewöhnlichen Dienst, hatte aber von diesen glücklichen Himmelskörpern keinen Vertreter geschickt. Und in der Tat wäre eine solche Geste unpassend gewesen in Anbetracht dessen, welche Gefühle Larry gegenüber dem Hexamon entwickelt hatte.
Wie sehr sich doch die Dinge verändert hatten…
Teilungen, Trennungen, Katastrophen. Nicht alle Arbeit, die sie bei der Wiederherstellung geleistet hatten, konnte diese Differenzen wegwischen. Sie hatten auf die Wiederherstellungen solche Erwartungen gesetzt. Karen hatte immer noch große Hoffnungen und arbeitete noch an ihren verschiedenen Projekten. Ihre Umgebung teilte nicht viele dieser Hoffnungen.
Sie war immer noch im Glauben befangen an die Zukunft und die Bemühungen des Hexamons.
Lanier hatte den Glauben vor zwanzig Jahren verloren.
Jetzt hatten sie einen bedeutsamen Teil ihrer Vergangenheit in die feuchte Erde gelegt, ohne Hoffnung auf eine zweite Wiederauferstehung. Heineman hatte nicht erwartet, daß er durch einen Unfall sterben würde; er hatte sich aber trotzdem seinen Tod ausgesucht. Lanier hatte eine ähnliche Wahl getroffen. Er wußte, daß die Erde auch ihn eines Tages absorbieren würde; und das erschien richtig, wenn auch nicht ohne eigenen Schrecken. Er würde sterben. Keine zweite Chance. Er – und Heineman und Lenore – hatten die vom Hexamon gebotenen Gelegenheiten bis zu einem gewissen Maße angenommen und dann Bedenken geäußert.
Karen hatte sich nicht gesträubt. Wenn sie unter dem Bergsturz gelegen hätte anstatt Larry, wäre sie jetzt nicht tot. In ihrem Implantat gespeichert, würde sie ihrer fälligen Wiederauferstehung entgegensehen in einem für sie in einem der Bezirke gewachsenen Körper und zur Erde gebracht werden. Sie würde bald ebenso jung oder noch jünger sein, als sie jetzt war. Und im Verlauf der Jahre würde sie durchaus nicht älter werden, als sie wünschte, noch würde sich ihr Körper in unerwünschter Weise verändern. Das war, was sie von diesen Leuten trennte. Es unterschied sie auch von ihrem Gatten.
Wie Karen hatte auch ihre Tochter Andia ein Implantat gehabt, und Lanier hatte nicht protestiert, weswegen er sich einige Zeit geschämt hatte. Aber es war eine ganz außerordentliche Erfahrung zu sehen, wie sie wuchs und sich wandelte. Er erkannte, daß er viel eher seinen eigenen Tod akzeptieren würde als den dieses schönen Kindes. Er hatte sich Karens Plänen nicht widersetzt; und das Hexamon war heruntergekommen, um das Kind einer seiner getreuen Dienerinnen zu segnen und seiner Tochter eine Gabe mitzuteilen, die er selbst nicht annahm, weil sie nicht allen Alten Eingeborenen der Erde zuteil wurde und es auch nicht werden konnte.
Dann war die Ironie des Schicksals zum Zuge gekommen und hatte ihrem Leben einen festen Stempel aufgeprägt. Vor zwanzig Jahren war Andias Flugzeug im östlichen Pazifik abgestürzt, und sie wurde nie gefunden. Die Chance, daß ihre Tochter wieder ins Leben zurückkehren würde, lag im Schlick auf dem Boden einer tiefen Senke des Ozeans als winzige Kugel, die selbst für die technischen Möglichkeiten des Hexamons unaufspürbar war.
Die Tränen in seinen Augen galten nicht Larry. Er wischte sie weg und grüßte mit formal steifer Miene den Priester, einen gottesfürchtigen jungen Scheinheiligen, den Lanier nie gemocht hatte. »Gottes Wein kommt in einem seltsamen Gefäß«, hatte Larry einmal gesagt.
Er kam in eine Weisheit, die mich neidisch macht.
Im ersten Rausch des Erstaunens über die Arbeit des Hexamons waren alle verblüfft gewesen. Heineman hatte seinen zweiten Körper schließlich gern genug angenommen, und Lenore hatte Verjüngungskuren akzeptiert, um mit ihrem Gatten gleichzuziehen. Später hatte sie diese Behandlungen aufgegeben, wirkte aber jetzt nicht älter als eine gut erhaltene Siebzigerin…
Die meisten Alten Eingeborenen kamen nicht an Implantate heran. Selbst das Hexamon konnte nicht jedermann auf der Erde entsprechend versorgen; und selbst dann waren die Kulturen der Erde nicht reif auch nur für eine angenäherte Unsterblichkeit.
Lanier hatte Implantate abgelehnt, aber die Hexamon-Medizin akzeptiert. Er wußte bis heute nicht, ob darin eine gewisse Heuchelei steckte. Solche Medizin war den meisten, wenn auch nicht allen Alten Eingeborenen zugänglich gemacht worden, die über eine ruinierte Erde zerstreut waren. Das Hexamon hatte seine Hilfsquellen dafür ausreichend strapaziert.
Er hatte gedacht, daß er, um seine aktuelle Arbeit zu tun, gesund und fit sein müßte; und für diese Arbeit – den Besuch der Todländer und das Leben inmitten von Tod, Krankheit und Strahlung – brauchte er das Privileg der Hexamon-Medizin.
Lanier konnte Karens Reaktion erkennen. So eine Vergeudung. Alle diese Leute fielen aus und gaben auf. Sie dachte, daß sie sich verantwortungslos verhielten. Vielleicht waren sie das wirklich; aber wie er selbst und Karen hatten sie einen großen Teil ihres Lebens der Wiederherstellung und dem Glauben gewidmet. Sie hatten ihre Zuversicht verdient, wenn sie auch in Karens Augen unverantwortlich sein mochten.
Die Schuld, die sie alle vor den orbitalen Bezirken trugen, war unermeßlich. Aber Liebe und Loyalität konnte man nicht durch Schuldverpflichtung verdienen.
Lanier folgte den Leidtragenden in die kleine, einige hundert Meter entfernte Kirche. Karen blieb bei den Gräbern zurück. Sie weinte, aber er konnte nicht hingehen, um sie zu trösten.
Er schüttelte einmal heftig den Kopf und blickte zum Himmel empor.
Niemand hatte gedacht, daß es jemals so geschehen würde.
Er konnte es selbst kaum glauben.
In dem einstöckigen Versammlungsraum der Kirche wartete Lanier, während drei jüngere Frauen Sandwiches und Punsch bereitstellten, darauf, daß seine Frau sich dem Rest des Volkes anschließen würde. Gruppen von zwei oder drei Personen bildeten sich mißmutig im Raum, um vorzutreten und der Witwe ihre Aufwartung zu machen, die alles mit distanziertem Lächeln aufnahm.
Er entsann sich: Sie hat ihre erste Familie im Tod verloren. Sie und Larry hatten sich, nachdem sie sich vor zehn Jahren von der Rekonstruktion zurückgezogen hatten, wie junge Leute verhalten. Sie wanderten um die Süd-Insel, nahmen mancherlei Hobbies auf, gingen gelegentlich zu ausgedehnten Märschen nach Australien und segelten einmal sogar nach Borneo. Sie waren ohne Sorgen gewesen, oder hatten zumindest so gewirkt, und Lanier beneidete sie darum.
»Ihre Frau trifft dies hart«, sagte ein junger Mann mit rotem Gesicht namens Fremont und ging allein auf Lanier zu. Fremont betrieb die wiedereröffnete Irishman Creek Station. Seine halbwilden Merinos verteilten sich bis hin zu Twizel, und er galt nicht als ein Musterbürger. Sein Stationszeichen war ein Kea in einem Kreis – merkwürdig für jemand, der seinen Lebensunterhalt durch Schafe verdiente. Aber er sollte einmal gesagt haben: »Ich bin nicht weniger unabhängig als meine Schafe. Ich gehe, wohin ich will, und das tun sie auch.«
Lanier sagte: »Wir alle haben ihn geliebt.« Er wußte nicht, warum er sich plötzlich diesem rotgesichtigen Halbfremden anvertrauen sollte; aber mit einem Auge zur Tür gewandt und auf Karen wartend sagte sein Mund: »Er war ein tüchtiger Mann, wenn auch schlicht. Er kannte seine Grenzen. Ich…«
Fremont zog eine buschige Augenbraue hoch.
Lanier sagte: »Wir waren zusammen auf dem Stein.«
»So habe ich gehört. Sie waren ganz konfus mit den Engeln.«
Lanier schüttelte den Kopf: »Er hat das gehaßt.«
Fremont sagte: »Er hat hier und überall Gutes getan.«
Bei einem Begräbnis sind alle Leute nett. Karen kam zur Tür herein. Fremont, der höchstens fünfunddreißig Jahre alt sein mochte, blickte in ihre Richtung und wandte sich dann mit einem abschätzenden Blick wieder Lanier zu. Dieser verglich sich mit diesem jungen, kräftigen Mann. Er selbst hatte voll ergrautes Haar, große braune und schwielige Hände. Sein Körper war leicht gebeugt.
Karen schien nicht älter zu sein als Fremont.