54. KAPITEL
Erde
An seinem letzten Tag auf der Erde schlug Lanier Holz für ihren Herd – mehr ein Dekorationsstück als eine Notwendigkeit – und genoß die körperliche Arbeit. Der richtige Ansatz des eisernen Keils und der feste Schlag des Hammers. Das Aufstapeln der Holzscheite. Solide, die Muskeln kräftigend. Alte festgefügte Rituale männlicher Autorität.
Er sah zu, wie Karen Brot buk und kostete eine Scheibe vom frischen Laib am Nachmittag.
»Heute bin ich von meinen kleinen Helfern frei«, sagte er und wies auf eine rote Marke an einem Wandkalender. Der letzte seiner inneren Steuerapparate würde sich inzwischen aufgelöst haben.
»Du solltest Christchurch anrufen für eine neue Kontrolle«, sagte Karen und folgte ihm mit ihren grüngoldenen Augen.
»Die werden das Implantat nicht entfernen, bis sie damit einverstanden sind. Ich boykottiere die kleine medizinische Tyrannei von Ras Mishiney.«
Sie lächelte, offensichtlich nicht einverstanden, aber nicht gewillt, weiter zu diskutieren.
»Feines Brot«, sagte er, zog seine Stiefel an und grinste über die neuen Muskeln, die Holz hacken konnten, wie er festgestelt hatte. »Macht die ganze Welt fröhlich, schon mit dem Geruch.«
»Ein altes englisches Rezept mit einigen Verfeinerungen aus Havanna«, sagte Karen und holte einen zweiten Laib aus dem Ofen. »Meine Mutter pflegte es Brot der Vier Einheiten zu nennen.« Sie schob das Brot auf ein Gestell auf dem Fliesentisch. »Spazierengehen?«
Er nickte. »Ich muß mich recken und abkühlen nach all der Arbeit. Willst du mitkommen?«
»Noch vier Brote«, sagte sie, ergriff seinen Arm und küßte ihn auf die Wange. Mit einer Hand strich sie achtsam und sanft über seine grauen Stoppeln. »Geh nur! Ich werde das Abendessen fertig haben, wenn du zurückkommst.«
Er nahm den kurzen Pfad hinter dem Haus in einen alten Wald von Nadelhölzern, der den Kahlschlag im ganzen zwanzigsten Jahrhundert überdauert hatte.
Die dichten Farnbögen und ausgebreiteten Baldachine von Zweigen versetzten alles in eine grüne Dämmerung, die von Sonnenlicht getupft war. Vögel flatterten durch das Unterholz und hoch über dem Kopf.
Er war ungefähr zwei Kilometer vom Haus entfernt, als sich eine Schwäche längs seiner rechten Seite bemerkbar machte. Nach einigen Metern mehr hatte er ein taubes Gefühl, verbunden mit einem merkwürdigen Juckreiz. Seine Achselhöhlen wurden feucht von Schweiß, und er stützte sich auf seinen Wanderstock. Seine Beine zitterten wie die eines kranken Hundes. Schließlich konnte er nicht mehr länger stehen und setzte sich halb, halb fiel er auf einen alten bemoosten Baumstumpf.
Rechte Seite. Linkes Gehirn. In der linken Hirnhälfte war eine neue Blutung aufgetreten.
»Ich habe die kleinen Helfer gehabt«, sagte er mit hoher und vor Schmerz kindlicher Stimme. »Sie müßten mich kuriert haben. Dies hätte nicht passieren sollen.«
Ein Schatten bewegte sich über sein Gesicht. Er wandte den Kopf zur Seite und sah Pavel Mirsky in nicht mehr als zwei Metern Entfernung stehen.
»Garry, kannst du jetzt mit mir kommen?«
»Ich sollte nicht krank sein. Die Helfer…«
»Vielleicht haben sie nicht richtig funktioniert?«
»Ich weiß nicht.«
»Nicht Talsit. Pseudotalsit.«
»Die Ärzte hätten das reparieren sollen.«
»Nichts Menschliches ist vollkommen.« Mirsky klang sehr ruhig, aber er tat nichts, um Lanier zu helfen und rief nicht einmal um Hilfe. Lanier hatte seinen Kommunikator im Blockhaus gelassen.
Er hatte keine großen Schmerzen. Da war nur der schwarze Tunnel, und die Türen schlugen vor der Erinnerung zu. »Es ist jetzt, nicht wahr? Du bist hier, weil es jetzt ist.«
»Du wirst bald in dein Implantat gespeichert werden. Das wünschst du aber nicht.«
»Nein. Aber es sollte nicht jetzt sein.«
Mirsky ging auf ein Knie herunter und sah ihn scharf an. »Es ist jetzt. Du liegst im Sterben. Du kannst entweder auf ihre Art sterben – sie werden dir diesmal einen neuen Körper geben – oder auf deine eigene Art. In welchem Falle ich gern möchte, daß du mit mir kommst.«
»… verstehe nicht.« Seine Sprache war undeutlich. Er konnte seine Zunge nicht kontrollieren. Das ist schrecklich. Es war vorher schrecklich, es ist jetzt schrecklich. »Karen.«
Mirsky schüttelte traurig den Kopf. »Komm mit mir, Garry! Da gibt es Abenteuer. Und einige aufregende Neuigkeiten. Du mußt dich bald entscheiden. Sehr bald.«
Nicht fair. »Ruf bitte um Hilfe!«
»Ich kann nicht. Ich bin nicht real hier, nicht physisch – diesmal.«
»Bitte!«
»Du mußt dich entscheiden.«
Lanier schloß die Augen, um dem Tunnel zu entgehen, konnte es aber nicht. Er wußte kaum, wo er jetzt war. »In Ordnung«, mit einer Stimme, die so schwach war, daß man sie kaum ein Flüstern nennen konnte.
Etwas Warmes drückte hinter seinen Augen; und er fühlte eine Schärfe – nicht schmerzhaft, bloß scharf – im ganzen Kopf. Diese Schärfe schälte seine Gedanken Schicht um Schicht ab; und für einen kurzen Augenblick gab es überhaupt kein Selbst. Aber der Schälvorgang ging weiter, wickelte aus und entwirrte. Dann schien er sich umzukehren. Er fühlte die Dinge wieder an Ort und Stelle geraten, aber mit einer anderen Grundstruktur – als ob er eine Farbschicht auf einer Leinwand wäre, die von der alten Malfläche abgezogen und auf eine neue gepreßt würde… Aber es gab keine Fläche, keinen Grund, nichts Festes, an das man sich hätte hängen können, nur das Muster und eine gewisse unaussprechliche Verbindung zu Mirsky, der nicht mehr wie Mirsky oder ein Mensch aussah. Was er jetzt sah, war kein Licht; und was er von Mirsky hörte, waren keine Worte.
Ich habe mich gefragt, was du wirklich bist, bemerkte er, ohne die Lippen zu bewegen. Du bist überhaupt kein Mensch.
Nicht mehr, bestätigte Mirsky. Ich werde hier etwas für Karen hinterlassen, damit sie nicht alles verloren haben wird.
Laniers Körper fiel auf eine Seite, zerdrückte einen Farn und stieß Borke von der angefaulten Seite des Baumstumpfes. Die Augen zitterten halb offen. Die rechte Hand zuckte und verkrümmte sich heftig und entspannte sich dann. Die Lungen flatterten, und Urin näßte die Hose. Das Herz schlug noch ein paar Minuten weiter; aber dann setzte der Atem aus, und die Brust war still.
Sein Implantat war nicht leer, aber Garry Lanier war tot.