14. KAPITEL
Gaia
Als Rhita am Abend ihres vierten Tages in Alexandreia nach sieben enttäuschenden Stunden, sich im Labyrinth der Gebäude zurechtzufinden, indem sie von Klassenzimmer zu Klassenzimmer lief, allein in ihrem Zimmer saß und wieder ein ungewohntes und leicht Übelkeit erregendes Mahl verdaute, das sie in dem kleinen, für Frauen reservierten Speisesaal verzehrt hatte, gestattete sie sich einen Moment größten Heimwehs und Jammers. Sie konnte nichts weiter tun als weinen. Nach nur einigen derartigen Minuten setzte sie sich auf der harten Liege auf und erwog mürrisch ihre Lage.
Von Kleopatra hatte sie noch keine Nachricht erhalten.
Sie hatte auch noch nicht den Mechanikos Demetrios getroffen, ihren zugewiesenen Lehrer. Bei einer seltenen Situation der Mitteilung nützlicher Information hatte Yallos Rhita gesagt, daß sie binnen etwa einer Woche mit ihrem Lehrer zusammentreffen würde; andernfalls könnte ihr Status im akademischen Wettbewerb verfallen. Sie fühlte sich verloren. Sie hatte mit dem Mann einen Termin gehabt seit der Woche ihrer Abreise von Rhodos. Als sie in seinem Büro, einem finsteren, alten und ungepflegten Haus im Westen des Bereichs des Mouseions, nachfragte, war ihr von einem verdrießlichen Assistenten mitgeteilt worden: »Er ist zu einer Konferenz nach Kreta gerufen worden. Er wird binnen eines Monats zurück sein.«
Noch schlimmer als die Mißachtung war ihr Gefühl von Verlust und Entfremdung. Niemand hier kannte sie. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Die Frauen – mit der unglücklichen Ausnahme von Yallos, gegen die Rhita eine starke Abneigung entwickelt hatte – ignorierten oder mißachteten sie. Yallos hatte sich mit der Miene, als ob sie einem Einfaltspinsel zu Hilfe käme, zu Rhitas inoffizieller Beraterin aufgeschwungen.
Für die Frauen in dem verfallenen zweistöckigen Gebäude war sie ›ein Inselmädchen‹, ungebildet und bäurisch. Noch schlimmer war, daß sie aus einer angesehenen Familie stammte und dennoch seitens des Mouseions keine erkennbaren Privilegien genoß. Ihre soziale Stellung war also unklar. Sie war Freiwild für Mißachtung. In Hörweite wurde über sie geklatscht und wild spekuliert. Sie hatte Gerüchte flüstern gehört, wonach der Kelte ihr ›Insel-Liebhaber‹ wäre.
Das war ihrer Meinung nach wohl Neid.
Ihr war nicht möglich, das Mouseion zu verlassen und durch die Straßen Alexandreias zu gehen. Sie wußte recht gut, was einem unerfahrenen ›Inselmädchen‹ dort passieren konnte. Und mit dem plumpen, schweigsamen Kelten an ihrer Seite herumzuspazieren, war für sie gerade jetzt kein Vergnügen, obwohl sie im Laufe der Zeit wohl auf seine Begleitung würde zurückkommen müssen, nur um sich vom Mouseion wegzubegeben.
Sie hatte das Meer nicht mehr gesehen, seit sie die Kais am Großen Hafen verlassen hatte.
Rhita sehnte sich nach Rhodos, nach dem hüpfenden Lachen der Wellen, wenn auf hoher See ein Sturm tobte, nach dem staubig grünen Geruch von Olivenhainen und dem Spiel blendender Wolken am lapislazuliblauen Himmel. Am meisten von allem fehlte ihr die Gesellschaft von Rhodiern, schlicht und sonnenklug, wie man auf der Insel zu sagen pflegte. Besonders vermißte sie die Kinder am Strand.
Vielleicht war sie wirklich bloß ein ›Inselmädchen‹.
Zu fast jeder Stunde des Tages, manchmal sogar in der Abenddämmerung und danach, konnte man an den felsigen und sandigen Stränden von Rhodos ein paar herumsausende Jünglinge antreffen, braun und nackt bis auf Unterhemden oder Lendentücher. Gewöhnlich waren das Altai-Avaren aus dem Süden der Insel oder den alten Flüchtlings-Slums in Lindos, von dunklem Typ, mit orientalischen Augen und runden Köpfen, die Münder voller Flüche. Ihre von der Sonne vergoldeten Gliedmaßen blitzten, wenn sie in den Gezeitenpfützen mit dem Speer fischten oder improvisierte Detektoren herumtrugen auf der Suche nach verlorenen Münzen oder versunkenen Wracks. Sie hatte sich als Heranwachsende von ihren Studien weggestohlen, um mit ihnen zu laufen, zu lachen und ihre Sprache zu erlernen, ihre Verwünschungen und ihre heiteren Ausdrücke von Begeisterung. Ihre Mutter hatte sie ›Barbaren‹ genannt, ein altes Wort, das jetzt nur noch selten gebraucht wurde. Die meisten Bewohner der Oikoumene waren nach der Definition ihrer Mutter Barbaren.
Als sich Rhitas Brüste entwickelt hatten und die Schultern der Jungen am Strand breiter geworden waren, kam in ihr Spiel eine neue Note – eine sanfte Grobheit. Sie hatte die ihr zugerufenen Verwünschungen, die halb als Spaß und halb wie von blutdürstigen Raubtieren geklungen hatten, fast gemocht. Wäre sie etwas weniger beschützt gewesen, etwas mehr weltlich und weniger vom Verhaltenscodex des Hypateions umhegt, dann hätte einer dieser Jungen ihr erster Liebhaber geworden sein können. Die Große Mutter weiß, wieviel Zärtlichkeiten und Küsse sie ihr gestohlen hatte.
Sie erinnerte sich noch an ihre Späße, die Jahrhunderten von Kampf und Verzweiflung entstammten und nicht alle durch die Toleranz und das Klima von Rhodos gemildert waren.
Es waren grausame und wilde Späße über unzeitigen Tod, der große Pläne vereitelte, rauhe Fabeln von getrennten Familien und verlorenen Verwandten, über Herdenvieh, das man nie auf Rhodos gesehen hatte.
Einmal hatte sie dagesessen und sich mit einem Jungen unterhalten, der vielleicht um ein Jahr jünger war als sie. Er hatte ihr seine Familiengeschichte erzählt, ungezählte Jahrhunderte, die mit den Schicksalen anderer Familien und Stämme, vielleicht anderer Völker, verflochten waren. Sie hatte versucht, dies mit dem zu vereinbaren, was sie über die alten Rus-Oikoumene-Parsa-Bündnisse und die Auslöschung der Steppenvölker wußte. Umgekehrt hatte er ihre formale Geschichte mit ungewöhnlicher Höflichkeit und Aufmerksamkeit angehört und ihr danach gesagt: »Das ist es, was ihr als Sieger sagt.« Er war aufgesprungen, hatte sie wie ein Esel angeschrien und war über den Strand gelaufen, wobei seine nackten Füße todsicher einen Weg über flache, von der Sonne erhitzte Steine fanden.
Rhita hatte seufzend die Augen geöffnet, denen der heiße, blasse Mittagshimmel und der in der Ferne laufende Junge entschwanden. Sie nahm das elektronische Teuchos auf, das ihrer Großmutter gehört hatte, und schaltete es ein. Sie wählte einen Erinnerungsblock und fing an, die verzeichneten Bände zu durchsuchen. Dann wurde ihr ein mögliches Risiko klar, und sie stellte den erleuchteten Bildschirm des Gerätes ab. Sie prüfte die schwache Tür und beschloß, daß sie diese zumindest mit dem einzigen Rohrstuhl des Raumes blockieren könnte. Sie hatte seit ihrer Ankunft nicht gewagt, einen Musikwürfel anzuhören. Die Entdeckung würde zumindest peinlich und schlimmstenfalls verheerend sein. Das Mouseion könnte die Objekte konfiszieren. Man könnte sie aller Arten lächerlicher Vergehen bezichtigen. Wie sollte sie das wissen?
Rhita haßte dieses fremdartige, schwierige und von Klassenvorurteilen beherrschte Mouseion mit seinem altertümlichen, verworrenen Gelände…
Unter den stadterfahrenen Studenten, die allenthalben von Gaia einberufen waren, fühlte sie sich fehl am Platze. Zu ihrer Überraschung hatte sie junge Männer gesehen, die auffällige gefranste Lederkleidung trugen, wie sie bei Neo-Karchedoniern in Mode waren als Nachahmung der eingeborenen Völker, die diese vor einem Jahrhundert unterworfen hatten. Das waren die Kinder der geschworenen Feinde der Oikoumene. Welche Perversion der Diplomatie gestattete ihnen den Aufenthalt in Alexandreia? Sie hatte sogar Studenten gesehen in den Togen und Lederröcken lateinischer Stämme. Nicht, daß sie irgendeinen davon persönlich nicht mochte. Rhodos schien von alledem so entfernt zu sein. Obwohl sie ihre Geschichte studiert hatte, wußte sie, daß niemandem solche Konflikte erspart blieben.
Rhita zog den Spalt in den Vorhängen enger, wobei alte Gardinenringe aus Nußschalen gegen die Rohrstange klapperten, und begab sich wieder zu ihrem Bett. Ohne Grund fühlte sie sich ein wenig sicherer. Sie schaltete den Bildschirm wieder ein und sah die Liste durch. Sie hatte praktisch fast alle zweihundertsieben verzeichneten Bücher gelesen oder durchgesehen.
Aber diesmal blieben ihre Augen an einem Titel hängen, den sie nicht gelesen hatte. Sie hätte schwören können, daß er neu hinzugefügt worden war. Er lautete einfach: ›LIES MICH JETZT!‹ Sie rief ihn auf den Schirm.
Die der Darbietung der ersten Seite vorausgehende Indexkarte besagte, daß der Band dreihundert Seiten umfaßte – etwa hunderttausend Wörter – und in Hellenisch war, nicht Englisch, wie alle anderen Bücher in dem Kubus. Dann bemerkte sie einen blinkenden Cursor bei einer Notiz, die sie noch nie zuvor gesehen hatte: »Inhalt und Katalog gesperrt bis 4/25/49.«
Das war vor zwei Tagen gewesen.
Rhita drückte die Taste, um die erste Seite zu lesen.
Liebe Enkelin!
Du trägst den Namen meiner Mutter. Ist es mein ganzer Wunsch, daß du sie treffen wirst? Als du jünger warst, mußt du gedacht haben, ich wäre ein verrücktes altes Weib, obwohl ich glaube, daß du mich geliebt hast. Jetzt hast du dies hier; und ich kann mit dir sprechen, obwohl ich in Wirklichkeit nie heimgekehrt bin. Manche Leute sagen sogar hier, daß Sterben Heimkehr bedeutet.
Stell dir die Welt vor, von der ich dir erzählt habe, und du hast diese Bücher gelesen, wenn du meine Enkelin bist. Und ich weiß, daß dies so ist. Du hast diese Bücher gelesen, und sie müssen dir sagen, daß ich nichts erfunden habe. Alles ist wahr. Es gab einen Ort, der Erde hieß. Ich bin nicht aus einem Wirbelwind gekommen.
Ich klammerte mich an diese Tafel und die wenigen Blocks, die ich mitbrachte – alles durch reinen Zufall! – während Jahren, als sogar ich den Eindruck hatte, wahnsinnig zu sein. Jetzt bist du mit meinem Anliegen belastet. Aber alle Dinge stehen in Zusammenhang, sogar wenn sie so weit entfernt sind wie meine Erde und eure Gaia. Meine Idee könnte für dich und alle auf Gaia wichtig sein. Wenn es ein Tor gibt. Und wieder geben wird. Sie sind auf dem Schlüsselbein gekommen und gegangen wie Windhosen. Wer würde eine alte Frau so verspotten?
An gewissen Tagen werde ich dir hier etwas zu lesen hinterlassen, wie man eine Schriftrolle entfaltet, das nur an jenem Tage und danach offenbart werden soll.
Sie konnte die Maschine nicht dazu bringen, noch mehr von dem Inhalt der großen Notiz darzubieten. Der Apparat war offenbar so eingestellt, daß er es ihr immer nur stückweise nacheinander freigab. Rhita stellte die Tafel ab und rieb sich die Augen heftig mit den geballten Fäusten. Sie würde von Patrikia nicht loskommen. Sie hatte kein Eigenleben.
Aber wenn es so etwas gab wie ein Tor…
Und das war so! Wer konnte Maschinen leugnen, die zu ihrem Geist sprachen, oder Hunderte von Büchern, die ihre Großmutter sich nicht eingebildet und erst recht nicht beschrieben hatte?
Wenn das Tor real war, dann lastete auf ihren Schultern jetzt mehr als nur Verantwortung gegenüber ihrer Großmutter. Die ganze Bevölkerung von Gaia drückte sie nieder.
Rhita wurde langsam klar, was so ein Ding wie das Tor für diese Welt bedeuten würde. Nicht alle ihre Gedanken waren erfreulich. Es würde Veränderungen geben, vielleicht ungeheure Veränderungen…