21. KAPITEL
Thistledown, Fünfte Kammer
Der Jart verharrte ruhig im Innern von Olmy, offenbar ohne eine Veränderung des Status bemerkt zu haben. Olmy lag im zweiten Raum mit geschlossenen Augen und sondierte vorsichtig seinen neuen Gefährten, wie ein Chirurg, der die beste Stelle sucht, um in eine schlafende, aber gefährliche Bestie einzudringen.
Er konnte rings um sich die Tiefen des Asteroiden fühlen, seit Jahrmilliarden unverändert, unversöhnlich wie die Zeit, Urgestein, kohlehaltige Stoffe und Wasser, die sein Volk seit Jahrhunderten gespeist und behaust hatten.
Er blickte auf die leere Tafel, die einmal die friedlichen Strukturen des Jarts gezeigt hatte. Jetzt waren die Gedächtnisspeicher leer. Alles, was es von dem Jart noch gab, war erfolgreich in Olmys Implantate überführt worden.
Seine erste Entdeckung in den ersten paar Sekunden, in denen er den Jart erkundete, war, daß sich eine Art von übersetzender Hülle oder Schnittstelle entwickelt hatte – entweder durch den Jart selbst als Reaktion auf die Sondierungen früherer Forscher, oder, weniger wahrscheinlich, durch die Forscher selbst. Ohne diese Hülle würde Olmy keine sinnvollen Mitteilungen aufgenommen haben, als Mar Kellen ihn erstmals an das System anschloß. Die Hülle war unvollkommen, aber für einen Anfang nützlich.
Nachdem er sich versichert hatte, daß übertragene Kommunikation möglich war, kontrollierte er jetzt noch einmal seine Vorsichtsmaßnahmen. Er hatte sowohl die Mentalität des Jarts – die ein Implantat einnahm – wie auch ein gespeichertes Partial von sich selbst gesondert von seinem primären Ich positioniert und eine Anzahl von Sperren errichtet, deren geringste ein Zeitgeber war, der den Zugang zu all seinen Implantaten regelte. Das Partial führte die Erkundung zunächst durch und berichtete ihm regelmäßig.
In der überschnellen Welt von Implantatfunktionen geschah all dies binnen zehn Minuten des Aufladens. Olmys Partial stellte fest, daß die Mentalität des Jarts fast intakt war. Das heißt, seine Haupt- und Subroutinen schienen den anerkannten Regeln für intelligente Befehle zu folgen. Sie waren nicht fragmentiert. Die weiter untergeordneten Routinen des Jarts schienen nicht ordentlich zu funktionieren, aber eine Beurteilung davon konnte er sich für später vorbehalten.
Man nahm niemals an, daß irgendein Teil einer tickenden Bombe inaktiv war, bis man die Bombe völlig verstand.
Während der ersten Stunde hatte Olmys Partial einige Teile des Erlebnisgedächtnisses vom Jart lokalisiert. Die ersten Versuche, diese zu verlagern, störten den Jart. Teile seiner Mentalität schienen kurz aus ihrem zeitlosen Schlaf zu erwachen; und Olmy empfing aufs neue eine Kakophonie alter Mitteilungen:
›Pflicht unklar. Anwesenheit des Pflichtenkritikers(?)‹
›Unfähig (sich?) zu lokalisieren‹
›(Scheußlichkeiten)‹
Und dann ein Rückfall in den stillen Teich scheinbarer Ruhe.
Die Erinnerungen, die er gewann, waren bei weitem nicht klar oder leicht zu übersetzen. Die Jart-Sensorien unterschieden sich sehr von menschlichen Äquivalenten. ›Augen‹ waren sowohl für Licht empfänglich wie für Schall und kombinierten solche Signale auf eine Weise, die in der Erfahrung des Hexamons nicht ihresgleichen hatte. Dies bewirkte aber nicht die größten Schwierigkeiten, die Olmy mit den Erinnerungen hatte, denn man kannte schon seit Jahrhunderten Algorithmen, die fast alle sensorischen Mitteilungen deuten konnten. Was ihm (oder hier zunächst seinem Partial) am meisten Rätsel aufgab, war die Nichtbetonung individueller Wahrnehmung zugunsten einer umfassenderen kulturellen Konditionierung. Die persönliche Perspektive eines Jarts schien fast irrelevant zu sein, und es gab handfeste Beweise dafür, daß zumindest dieser Jart mehr als ein Distanzfühler wirkte denn als ein Individuum mit freiem Willen.
Aber andere Anzeichen sprachen dagegen. Der Jart hatte eine starke, unabhängige Routine der Motivation – was man in menschlicher Sprache einem Ego analog nennen könnte. Es gab enorm schwierig assoziierte Komplexe sozialer und hierarchischer Reaktionen, die indessen mit dieser Motivationsroutine vernetzt waren. Der Jart war willensstark, konnte aber in bestimmten Situationen – wenn er in sein soziales Milieu verflochten war – völlig gelehrig und gehorsam sein, fast ohne jeden Willen überhaupt. Und er würde zwischen diesen beiden Zuständen keinen Widerspruch entdecken.
Für einen Jart war Gehorsam von freiem Willen nicht zu unterscheiden. Dennoch war Olmy überzeugt, daß manche Jarts – wie zumindest dieser – keinen Gruppenintellekt enthielten. Vielleicht besaß der Jart ein Modell oder eine künstlich auferlegte Simulation der Jart-Hierarchie, eine Art von Monitor oder Gewissen.
Eine Zeit lang, als er Daten durch die einseitige Verbindung mit seinem Partial empfing, fragte sich Olmy tatsächlich, ob nicht zwei oder noch mehr Mentalitäten gespeichert wären. Es war schwierig, in den Routinen eines Individuums solche primären Widersprüche anzunehmen.
Schließlich gelang es dem Partial, eine Reihe sensorischer Erinnerungen zusammenzufügen, die in menschliche Begriffe übertragen werden konnten.
Die auffälligsten Bilder handelten, da der Jart unter hohem Streß gestanden hatte, von seiner Gefangennahme, was nicht überraschte. Olmy sah, was der Weg gewesen war – ganz flach und farblos – und strahlende Objekte im Vordergrund, die mit erstaunlichem Detail herausgegriffen waren. Diese Details wechselten häufig und ließen Zweifel aufkommen, ob sein Partial korrekt übersetzte. Aber das Partial versicherte ihm in Vorwegnahme der Reaktionen seines primären Kerns, daß die Deutungen stimmten.
Der Jart nahm Objekte aus verschiedenen und fast unabhängigen Standpunkten wahr, nicht in Picasso-ähnlicher kubistischer Manier, sondern durch Bearbeitung der visuellen Eingänge nach vielen unterschiedlichen Routinen.
Und dann erkannte Olmy – und unabhängig davon zugleich sein Partial –, daß der Jart sensorische Interpreten benutzte, die er von anderen Spezies adaptiert hatte. Er enthielt eine Menge visueller ›Gehirne‹, die ziemlich sicher nach denen von Nicht-Jart-Arten strukturiert waren.
Während seiner Gefangennahme hatte der Jart offenbar diese Alternativen durchstöbert und versucht, einen menschlichen Gesichtspunkt zu kopieren durch Verwendung der Routinen von Wesen, die er für menschenähnlich hielt.
Erklärte dies etwas von der Konfusion zwischen Ego- und Motivationsroutinen? Nahmen Jarts die Mentalitäten anderer Arten richtig in sich auf und trugen sie herum wie Werkzeug in einem Gerätesatz?
Wie viele intelligente Spezies, wie viele Kulturen und Gesellschaften hatten die Jarts erobert? Was war mit diesen geschehen?
Olmy arbeitete noch eine weitere Stunde im Bemühen, den visuellen Erinnerungen Sinn abzugewinnen. Schließlich gelang es ihm, ein einleuchtend deutliches Bild von der Gefangennahme zusammenzufügen.
Interpretation auf erster Ebene (vielleicht der natürlichen Routine des Jarts):
Die Umgebung ist pechschwarz und kalt, frei von Tönen. Der Vordergrund wird eingenommen von heißen und lauten Subjekten, die sich sehr schnell bewegen. Die Objekte sind Maschinen; aber die Jarts bauen keine Maschinen wie diese (ein Bild von Aussaat und virusartiger Entwicklung).
Sinndeutung auf zweitem (fremdem?) Niveau:
Der Hintergrund ist voller Details, so scharf, daß man abgelenkt werden kann. Die Objekte im Vordergrund erscheinen irrelevant und unbeachtet. Diese Routine kann Maschinen oder vielleicht nahe Dinge überhaupt nicht deuten.
(Falls es sich um eine angepaßte Sinnesroutine handelt, dafür konstruiert, die anderen zu verstärken oder zu ergänzen – fragte sich Olmy.) Olmy konnte unschwer den Weg erkennen. Traktorfelder zogen sich über den weiten Raum, strahlend gefärbt – purpur und rot.
Manche Felder weichen in funkelnden Fetzen vor durchdringenden Strahlen zurück. Die Strahlen bohren und überschneiden sich. Aber auch diese Routine kann Maschinen nicht deuten.
(Ein merkwürdiger Mangel, dachte Olmy. Sehen war dem Denken verwandt; und es war möglich, daß die Spezies, von der diese Routine entliehen war, keine Ahnung von Technologie hatte.)
Dritte Ebene (Jart-angepaßt? Ähnlich der ersten):
Die Aktionen der Vordergrundobjekte werden abstrakt klar verstanden. Jede Maschine ist scharf dargestellt.
Olmy erkannte menschlich gepanzerte physische Penetratoren (namenlos außer durch Partiale) und automatische Such- und Zerstörungseinheiten, große und kleine – alle häßlich und schwarz und triefend von Feldenergien. Ihn grauste. Er hatte solche Waffen immer gehaßt. Sie waren einfach, direkt und unaufhaltsam. Sie zerstörten alles, was sie in ihren Feldern zu fassen bekamen, reduzierten es auf seine atomaren Bestandteile, auf Impulse von Wärme- und Gammastrahlen.
Dem Jart waren solche Waffen begegnet, aber er hatte so weit überlebt, daß er gefangen wurde. Und dieser Jart war an der Front von jedem Scharmützel im Weg gewesen, das diese Bilder repräsentierten. Menschliche Wesen schickten nur Partiale in solche Aktionen.
War dieser Jart irgendwie ein natürlicher Organismus oder ein reines Kunstprodukt? Die ursprünglichen menschlichen Fänger hatten sich nicht darauf verlassen, daß die physische Form für Jarts typisch wäre. Warum der Mentalität trauen?
Olmy konzentrierte sich auf die Folge der Ereignisse bei dem Einfangen des Jarts. Als weitere Sinneserinnerungen eintrafen, setzte er sie zu einer linearen menschlichen Geschichte zusammen.
Der Jart sitzt in einem kleinen Vehikel und bewegt sich durch die Grenzen von Traktorfeldern wie eine Libelle durch Schilfwände. Oben, in dem ganzen Abschnitt des Weges…
Sehr wahrscheinlich in dem diskutierten Bereich von 1,8-x-9 mit etwa einer Million Kilometern…
… geraten Jart- und Menschenwaffen in einen wilden Kampf. Es herrscht Pattsituation, die beträchtliche Zeit gedauert hat.
(Die Zeitmaße der Jarts sind Olmy nicht verständlich)
Das Vehikel des Jarts trifft auf viele kleine menschliche Maschinen, die über die unfruchtbare Oberfläche des Weges streifen, und vernichtet sie. Es begegnet Spür- und Zerstörungseinheiten und entgeht ihnen irgendwie. Jetzt befindet es sich in einem Gebiet jenseits der Ausweglosigkeit, in einem menschlichen Territorium, wo es versuchen wird, einem Befehlszentrum einen vernichtenden Schlag zu erteilen, einem großen Flaggschiff oder einer gepanzerten Festung. Aber als nächstes trifft es auf eine Wolke von Penetratoren.
– und Vehikeln, die Olmy nicht identifizieren kann
– und ehe es ein Manöver ausführen kann, wird es in dichten Traktionsschichten gefangen. Die Hülle des Vehikels wird verzerrt und zerfetzt. Eine Such- und Erkundungsmaschine versiegelt schnell die Stelle des Unfalls in einer Traktionsblase. Der Jart liegt in seiner Milieuwiege, während Lichtimpulse über die Oberfläche seines transparenten Schildes kriechen, als sein Generator auszufallen beginnt. Ferngesteuerte Geräte, die wie riesige Käfer aussehen, stoßen durch die Blasen und neutralisieren die schwächer werdende Milieuwiege. Sie stoßen den Jart von seinen Kontrollorganen fort. Der Körper des Jarts ist schon schwer geschädigt. Ein zweites Vehikel, fast so groß wie ein Flaggschiff, bewegt sich über die Oberfläche des Weges…
– und da wurden die Bilder unscharf und hörten auf.
Olmy öffnete die Augen. Die Mission des Jarts war aussichtslos gewesen; er hatte nie von organischen Formen gehört, welche das Jart-Äquivalent von Eindringlingen annahmen. Die ganze Aktion war mehr als verdächtig. Sie war untypisch und lächerlich.
Dennoch hatten die Menschen den Köder geschnappt in der Hoffnung – vielleicht im Glauben –, daß sie endlich einen Jart gefangen hätten.
Vielleicht stimmte das. Vielleicht hatten die Jarts freiwillig den Vorteil von Unwissenheit seitens des Feindes aufgegeben, um ihr Trojanisches Pferd durch die Mauern schlüpfen zu lassen. Aber warum wurden Nachforscher sofort umgebracht? Warum den Bauch des Pferdes öffnen vor Anbruch der Nacht und ehe die Trojaner schliefen?
Olmy schloß wieder die Augen und rief sich die letzten zerstreuten visuellen Eindrücke zurück, die sein Partial geschickt hatte. Sie waren zu fragmentarisch, als daß man sie zusammenfügen könnte…
Aber mit dem letzten verbunden war ein scheuernder, beißender Klumpen von Korrosion. Olmy zog sich von diesem scharfen Reiz zurück und schob die ganze Sequenz in sein drittes Implantat, um es alsbald zu isolieren.
Danach reinigte er das dritte Implantat von allen Daten.
Der Jart schlief nicht.
Olmy wartete darauf, daß das im zweiten Implantat gespeicherte Partial eine Selbstanalyse lieferte. Als die Daten erschienen, war die Initiationssaite schlimm geschädigt. Das Partial hatte Entgegenkommen gezeigt.
Der Jart war aktiv. Seine Vorsichtsmaßnahmen hatten fast völlig versagt.
Olmy errichtete noch mehr Sperren um die isolierten Implantate und bereitete noch ein anderes Partial vor. Wenn man Partiale in jene fremde Hölle schickte, war das so, als ob man sich selbst dorthin begab – die Partiale waren duplizierte Stücke seines Ichs. Sein Hormonspiegel stieg wieder an, und er unterdrückte einen ekelerregenden klaustrophoben Terror, der seine peripheren Kontrollen fast überwältigte.
Seit dem Aufladen waren weniger als zwei Stunden verstrichen.
Beim Studium des Jarts kam es offenbar zu einem Kampf der Intelligenzen. Nachdem Olmy das zweite Implantat gelöscht und ein anderes Partial eingesetzt hatte als Ersatz für das kompromittierte, wartete er auf Resultate einer neuen Reihe von Proben. Die Jartmentalität versuchte nicht, die Daten mit korrosiven Mitteln zu markieren und zerstörte auch nicht das Partial.
Sie nahmen sich gegenseitig Maß.
Trotz seines Angriffs auf das erste Partial – worauf Olmy vorbereitet gewesen war –, war es dem Jart nicht gelungen, das Basissystem der Implantate zu verändern, in dem es gespeichert war. Olmy hatte den Eindruck, daß der Jart das System, welches er jetzt einnahm, nicht verstünde, wahrscheinlich aber wüßte, daß sich sein Status gewandelt hatte.
Seine Vorsichtsmaßnahmen waren wirksam. Nachdem er es so weit geschafft hatte, beschloß Olmy, die verborgenen Räume der Erinnerungsspeicher zu verlassen und seine inneren Nachforschungen in der vierten Kammer fortzusetzen.
Wenn der Jart wieder aufwachte, war die Zeit gekommen, ihn einem größeren Anteil realer menschlicher Existenz auszusetzen.