42. KAPITEL
Hawaii
»Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie hier blieben«, sagte Kanazawa. »Meine Gastlichkeit ist nicht mehr so wie zu Lebzeiten meiner Frau – nur mechanische Hilfe durch meine Konstituenten, aber die Küche versorgt meine Gäste und mich gut.«
»Wir wären hoch erfreut«, sagte Lanier. »Wir brechen am Morgen auf, um Oregon zu besuchen; dann fliegen wir weiter nach Melbourne und nach Hause, Neuseeland… Christchurch. Wir haben nicht viel Zeit.«
Aus der vorderen Terrasse sahen sie, wie die Sonne hinter den Palmen und dem Strand unterging. Sie setzte die Hänge von Barber’s Point mit einem sanfteren Feuer in Brand, als diese Gegend während des Todes erfahren hatte. Ein japanischer Friedhof lag gleich westlich vom Grundstück des Senators hinter einem frisch gestrichenen weißen Lattenzaun. Suli Ram Kikura stand dort mit Karen an der Seite. Sie betrachteten die aus Lava pagodenartig ausgemeißelten Grabsteine und Kreuze.
»Es gibt etwas, das in der alten Axis-City fehlte«, sagte Lanier.
»Was denn?«
»Friedhöfe.«
»Hier sind es viel zu viele«, sagte Kanazawa sofort. »Viele Dinge müssen da oben anders sein – wir haben so enge Bindungen, und verstehen uns doch, wie mir bisweilen scheint, so wenig miteinander. Ich wünsche, ich hätte nicht solche Angst vor Weltraumflügen. Mein einziger war, als wir uns zuletzt begegnet sind. Meine Wochen in der Burleigh haben mich wohl von engen Wohnquartieren geheilt. Ich habe das Schiff verlassen, als wir in Waimanalo anlegten, und mir geschworen, daß ich nie wieder in einer eisernen Röhre sitzen würde. Mein Flug damals nach oben fand unter Beruhigungsmitteln statt.«
Lanier lächelte mitfühlend.
»Du hast mit ihnen gearbeitet. Zum Teufel, Garry, du warst einer der ersten, der ihnen begegnet ist. Sicher verstehst du doch, was sie motiviert.«
»Ich kann es vermuten.«
»Warum gelten wir mit einemmal als schwache Partner, wenn dies die ganze Menschheit angehen könnte?«
»Wir sind schwache Partner, Senator.«
»Nicht so schwach oder naiv, wie sie denken müssen. Wir können vor dem Frühstück viele erstaunliche Dinge fassen.«
»Ich meine, es müßte besser heißen ›an sechs unmögliche Dinge vor dem Frühstück glauben‹.«
»Unmögliche Dinge! Daß wir einen Mann von den Toten zurückgeholt haben, oder beinahe…«
»Solche haben wir massenhaft«, sagte Lanier. »Ich habe sogar mitgeholfen, Leute wieder auferstehen zu lassen. Mirsky ist etwas viel Erstaunlicheres.«
Kanazawa wandte der Dämmerung den Rücken zu. Die Flammen hinter Barber’s Point waren zu purpurnen Traumfarben verblaßt. Die Sonnenuntergänge waren jetzt nicht mehr so eindrucksvoll, wie sie es in den ersten Jahren nach dem Tod gewesen waren. Aber in Hawaii waren sie immer noch prächtig. »Schon gut. Vielleicht sind wir naiv. Akzeptiert sie so etwas?«
»Karen oder Ram Kikura?«
»Ich denke, sie akzeptiert es einerseits und findet es andererseits schwer akzeptabel… Sie stimmt zu, daß wir so handeln müssen, wie Mirsky sagt. Aber sie bedauert tief, daß er zurückgekehrt ist. Sie glaubt, er habe diese ganze Verwirrung ausgelöst, was natürlich stimmt. Aber es wäre auf jeden Fall passiert.«
»Nur auf der ganzen Erde Reden zu halten kann nur Ärger machen, wieviele Leute einem auch Glauben schenken mögen«, sagte Kanazawa. »Wir mögen unsere Retter nicht. Wir bedauern, daß sie uns die Kindheit gestohlen haben.«
»Senator, ich bin nicht sicher, ob ich richtig verstehe. Gewiß hat doch der Tod das getan.«
»Nein. Die Erbauer von Thistledown – sie haben den Tod überlebt, sind aus ihm herausgewachsen und haben eine neue Zivilisation entwickelt. Sie haben ihre eigenen Wunder erfunden, um Überlegenheit gekämpft und ihre Asteroiden-Sternenschiffe gestartet. Wir können das nicht tun. Sie sind zu uns gekommen mit Händen voller Wunder wie Eltern, die Kinder aufziehen. Sie haben uns Mirakel hier und Wunder dort gegeben und manchmal aufgezwungen. Sie haben uns nicht unsere eigenen Fehler machen lassen…«
»Gott sei Dank«, sagte Lanier trocken. »Wir sind so schon schlimm genug aufgedreht.«
»Ja, aber verstehst du, was ich meine?« fragte Kanazawa kläglich. »Meine Konstituenten gingen verloren durch diese Retter. Die Leute halten sie für Engel. Ein Besucher aus den Bezirken oder vom Asteroiden ist noch selten. Sie werden geachtet und gefürchtet. Wir sind auf der Erde hinterwäldlerische Tölpel geblieben.«
»Wenn der Schuh paßt«, sagte Lanier.
»Garry, du bist zynisch geworden.«
»Nicht ohne Grund, Senator«, sagte Lanier mit schiefem Lächeln. »Aber ich verstehe, was du sagst. Wir müssen uns ganz besonders anstrengen. Die Erde kann nicht in Verärgerung, Bitterkeit und Neid leben. Vielleicht brauchen wir eine große Aufgabe wie diese, um hier unten Enthusiasmus zu entfachen.«
»Sie werden nicht verstehen, Garry«, sagte Kanazawa. »Es liegt außerhalb ihrer Erfahrung. Ein Märchen aus dem Stoff, aus dem Mythen gemacht werden. Mythen machen sich nicht gut in der Politik. Du mußt sie tarnen, daß sie wie unten von der Erde wirken.«
Ram Kikura und Karen kamen von dem Zaun zurück. Sie machten beide ein finsteres Gesicht. »Sterblichkeit ist das einzige, was einige von uns trennt«, sagte Kanazawa leise.
Das Abendessen wurde von Robotern serviert. Alle vier saßen um den Tisch herum. Lanier, Karen und Kanazawa fühlten sich etwas beschwipst nach großen Gläsern mit Rum nach des Tages Feierlichkeit und Mühsal. Lanier war seit Jahrzehnten nicht einmal leicht betrunken gewesen. Er fand, daß sich einige Knoten lösten, und betrachtete Karen mit Augen einer distanzierten, jüngeren Persönlichkeit. Sie war wirklich eine attraktive Frau. Wie jung sie auch schien, so hatte sie doch viel von der Weisheit des Alters, und das machte sie noch schöner. Lanier verachtete Jugend nicht, er wollte sich bloß nicht von seinen Zuneigungen beherrschen lassen.
Er dachte, die Zusammenarbeit könnte ein Heilmittel sein, aber sie war nicht so warm zu ihm, wie er ihr gegenüber empfand; und sie benahmen sich, wie es vielleicht ein altes Ehepaar getan hätte, indem sie mehr mit anderen am Tisch sprachen als miteinander.
Ram Kikura zögerte, Rum zu kosten. »Ich habe von Alkohol gehört«, sagte sie vorsichtig. »Ein narkotisches Gift.«
»War Thistledown während seiner Reise etwa trocken?« fragte Kanazawa sie erstaunt.
»Nein, zuerst nicht. Obwohl Alkohol nur eine sekundäre Rolle spielte, war er doch geläufig. Vielleicht kam er auch nur an dritter oder vierter Stelle. Die frühen Reisenden waren mehr interessiert an direkter mentaler Stimulation – ein Problem, das wir von der Erde mitgebracht hatten. Die Stimulationen behandeln Persönlichkeiten raffinierter und sicherer; und wir fanden Mittel zur Behandlung von Leuten, die sich chemischen oder neurologischen Exzessen hingaben… Alkohol war nie ein großes Problem oder auch eine besondere Erfrischung. Weine wurden, soweit ich mich erinnere, kultiviert…«
Sie schien gern eine Chance zu nützen, über Geschichte zu sprechen, besonders wenn es ihre Entscheidung hinsichtlich des Rums verzögerte. »Als aber der Weg gebaut wurde und wir die Jarts zurückgedrängt hatten, begann Handel durch die Schächte. Wir lernten Talsit und andere Substanzen kennen… komplizierte Rauschgifte und Verstärker, nicht zu erwähnen die Nuancen völliger Speicherung. Alkohol und andere chemische Rauschgifte waren wie Maultrommeln«, sie betonte das Wort und freute sich über seine Exotik, »im Vergleich mit einem Sinfonieorchester.«
»Aber primitive Schritte haben immer noch ihren Charme«, sagte Kanazawa.
»Ich mache mich nicht gern zum Narren«, sagte Ram Kikura leise, tauchte einen Finger in das kleine Glas und führte ihn an die Nase. »Ester und Ketone. Sehr stark.«
»Zerstört das Gehirn«, sagte Karen, die schon ziemlich beschwipst war. »Man muß sich bald ein anderes mieten.«
»Alkohol«, fing Ram Kikura an und hielt dann inne, da sie merkte, daß sie zu lehrhaft wurde, »ist auf der Erde immer noch ein Problem. Habe ich recht?«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte Kanazawa. »Und ein Balsam für unsere vielfältigen Wunden.«
»Ich mag nicht die Selbstkontrolle verlieren.«
Karen beugte sich vor und sagte: »Trink es! Es schmeckt wirklich gut. Du mußt nicht alles trinken.«
»Ich weiß, wie es schmeckt. Ich habe im City-Gedächtnis Biochrone gehabt.«
»Biochrone?« fragte Kanazawa.
»Jetzt nicht mehr so beliebt wie früher«, sagte Lanier. »Simulierte volle Lebenseindrücke. Gewöhnlich redigiert. In extremerer Form beseitigen sie die Erkenntnis, daß es sich um eine Simulation handelt. Man lebt ein anderes Leben.«
»Mein Gott!« sagte Kanazawa und machte ein erstauntes und sehr mißbilligendes Gesicht. »Das ist beinahe so, als ob… Ich weiß. Untreu gegen sich selbst.«
Als sie das ethische Dilemma diskutierten, ob biochroner Sex nach älteren irdischen Begriffen gleichbedeutend wäre mit Ehebruch, zog Ram Kikura das Rumglas näher heran. Lanier sah, was sie anlockte. Sie hatte immer einen Hang zur Vergangenheit gehabt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie eine amerikanische Flagge über der Schulter piktographiert, stolz auf ihre alten Ahnen. Hier war ein Stück Vergangenheit, über das sie nur wenige direkte Kenntnisse besaß. Wie sie gehört hatte, waren biochrone Erinnerungen nicht annähernd so lebhaft wie reale. Das konnten sie auch kaum sein ohne außerordentliche Implantate, die größer waren als in Homorphen praktizierbar.
»Na schön«, sagte sie, nahm sich zusammen und ergriff das Glas. »Auf das Menschsein!« Sie machte einen viel größeren Schluck, als Lanier ihr geraten hätte. Ihre Augen weiteten sich, und sie hustete. Karen klopfte ihr nutzlos auf den Rücken.
»O Geist!« krächzte Ram Kikura, als sie halbwegs wieder zu sich gekommen war. »Das lehnt mein Körper ab.«
»Nur langsam!« riet Kanazawa. »Wenn das zu stark ist, habe ich einigen Wein…«
Ram Kikura ignorierte ihre Aufmerksamkeiten, verärgert wegen ihrer Schwäche. Sie wischte Tränen fort und hob das Glas noch einmal.
»Wie waren die Toasts?« fragte sie, immer noch heiser.
»Runter durch die Luke«, schlug Lanier vor.
Ram Kikura nippte bloß. »Macht meine Kehle dicht.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Kanazawa. »Das ist ein sehr guter Rum, der beste auf Oahu.«
»Mindestens drei Stunden alt«, erklärte Lanier. Kanazawa zwinkerte ihm als Senator mißbilligend zu.
Er sagte: »Aus meinem Distrikt.«
»Diese Hälfte der Welt ist Ihr Distrikt. Sicher trinken Sie nicht alles, was Ihre Leute auf Flaschen ziehen«, sagte Karen.
Ram Kikura saß einen Moment lang still und beobachtete die Wirkung. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, daß ich betrunken werde. Meine implantierten Stoffwechselregler verwandeln den Alkohol schneller in Zucker, als ich trinken kann.«
»Wie schade!« sagte Kanazawa.
»Ich könnte sie feiner abstimmen… wenn ich weniger nüchtern in die Situation passe…«
Kanazawa warf Lanier einen bezeichnenden Blick zu. Karen seufzte und sagte: »Du bist ein schwieriges Partygirl, meine Liebe.«
Der Nachthimmel von Hawaii war ein kühles Leuchten, das Lanier an die Gestirnte Nacht von van Gogh erinnerte. Kanazawa brachte einen schwachen Laser-Lichtzeiger auf den Rasen hinter dem Haus. Sie saßen auf dem Gras, aßen brasilianische Schokolade und tranken Aperitifs.
»Dies ist mein ganz privates Planetarium«, sagte der Senator. Er krümmte sich vorsichtig zusammen, streckte einen Fuß vor, fiel beinahe um, hockte sich dann wieder aufs Gesäß und schlug die Beine unter. »Wohl nichts, was sich mit dem wirklichen Aufenthalt im Weltraum vergleichen ließe… Aber ich bin damit zufrieden.«
Er schaltete den Laser ein und hob ihn. In der feuchten Meeresluft schnitt der Strahl einen geraden, glühenden Pfad Hunderte Fuß hoch zu den Sternen empor. Es schien so, als ob er sie einzeln berührte. Er sagte: »Ich kenne alle Sternbilder, die japanischen und chinesischen und die westlichen. Sogar einige babylonische.«
»Das ist wunderschön«, sagte Ram Kikura. Sie hatte ein bißchen des Alkohols erlaubt, auf sie zu wirken. Ihre Augen waren halb geschlossen, und sie schien entspannt, fast schläfrig. »Der Himmel ist mehr… menschlich hier unten. Freundlicher.«
»Ja, das sehe ich«, sagte Karen. Sie und Lanier saßen Rücken an Rücken im Gras. Ihre Köpfe berührten sich. »Aber als ich ein Mädchen war, schien es noch ungeheuer. Erschreckend.«
»Mein eigenes Planetarium«, wiederholte Kanazawa. »Ich kann einfach mit dem Laser zielen, den Strahl bewegen und zusehen, ohne daß jemand es weiß oder sich darum kümmert. Ihre Probleme…« Er ließ den Strahl über den ganzen Himmel zucken, vom wolkenverhangenen Horizont bis zur klaren offenen See, »sind nicht meine Probleme.« Er seufzte höchst theatralisch. »Es ist gut, euch wiederzusehen, Garry, Karen. Und es tut gut, jemanden aus den Bezirken unter weniger offiziellen Umständen kennenzulernen. Zwischen uns liegen solche Distanzen als Eltern und Kinder…«
Karen fragte: »Wer sind die Eltern und wer die Kinder?«
»Ihr seid die Eltern«, sagte Ram Kikura.
»Und auch die Kinder.« Karen stieß mit dem Kopf leicht gegen den von Lanier, und dann heftiger, als ob sie seine Aufmerksamkeit erregen wollte.
»Oh«, sagte er. »Was ist?«
»Nur bumsen, du alter Hundesohn.« Sie kicherte. »Tut mir leid. Rum-Geschwätz.«
»Bums nur weiter!« sagte er.
Ram Kikura hielt die Hände hoch. »Ich möchte jetzt Scharen von Erdenkindern sehen. Gesunde Kinder. Glückliche Kinder. Ich beobachte gern Hexamonkinder durch das Fenster meines Apartments in der Euklid-Achse. Du hast niemals mehr Kinder gehabt, Karen… Warum?«
»Viel zu beschäftigt«, sagte Karen. Sie biß sich in die Oberlippe.
»Wie kann man zu beschäftigt sein, um Kinder zu haben?«
»Auf natürliche Weise oder nach Art des Hexamons?« fragte Karen. Der Schmerz war durch die Zeit abgestumpft, aber sie scheute sich immer noch vor dem Zentrum.
»Ich meine, nach Art des Hexamons«, sagte Ram Kikura. »Mein Sohn Tapi ist ein altmodisches Kind.« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Er wird seine Inkarnationsexamina ablegen und in die Fußstapfen seines Vaters treten… Olmys.«
»Ich habe nie gewußt, daß du einen Sohn hast«, sagte Lanier.
»O doch. Ich bin sehr stolz auf ihn. Aber ich habe ihn nicht in dem alten Sinne geboren. Aber es ist wichtig, Kinder zu haben, wie auch immer du sie bekommst… ob sie im City-Gedächtnis aufgezogen werden oder nicht. Erlaubt, wie Blumen zu wachsen, Fehler zu machen.«
»Und zu sterben«, grübelte Lanier mit geschlossenen Augen. Karen reckte sich, beugte sich vor und brach ihren Kontakt von Rücken zu Rücken. Lanier bedauerte sofort seine Worte.
»Es gibt Friedhöfe auf Thistledown«, sagte er abwehrend und vermied den gezielten Blick von Ram Kikura. »Ich habe sie gesehen. Nischen für Urnen und sogar aufwendige Gräber. Ihre Leute wußten einst, wie der Tod aussah.«
»Tod ist Versagen«, sagte Ram Kikura ärgerlich.
»Tod ist Vollendung«, sagte Lanier.
»Tod ist Vergeudung und Verlust.«
»Ich stimme dem zu«, sagte Karen und stieß ihn wieder deutlich an. »Mehr Leben.«
»Robert!« Lanier zeigte mit dem Finger auf ihn. Dafür richtete Kanazawa den Laserpfeil auf seine Brust.
»Garry! Was?«
»Du entscheidest. Du bist ein natürlicher Mensch. Keine Implantate, lediglich Strahlentherapie. – Du hast sogar deine Narbe behalten…«
»Ein weißer Orden für Mut«, sagte Kanazawa. »Hilft mir, im Dienst zu bleiben.«
»Ist Tod Vollendung oder Vergeudung?«
»Wir sind weit vom Thema des Abends abgekommen, nicht wahr?« fragte Kanazawa.
»Du hast japanische Ahnen. Die sehen den Tod anders an. Ehrenvoller Tod. Tod zur rechten Zeit.«
»Hast du Indianerblut?« fragte ihn Kanazawa.
»Nein.«
»Nun, du siehst so aus, als ob es der Fall sein könnte. Wenn Menschen sterben müssen, haben sie unterschiedliche Ansichten vom Tod. Sie putzen ihn heraus und tanzen mit ihm und stecken ihn in schwarze Gewänder und fürchten ihn. Ich bin in vielen Punkten anderer Meinung als das Hexamon, aber ich bedaure nicht, daß man uns die Wahl läßt. Jene Gräber – die meisten stammen aus der Zeit unmittelbar nach dem Tod. Viele meiner Konstituenten haben beschlossen länger zu leben. Manche hoffen auf ein ewiges Leben. Vielleicht wird es so kommen. Tod ist kein Versagen, er kann sogar Vollendung sein, aber nur so lange, wie er nicht Herr ist.«
»Stimmt«, sagte Karen.
»Hast du beschlossen ewig zu leben?« fragte Lanier.
»Nein«, sagte Kanazawa.
»Warum?«
»Das ist persönlich.«
»Entschuldigung!« sagte Karen. »Das ist kein erfreuliches Thema…«
»Nein. Es ist wichtig«, sagte Kanazawa. »Nicht zu persönlich, um darüber zu reden. Sogar Rum-Geschwätz. Ich kann manche Dinge nicht vergessen. Unerfreuliche Erinnerungen. Ich kann kein Talsit oder Pseudo-Talsit benutzen, selbst wenn ich es bekommen sollte, so schön solche Kuren sind. Diese Erinnerungen sind ein fester Teil von mir und haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Ich kämpfe immer dagegen an, morgens wache ich damit auf. Manchmal verfolgen sie mich den ganzen Tag. Du weißt, worüber ich spreche, nicht wahr, Garry?«
»Amen«, sagte Lanier.
»Wenn ich sterbe, werden diese Erinnerungen fort sein. Auch ich werde fort sein, vielleicht wird an meiner Stelle ein besserer kommen. Möglicherweise wird er die Geschichte kennen, die ich erlebt habe; aber er wird imstande sein, sich darüber zu erheben. Es wird keine Vergeudung geben. Was ich nicht assimilieren kann, wird er oder sie tun.«
»Amen«, wiederholte Lanier flüsternd.
»Wir sind uns einig, daß wir anderer Meinung sind«, sagte Ram Kikura. »Senator, Sie sind ein wundervoller Mensch. Ihr Tod wäre ein Verlust.«
Kanazawa neigte den Kopf, um ihr für das Kompliment zu danken.
Ram Kikura fuhr fort: »Sie wissen, wir können nicht weinen. Wir fühlen viele gleiche Emotionen, aber wir haben… uns nicht darüber erhoben. Sie transzendiert. Wir assimilieren und bleiben wir selbst, aber…« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht gerade denken. Rum-Ideen, Rum-Geschwätz.«
»Wir sind einem tödlichen Schicksal zu nahe, um objektiv einen individuellen Tod zu betrachten«, sagte Kanazawa. »Karen, billigen Sie das Alter Ihres Gatten?«
»Nein«, sagte sie nach einer langen Pause.
»Ich kann mit ihr nicht mithalten«, sagte Lanier mit einem Versuch zu scherzen.
Sie blickte von den Sternen zu dem dunklen Gras hinunter. »Das ist es nicht. Ich will dich nicht verlieren. Ich will mich aber auch nicht opfern, um mit dir Schritt zu halten.«
»Schneid dies Furunkel auf, Doktor!« sagte Lanier.
»Halt den Mund!« Sie rückte wieder von ihm ab und stand auf. »Das ist jetzt ein stupides Gerede.«
»Rum-Geschwätz«, sagte Kanazawa und ließ den Laserstrahl wieder über den Himmel gleiten. »In vino veritas.«
»Das ist edel, das ist menschlich«, sagte Ram Kikura.
Karen lief zum Haus. Lanier stand auf, wischte sich Gras von der Hose und sagte: »Ich denke, ich werde ihr folgen, und dann werden wir schlafen gehen.«
Kanazawa nickte verständnisvoll.
Lanier ging zurück ins Haus, fand das Schlafzimmer und sah von der Tür aus zu, wie Karen sich auszog. Er sagte: »Ich erinnere mich an das erste Mal, wie du mich geliebt hast. Es war bei einem Düsenflug in der Tunnelstrecke.«
Sie machte ein leichtes Geräusch, als sie ihren Büstenhalter aufhakte.
»Ich habe viele Jahre gebraucht, um dich wirklich hochzuschätzen. Erst nach unserer Heirat. Nachdem wir zusammengearbeitet hatten.«
»Bitte, halt den Mund!« sagte Karen, war aber nicht ärgerlich.
Er fuhr fort. »Du bist wie einer meiner Arme gewesen, eines meiner Beine. Ich habe dich als selbstverständlich hingenommen. Ich dachte, du würdest alles machen, was ich tue. Ich habe dich so sehr geliebt daß ich vergaß, daß du nicht ich warst.«
»Es gab viel zu tun.«
»Auch das ist keine Entschuldigung«, sagte er. »Ich glaube, daß auch du mich aus den Augen verloren hast.«
Karen sagte in scharfem Ton: »Du bist nicht der einzige mit schlimmen Erinnerungen. Ich bin zur Erde zurückgekehrt. Erinnerst du dich? Ich habe den Geruch des Todes gespürt. Skelette von Kindern am Wegesrand. Man konnte nicht sagen, ob sie Monate oder Jahre lang dort gelegen hatten, vor dem Tod oder danach, als ihre Eltern sie dort aufgaben, weil sie sie nicht ernähren konnten. Wir konnten nicht rechtzeitig zu allen Leuten kommen. Du bist nicht der einzige mit Erinnerungen!«
»Ich weiß«, sagte Lanier, immer noch an den Türrahmen gelehnt.
»Ich kann damit fertig werden. Ich kann dich noch viel länger lieben. Ich will nicht, daß du von mir fortgehst. Ich hasse diesen Gedanken.«
»Ich weiß.«
»Dann komm zu mir zurück!« sagte sie. »Du kannst wieder jung werden. Wir haben noch Jahrhunderte für uns. Jahrhunderte von Arbeit, die getan werden muß.«
Er sagte: »Das ist nicht meine Art. Ich wünsche, du könntest das akzeptieren.«
»Ich wünsche, du könntest meine… Ängste akzeptieren«, sagte sie.
»Ich will es versuchen. Wir arbeiten jetzt zusammen, Karen.«
Sie schüttelte sich halb und zuckte halb die Achseln, als sie sich auf das Bett setzte. Er blieb an der Tür stehen, immer noch angekleidet. »Was ist mit Mirsky?« fragte sie. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck offenen Erstaunens, glatte Stirn, weit offene Augen, die Lippen wie schmollend gespitzt. »Wird er die Götter zu uns herunterbringen? Ist es das, was er wirklich sagt? Er ist etwas Schreckliches, Garry.«
»Ich bin nicht dieser Meinung.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Alptraum.«
»Eine Vision«, hielt Lanier dagegen. »Laß uns abwarten und sehen!«
»Ich habe Angst«, sagte sie einfach. »Wirst du mir das gestatten?«
Er wußte, wenn er jetzt hinginge und sie zu umarmen suchte, würde sie das nicht annehmen. Sie würde ihn fortstoßen. Aber er glaubte, daß die Zeit wohl kommen würde; und das war für ihn jetzt, noch leicht benommen vom Rum, genug. »Natürlich«, sagte er.
»Ich will schlafen gehen.« Sie legte sich auf dem Gästebett auf den Rücken und zog die Decken hoch.
Er sah ihr einen Moment zu, löschte dann das Licht, wandte sich um und stand allein in der dunklen und stillen Vorhalle. Vom Gras draußen her hörte er, wie sich Kanazawa und Ram Kikura unterhielten.
Kanazawa sagte: »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie heute abend das Bett mit mir teilen würden.«
»Ich bin nicht einmal leicht betrunken, Ser Kanazawa«, sagte Ram Kikura.
»Ich auch nicht.«
Ram Kikura sagte einen Augenblick nichts. Dann: »Es würde mir gefallen.«
Lanier betrachtete seine Frau im Bett und den anheimelnden Komfort des Gästezimmers. Dann schüttelte er den Kopf. Zwischen ihnen gab es noch zu viele Mauern. Er ging zur vorderen Terrasse und legte sich dort auf das gepolsterte Korbsofa, ein altes abgeschabtes Seidenkissen unter dem Kopf.
Am Morgen ging Lanier den Strand entlang, ehe Karen aufwachte. In einem Kilometer Entfernung entdeckte er Ram Kikura, die groß und schlank um eine auslaufende Brandungszunge ging, umkreist von Möwen. Ohne sich ein Zeichen zu geben, gingen sie aufeinander zu, und Ram Kikura lächelte ihn an, als sie zusammentrafen.
»Bin ich eine freche Göre?« fragte sie und machte kehrt, um sich seinem Schritt und seiner Richtung anzupassen.
Lanier erwiderte ihr Lächeln und sagte: »So frech, wie sie eben kommen.«
»In all meinen Jahren als Advokatin der Erde habe ich nie mit einem Alten Eingeborenen geschlafen.«
»War es drollig?« fragte Lanier.
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und sagte: »Manches ist im Grunde deutlich gleich.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, sahen zu, wie Möwen auf dem feuchten Sand vor ihnen hüpften, und vermieden die glatten ausrollenden Wellen. Schließlich sagte sie: »Ser Kanazawa ist wütend. Er ist ärgerlicher, als ich seit langem einen Mann gesehen habe. Er hat das uns allen nicht gezeigt… Er wird eine Sitzung aller Senatoren und Würdenträger der Erde einberufen. Durch mich werden sie die Abstimmung der mens publica fordern. Ich kann stark dafür plädieren, daß die Gesetze der Wiederherstellung nicht für diesen Fall gelten.«
»Werdet ihr gewinnen?« fragte Lanier.
Sie bückte sich, um eine japanische gläserne Netzkugel aufzuheben und fragte: »Ich möchte wissen, wie lange das schon hier gelegen hat. Macht man so etwas jetzt noch?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lanier. »Ich nehme an, ja. Werdet ihr gewinnen?«
»Wahrscheinlich nicht. Das Hexamon ist nicht mehr das, was es früher gewesen ist.« Sie sah sich aus der Nähe die kleinen sternförmigen Blasen an, die in dem grünen Glas schwebten. Sie warf die Kugel wieder in den Sand.
»Der Präsident scheint mit den Gezeiten zu schaukeln«, sagte Lanier. »Er behauptet, sich der Wiederöffnung heftig zu widersetzen.«
»Das tut er. Aber er kann nicht viel tun, wenn der Nexus dafür ist. Und ich fürchte, daß er wie der Kapitän eines in Gefahr befindlichen Schiffes nicht zögern wird, die Erde abzukoppeln, wenn es nötig ist, das zu retten, was vom Hexamon übrig ist.«
»Aber die Jarts…«
»Die haben wir einmal besiegt, ohne darauf vorbereitet zu sein«, sagte Ram Kikura.
»Das klingt stolz und fast bekräftigend.«
Sie runzelte wieder die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ein Advokat muß die Gefühle der Opposition verstehen. Ich bin selbst ebenso wütend wie Kanazawa.« Sie schwenkte die Arme und bückte sich, um ein zerdrücktes Stück einer Plastikflasche aufzuheben. »Was meinen Sie, wie alt dies hier ist?«
Lanier antwortete nicht. Er dachte an Mirsky, überrascht durch die Weigerung des Nexus’, seiner Forderung zu entsprechen. »Welche Chance besteht für eine negative Abstimmung?« fragte er.
»Keine. Ohne eine überzeugte und informierte Erde; und das erscheint in naher Zukunft unmöglich.«
»Warum sind wir dann überhaupt hier? Ich hielt das für eine gute Idee… Ich dachte, wir könnten etwas bewirken.«
Ram Kikura nickte und sagte: »Das werden wir auch. Wir werden uns an ihre verdammten Fersen heften und sie bremsen. Die Flut wird kommen, meinen Sie nicht auch?«
Soweit Lanier sah, kam Ebbe; aber er verstand, was sie sagen wollte.
»Was werden wir in Oregon sagen?« fragte er.
»Dasselbe wie hier.«
Sie machten kehrt und gingen zum Haus zurück. Als sie ankamen, waren auch die anderen auf und zugange, und die Roboter servierten Frühstück. Kanazawa und Ram Kikura waren liebenswürdig und herzlich, aber nichts weiter.
Lanier war in Gedanken vertieft. Ein Ausbruch von jugendlichem Enthusiasmus war gedämpft worden. Er war traurig, glaubte aber, daß er noch immer jung und töricht sein könnte. Er konnte immer noch für aussichtslose Fälle kämpfen. Irgendwie fühlte er sich dadurch sogar noch lebendiger und entschlossener. Außerdem fürchtete er, daß Mirsky – oder die Wesen am Ende der Zeit – weit mächtiger sein könnten als sogar das Hexamon.
Sie packten ihr weniges Gepäck. Ram Kikura und Karen sprachen mit Kanazawa, während Lanier die kleinen Taschen zum Shuttle brachte. Als er in die Tür des Shuttles trat, ließ der automatische Pilot vor ihm ein rotes Zeichen aufblitzen.
»Bitte, sprich Englisch!« sagte Lanier leicht irritiert.
Der Pilot sagte: »Unser Flug ist aufgehalten worden. Wir müssen hierbleiben, bis Bezirkspolizei eintrifft.«
Lanier setzte verblüfft die Taschen ab. »Bezirkspolizei? Keine Terrestrische Polizei?«
Der Pilot antwortete nicht. Die Innenbeleuchtung wurde schwächer. Der weiße Innenraum zeigte ein inaktives Blau.
Lanier fragte: »Funktionierst du noch?« Es kamen keine weiteren Antworten. Er sah sich im dunklen Innenraum um und öffnete und ballte die Fäuste. Dann ging er von der Tür hinunter, das Gesicht rot vor Wut, und traf auf Karen.
»Ich glaube, man hat uns abgefangen«, sagte er. Ram Kikura und Kanazawa traten aus dem Haus.
»Probleme?« fragte der Senator.
»Bezirkspolizei kommt«, sagte Lanier.
Kanazawa machte ein böses Gesicht. »Nicht, sofern ich etwas dabei zu sagen habe.«
»Wahrscheinlich ist das nicht der Fall«, sagte Ram Kikura. Kanazawa starrte sie an, als ob sie ihm einen Schlag versetzt hätte. »Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, Garry. Wie hast du…?«
Karen blickte aufs Meer hinaus. Jenseits von Baber’s Point kamen drei Flugzeuge auf sie zu, die sich blendend weiß von den geballten grauen Wolken des frühen Morgens abhoben. Sie kippten und kamen auf das Haus zu, wurden langsamer und schwebten auf der Stelle, wobei sie Kies und Erde von der Straße und dem Hofe des Senators aufwirbelten.
»Ser Lanier«, dröhnte eine Stimme von dem Flugzeug über ihnen herab. »Bitte antworten.«
»Ich bin Garry Lanier.« Er trat etwas von den anderen fort.
»Ser Lanier, Sie und Ihre Frau müssen sofort nach Neuseeland zurückkehren. Alle Alten Eingeborenen werden in ihre Heimatländer zurückbeordert.«
Ram Kikura trat neben ihn. »Auf wessen Befehl und aufgrund welchen Gesetzes?« Sie senkte die Stimme. »Es gibt keine solchen Gesetze«, murmelte sie.
»Durch die Revidierte Wiederherstellungsverordnung. Direkte Autorität des Präsidenten. Bitte, besteigen Sie Ihr Shuttle. Dessen Flugpläne sind geändert worden.«
»Geh nicht!« sagte Kanazawa. Er sah zu den drei Flugzeugen auf und hob die Faust. »Ich bin Senator! Ich verlange eine Begegnung mit dem Präsidenten und dem Premierminister!«
Das schwebende Flugzeug antwortete nicht.
»Sie werden nicht in das Shuttle gehen«, sagte Ram Kikura. »Wir bleiben alle hier. Sie werden es nicht wagen, physische Gewalt anzuwenden.«
»Garry, sie sagen, daß alle Alten Eingeborenen zurückgeholt werden. Sogar die mit ständigem Wohnsitz auf den orbitalen Körpern?« Karens Gesicht sah aus wie das eines schrecklich enttäuschten, ungläubigen Kindes.
»Ich weiß nicht«, sagte Lanier. »Senator, wir können in unserem eigenen Lande mehr ausrichten… falls wir nicht unter Hausarrest gestellt werden… In diesem Falle ist es gleichgültig, wo wir sind.« Er wandte sich an Ram Kikura. »Ich nehme an, Sie wollen nach Thistledown zurückkehren.«
»Nehmen Sie nichts an!« sagte sie knapp. »Alle Regeln sind außer Kraft. Ich habe dies bestimmt nicht erwartet.«
Karen sagte mit rotem Gesicht: »Sie tun es. Und sie legen es wirklich auf einen Kampf an.«
Das bezweifle ich, dachte Lanier. Der Kampf findet wohl gerade hier und jetzt statt. Sie fühlen sich genötigt, ein schmutziges Spiel zu treiben.
Die drei Flugzeuge behielten unerbittlich ihre Position bei. Ein leichter Regen setzte ein. Ram Kikura wischte sich feuchtes Haar aus dem Gesicht. »Wir sollten nicht einfach hier stehen wie ungehorsame Kinder«, sagte Lanier. »Senator, ich danke, daß Sie uns angehört haben. Wenn wir wieder sprechen können, werde ich…«
»Bitte, steigen Sie jetzt in Ihr Shuttle!« dröhnte die Stimme.
Lanier ergriff die Hand seiner Frau. Zu Kanazawa und Ram Kikura sagte er Lebewohl. »Viel Glück! Lassen Sie Korzenowski und Olmy wissen, was hier geschehen ist.«
Ram Kikura nickte.
Sie stiegen ein, und die Tür schloß sich hinter ihnen.