20. KAPITEL
Gaia, Alexandreia, Kap Lochias
Am Abend nach ihrer Zusammenkunft speiste Rhita mit der Königin Stör, Linsen und Obst in der Halle von Ptolemaios dem Wächter. Sie saßen an einem Marmortisch mit je einem Diener hinter sich und sahen zu, wie über der Brustwehr die Sonne über der alten Hauptstadt unterging.
Kleopatra erläuterte die ungewöhnliche Speisenfolge, wenn jeder Gang serviert wurde. »Dies ist königlicher Fisch, aus Parsa frisch eingeflogen, ein über jedes Lob erhabener Fisch, garniert mit dem eigenen Rogen. Die Linsen sind eine gewöhnliche Speise, grob und gesund, serviert mit ungesäuertem Brot aus gebleichtem Mais vom südlichen Kontinent. Das Obst ist Gaias Gabe für Reiche und Arme – für uns alle. Ich möchte, daß alle gewöhnlichen Leute ebensogut speisen könnten wie ihre Herrscher.« Während des Essens diskutierten sie nicht das Tor oder sonst etwas von unmittelbarer Bedeutung. »Wir haben genug interessante Entscheidungen getroffen«, erklärte Kleopatra.
Nach dem Essen führte ein dürrer, weißhaariger Kammerdiener Rhita in ein fensterloses Zimmer tief in den alten, kühlen Etagen der königlichen Residenz im Nordflügel des Palastes.
»Vertraust du ihm?« fragte der Diener sie noch vor der Tür und zeigte mit dem Finger auf Lugotorix.
»Ja«, sagte Rhita.
Der Kammerdiener betrachtete ihn genau mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn du es sagst.« Er winkte mit der Hand, und ein Bediensteter am Ende der Halle kam heran. Einige auf Aigyptisch gemurmelte Worte, die Rhita nicht verstand, ließen diesen bis ans Ende des Gangs laufen. Einen Augenblick danach, während alle drei noch in unbehaglichem Schweigen dastanden, brachte ein mürrischer, stämmiger alter Mann ein judaisches Maschinengewehr und eine schußsichere Weste.
»Dies ist der Waffenmeister des Palastes«, erklärte der Hofbeamte. Er nahm dem Waffenmeister das Gerät ab und händigte es dem Kelten aus, der es mit offener Bewunderung annahm. Dann befahl der Kammerherr dem Waffenmeister, den Kelten in dessen Gebrauch einzuweisen, was dieser auf hellenisch mit parisianischem Akzent tat.
»Du trägst eine Panzerweste und sie nicht«, erklärte der Waffenmeister, »weil du immer zwischen ihr und einem Mörder stehen mußt. Verstanden?« Der Kelte nickte grimmig.
Auf einen anderen Wink des Hofbeamten hin stapften zwei massige Aithiopier aus dem Ende der Halle auf sie zu. Der Kelte erhob instinktiv seine neue Waffe, aber der Kammerherr klopfte mißbilligend an deren Lauf und schüttelte den Kopf. Er erklärte: »Eine Zeremonie. Du wirst in die Palastwache aufgenommen.«
Der Kelte wurde auf der Stelle initiiert in einem kurzen Ritual, wobei er mit den Aithiopiern Blut austauschte. Nach seiner erstaunten Miene zu urteilen, war er höchst beeindruckt. Rhita war weniger begeistert. Sie war erschöpft und wunderte sich im stillen, warum sie bei all dem dabei sein mußte.
In den Gang wurde eine Liege gebracht und dicht bei der Tür ihres Schlafzimmers abgestellt. Dann winkte der Kammerherr dem Waffenmeister und den Aithiopiern, und sie verschwanden.
»Wirst du es hier bequem haben?« fragte Rhita Lugotorix, der in der Türöffnung stand. Er klopfte mit gespreizten Fingern einer gewaltigen Hand auf die Liege und zuckte die Achseln.
»Es ist zu weich, Herrin, wird mir aber nicht schaden.«
»Was hältst du von all diesem?« fragte sie mit leiserer Stimme.
Der Kelte überlegte kurz mit zusammengezogenen starken dunkelblonden Augenbrauen. »Werde ich mit dir gehen oder hier bleiben?«
»Ich hoffe, daß du mit mir kommst.«
»Dann ist es in Ordnung.« Er hatte offenbar keine Lust, weitere Bemerkungen zu machen. Rhita schloß ihre Tür und ging im Zimmer umher. Sie war bemüht, sich nicht eingesperrt zu fühlen. Die prächtigen Fresken über einer Holztäfelung ließen den Raum nur wenig größer erscheinen. Sie stellten eine Jagd auf Krokodile und Nilpferde am Mareotis-See dar und waren ohne Zweifel sehr alt – vielleicht zweitausend Jahre. Ihre Perspektive war primitiv. Rhita vermutete, daß sie es besser können würde, obwohl sie nie eine gute Schülerin beim Zeichnen gewesen war.
Nachdem sie das erlesene Mobiliar besichtigt hatte – Ebenholz und Elfenbein und hochpoliertes Silber und Messing –, legte sie sich auf die Federmatratze und starrte auf den seidenen Vorhang, der von der Decke hing.
Was, zur Hölle, tu ich eigentlich?
Mit vor Erschöpfung und Angst klappernden Zähnen erinnerte sich Rhita, daß sie noch nicht auf die Tafel geschaut hatte, ob da eine Mitteilung für sie heute war. Sie nahm die Tafel aus ihrem Behältnis und stellte den Schirm an.
Meine liebe Enkelin,
Falls du die Königin getroffen hast, weißt du, daß sie eine sehr kluge Frau ist, zäh und durchaus imstande, sich in einer unruhigen Oikoumene zu behaupten. Aber sie ist auch eine Frau, die bald sterben wird – vielleicht politisch, ehe ihr Körper versagt. Die Oikoumene wird bald von aristokratischen Administratoren regiert werden, von Menschen, für die Politik eine exakte und klar umrissene Wissenschaft ist. Diese sind ihr bereits gram wegen ihrer Intuitionen und unvorhersehbaren Entscheidungen. Das ist es, warum das Tor gefunden werden und untersucht werden muß, ehe sie stirbt oder indisponiert ist. Sie ist unsere letzte Chance. Kein vernünftiger Politiker würde eine solche Expedition zulassen. Sowieso würde kein vernünftiger Mensch an die Existenz von so etwas wie einem Tor glauben. Kleopatra glaubt daran, weil es ihr eine dringend notwendige Erregung gibt, einen Sinn für größere Dinge in einem Leben, das auf täglich wechselnde Krisen gerichtet ist. Ich habe sie einmal enttäuscht, glaube aber, daß sie immer noch das Bedürfnis spürt. Auf jeden Fall, sei unserer Königin gegenüber nicht anmaßend! Pflege deine angeborene Vorsicht. Und hüte dich vor den Verlockungen des Palastes! Es ist ein gefährlicher Ort. Kleopatra lebt hier wie ein Skorpion unter Schlangen.
Rhita dachte an den Kammernherrn, den Waffenmeister, die aithiopischen Wächter und die Zeremonie, bei der sie Zeugin sein mußte. Irgendwie schien das alles etwas sinnvoller. Sie stellte die Tafel ab und war der Sophe für ihre Voraussicht – und Einsicht – dankbar. Aber ihre Zähne klapperten immer noch, und es war schwer, Schlaf zu finden.
Die Vorbereitungen für die Expedition zu dem Gebiet in der Nordischen Rus begannen am nächsten Morgen insgeheim. Das Tempo der folgenden beiden Tage war atemberaubend. Die Königin und ihre Ratgeber schienen gegen die Zeit zu rennen, um fertig zu werden; und Rhita wurde bald in den Grund für diese Eile und Diskretion eingeweiht.
Kleopatra hatte einst vor Dekaden fast alles kontrolliert, was in der Oikoumene mit Erkundung und Forschung zu tun hatte. Sie hatte dieses königliche Vorrecht schon in der Jugend beansprucht, noch ehe der Einfluß des Rates geschwunden war und sie dabei immer mehr Macht für die Ptolemäische Dynastie gegenüber der Aristokratie von Alexandreia und Kanopus gewonnen hatte.
»Deine Großmutter ist mich teuer zu stehen gekommen, als ihre Tore in Bewegung kamen und verschwanden«, sagte Kleopatra mit schiefem Lächeln. Sie erschauerte und wischte die Vergangenheit mit der Hand weg. »Aber die Aristoi sind jetzt inzwischen in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Revolten von Bauern und Landeignern, mangelnde Einberufungen bei der Kypros-Krise… Sie haben sich in den letzten Monaten zurückgezogen und mich den Fall übernehmen lassen. Das gibt mir etwas Luft zum Atmen. Wenn ich heimlich atme. Geheimnisse halten sich nicht lange in Alexandreia. Ich muß diese Expedition binnen fünf oder sechs Tagen ausgerüstet und auf den Weg gebracht haben, sonst könnte sein, daß mir der Anwalt des Königlichen Rates Einhalt gebietet.«
Kleopatra machte sie mit einem vertrauenswürdigen Berater bekannt, Oresias, einem Forschungsreisenden und Experten für die Nordische Rus, der ihr leidenschaftlich treu ergeben war. Er war groß und schlank, von etwas vorgerücktem Alter, stark, einem Adler ähnlich und hatte weißes Haar. Vor Jahrhunderten hätte er einer der Generäle von Alexandros sein können. Mit seiner Hilfe stellte Rhita eilends eine Liste von Vorräten und Leuten auf, die für die Expedition gebraucht wurden. Es war etwas mehr als eine Laune, daß sie den Namen von Demetrios einfügte, obwohl sie einander noch gar nicht begegnet waren. Sie gedachte, sich an der Gesellschaft eines anderen Mathematikers zu erfreuen.
Oresias besprach sich mit einem zweiten vertrauenswürdigen Berater, Jamal Atta, einem kleinen schwarzhaarigen Mann, General der Überseeischen Sicherheitskräfte der Oikoumene im Ruhestand. Er war der Abstammung nach Berber, pflegte aber den Stil eines altpersischen Soldaten. Gemeinsam erwogen sie die Schwierigkeiten und Gefahren, die beim Eindringen in feindliches Gebiet zu erwarten waren.
Rhita sah der langen Reise in die Nordische Rus mit einiger Besorgnis entgegen. Als Oresias ihr die Pläne auf einem Kartentisch im königlichen Spielsalon darlegte und mit einem durch Narben entstellten Zeigefinger die aussichtsreichsten Routen entlangfuhr, fragte sie sich, was wohl die wahren Motivierungen der Königin wären. Hatte Patrikia die Absichten Kleopatras richtig verstanden?
Die Expedition würde politisch riskant sein. Sie müßten Entdeckungen durch die Hochfrequenztürme der Nordischen Rus vermeiden, welche entlang der Südgrenzen von Baktra bis Magyar Pontos stationiert waren. Die unabhängigen, mit der Rus verbündeten Republiken der Hunnen und Uiguren lagen auch auf der Strecke. Diese waren beide berühmt als wilde und erbarmungslose Krieger. Eindringen könnte als Rechtfertigung für Gegenoffensiven angesehen werden oder sogar zu kleinen Grenzkriegen führen. Jamal Atta erwähnte diese Möglichkeiten beiläufig als einfache Bemerkungen zu Oresias’ Plänen.
Als Transportmittel würden der Expedition joudaische ›Bienen‹ dienen, große Hubschrauber, die von syrischen Rückstoßturbinen angetrieben wurden. Atta breitete eine Handvoll Bilder dieser Vehikel aus mit langen und breiten rotierenden Blättern oben und Baldachinen vorn, die wie die Augen von Insekten aussahen.
»Ich kann nicht sagen, wie zuverlässig sie sind«, sagte Atta mit seiner tiefen, froschartigen Stimme. Sein Gesicht war noch länger und finsterer als gewöhnlich. »Wir können zwei davon von der Geheimpolizei des Palastes bekommen. Sie haben eine Reichweite von fünfhundert Parasangen. Eine Parasange mißt ungefähr dreihundert Fadenlängen der Oikoumene.«
Rhita sagte, daß ihr militärische und persische Maße bekannt wären. Atta hob eine Braue, zog die Lippen zusammen und fuhr fort: »Waffen können wir massenhaft bekommen. Die Schwarzmärkte blühen im Delta, falls wir sie nicht aus dem Zeughaus des Palastes oder den Waffenfabriken in Memphis beziehen. Ich muß aber Antwort auf die Frage haben, warum wir losziehen. Was haben wir vor, wenn wir das finden, wonach wir suchen?« Sowohl Atta wie Aresias waren einige Details mitgeteilt worden, aber nicht alle, über das unwahrscheinliche Ding, nach dem sie suchen würden.
Rhita starrte auf die Pläne, die auf dem Tisch ausgebreitet waren, und sagte: »Wir werden versuchen, in das Tor einzutreten.«
»Wohin wird diese Tür uns führen?«
»Zu einem Ort, genannt der Weg.« Sie beschrieb ihn; aber Attas Augen trübten sich bald, und er hob die Hand.
»Wenn wir dort leben können, dann können dort auch andere leben. Werden die uns Widerstand leisten?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Rhita. »Vielleicht werden sie uns willkommen heißen.«
»Wer sind sie?«
»Die Leute, die auch den Weg gemacht haben. Vielleicht.«
Atta schüttelte zweifelnd den Kopf. »Alles, was jemand besitzt, schützt er vor Eindringlingen. Das alles klingt gefährlich und schlecht überlegt. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich mit einer Armee konfrontiert wäre.«
Oresias, der an der Seite saß, meinte: »Eine Armee kommt sicher nicht in Betracht. Wenn diese junge Frau sich anschickt zu gehen, kann ein alter Strategos da ablehnen?«
Atta hielt die gespreizten Hände hoch. »Du hast verdammt recht, daß ich das kann. Aber ihre Kaiserliche Hypselotes befiehlt.« Er richtete seine müden Augen wieder auf Rhita. »Was für eine Art von Waffen könnten sie haben?«
»Nichts, gegen das wir uns verteidigen könnten«, sagte Rhita.
»Was heißt das?«
»Nach dem, was mir meine Großmutter erzählt hat, haben sie Waffen, von deren Herstellung wir in hundert oder tausend Jahren träumen könnten.«
»Was sind sie denn? Götter?« fragte Atta mit einem düsteren Anklang in seiner Stimme.
»Ja, ein alter Bauer hier könnte sie für Götter halten«, sagte Rhita. Sie errötete leicht, als ihr bewußt wurde, daß sie die Taktik einer Königin gegenüber dem Strategos gebraucht hatte.
Atta fragte: »Was ist mit einem alten Mann, der hofft von seiner Pension zu leben? Der alles gesehen hat, was diese Welt zu bieten hat, von den Wäldern Nea Karchedons bis zum Boden von Afrika?«
»Du hast nichts gesehen wie den Weg«, erwiderte Rhita und starrte ihn unverwandt an. Atta wollte sich dieser Prüfung nicht stellen und wandte sich lässig an Oresias.
»Wundervoll!« sagte er. »Ihre Kaiserliche Hypselotes wünscht, daß wir unsere Tage im Dienst beenden, indem wir von Ungeheuern gefressen oder von Göttern zu Asche verbrannt werden.«
»Oder Freunden begegnen«, sagte Rhita, die sich jetzt über den Zynismus des Strategos’ ärgerte. »Freunde, die der Oikoumene wieder zu ihren alten ruhmreichen Tagen verhelfen werden.«
»Ein Schatz jenseits des Rachens des Monsters«, sagte Oresias.
»Bemüht Euch, konkreter hinsichtlich deren Stärken und Schwächen zu sein… falls sie überhaupt Schwächen haben«, drängte Atta sie sanft. »Wir haben nur noch ein paar Stunden, bis wir anfangen, alles zusammenzusetzen. Helft einem alten Esel, eine schwerere Last zu tragen!«
»Ich habe diese Dinge nie gesehen. Man hat mir nur davon erzählt«, sagte Rhita, die plötzlich wieder Angst hatte.
»Versuche, dich zu erinnern!« sagte Atta seufzend. »Jeder Fetzen kann nur hilfreich sein.«