19. KAPITEL
Thistledown, Fünfte Kammer
Nach einunddreißig Tagen der Nachforschung war Olmy zu einer Entscheidung gekommen. Die Jart-Mentalität konnte an ihrem derzeitigen Orte nicht sicher untersucht werden. Er wußte zu wenig über das System, in dem sie gespeichert war, während der Jart offenbar alles kannte.
Er stand in dem zweiten Raum. Seine Kaumuskeln arbeiteten. Das von der Mentalität gebotene Bild hatte sich während der ganzen Zeit, da er es studiert hatte, nicht merklich verändert. Ruhig, zeitlos. Bestimmt, bald wiedergeboren zu werden und vielleicht zu versuchen, seinen höheren Zweck noch einmal anzugehen…
Olmy hatte sich nie in eine Lage gebracht, in der sein inneres Wesen verletzt werden konnte. Er hatte sich sogar gescheut, Persönlichkeiten mit Liebhaberinnen und Freunden zu vermischen – etwas, das in den ungestümen Tagen der Jartkriege nicht ungewöhnlich war. Immer wenn er sich an Unterhaltungen im Stadtgedächtnis beteiligt hatte, hatte er sein Selbst dicht eingekapselt.
Er fand diese Schwäche so amüsant wie ein jeder; aber er hatte diese Regel einmal verletzt, nämlich damals, als er Korzenowskis wieder zusammengesetzte Partikel in seine implantierten Erinnerungen gespeichert hatte. Korzenowskis zerstreute Mentalität war aber nur dicht daran gewesen, nur an seiner äußeren Gedankenschicht teilzuhaben und nicht tiefer einzudringen.
In gewisser Weise verabscheute er große Intimität. Er schätzte seine Einzigartigkeit. Er hatte sich nie zu der alten dichterischen Maxime bekannt, daß Alleinsein eine schlechte Gesellschaft bedeutete. Olmy war völlig klar, weshalb er keine Intimität mochte. Er wollte sich selbst nicht total kennenlernen und wollte auch nicht, daß ein anderer ihn kennenlernte. Er hatte keinen Genuß daran, seine Mentalität zu ergründen, wie andere es taten.
Um aber den Jart kennenzulernen, wäre es am besten, ihn in einem isolierten Implantat bei sich zu speichern. Er konnte keiner Vorrichtung vertrauen, daß sie den Erkundungen des Jarts widerstehen würde. In seinem Innern würde er die gespeicherte Mentalität ständig überwachen und sie sogar von einem System in ein anderes verlegen können. Er hatte drei große Gedächtnisimplantate, von denen das eine nur fünfzig Jahre alt war, während die zwei zusätzlichen installiert worden waren, um später die Partiale des Ingenieurs aufzunehmen, alles Talsit-Konstruktionen. Jedes konnte beliebig modifiziert, isoliert und von außen geprüft werden mit wenig oder gar keiner Chance, daß irgend etwas von dem, was da gespeichert war, unwillentlich preisgegeben würde.
Der Plan war schon immer unausweichlich gewesen.
Olmy hatte nur das vermieden, was auf der Hand lag.
Wieviel war er gewillt, für das Terrestrische Hexamon zu opfern? Seine Mentalität, seine Seele? Wenn der Jart es irgendwie schaffte, seinen Weg durch alle inneren Barrieren zu ätzen, ihn zu überlisten und auszumanövrieren, dann würde noch mehr als das verloren sein.
Der Jart hatte zugelassen, daß man ihn fing.
Er war ein trojanisches Pferd.
Dessen war er sich sicher.
Und er war dabei, dies Pferd in die Mauern seiner eigenen kostbaren Zitadelle, seines Geistes, zu lassen.
Falls seine Sicherheitsmaßnahmen versagten, könnte der Jart das tun, was er vermutlich schon die ganze Zeit vorgehabt hatte. Er könnte ein Spion werden, ein Saboteur in Menschengestalt, innerhalb des Hexamons. Er könnte alle Erinnerungen kontrollieren und im schlimmsten denkbaren Fall seine versklavte Persönlichkeit überzeugen, daß sie aus ganz freiem Willen handelte.
Hormonale Implantate hielten die chemischen Prozesse seines Körpers relativ im Gleichgewicht, aber der scharfe Stich von Angst war immer noch deutlich. Olmy war über das Gelingen seiner Pläne noch nie so im unklaren gewesen.
Er begab sich in den ersten Raum zurück, wo Beni gestorben war, und öffnete einen kleinen Werkzeugkasten. Auf der Ausgabevorrichtung des Paneels befestigte er ein Datenventil. Er zog mehrere Leitungen aus der runden Oberfläche des Ventils und befestigte sie an dem gekrümmten Band, das sich eng um seine Schädelbasis winden würde.
Die Speicherung würde Stunden währen können. Die Geräte hier waren alt. Das Ventil würde jede ungeregelte Flut von Information verhindern.
Er sagte sich: Du bist dabei, eine Bombe zu werden. Ein wirklich sehr gefährliches Scheusal.
Im Raum herrschte Stille bis auf das schwache Summen des Ventils. Er dachte an die Landschaft der fünften Kammer, sechs Kilometer über ihm, und die Masse von Thistledown, die sie allseitig umgab, und die noch älter war als diese Geräte. Eine Last von Historie und Verantwortung, die er den größten Teil seines Lebens getragen hatte.
Falls er jetzt sofort stürbe, getötet durch diesen stürmischen Prozeß oder eine unerwartete Unregelmäßigkeit in seinem Körper – selten, aber nicht unbekannt –, wußte er, daß er seine Pflicht gegenüber dem Hexamon mehr als überreich getan hatte. Er würde es nicht bedauern, wenn er einfach aufhörte zu existieren. Und vielleicht würde Korzenowski oder sonst jemand das Hexamon durch diese gefährlichen Zeiten führen.
Er prüfte noch einmal die Drähte. Alle Kontakte stimmten. Zuerst mußte er aber einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er installierte ein starkes Traktionsfeld nahe der Tür und legte zwei kleine Knoten an jede Seite. Diese würden aus der verborgenen Energiequelle des Raumes gespeist werden. Falls er nur einen entfernten Knopf drückte oder einen scharfen Pfiff ausstieß, oder in schnellem Code mit den Augen zwinkerte, würde das Feld aktiviert werden… Und es gab keine Möglichkeit, es auszuschalten oder die Knoten zu schädigen, da sie in ihrem eigenen Feld liegen würden.
Er würde nicht entweichen können. Nichts in ihm würde entkommen. Es wäre ein Grab für sie beide.
Nötigenfalls würde Olmy mehrere Wochen lang in dem Raum bleiben und darauf warten, ob der Prozeß erfolgreich wäre. Er hatte für sich andere Fallen aufgestellt – in Alexandria, in der fünften Kammer nahe dem Bahnhof und in der dritten Kammer. Falls bei diesem kleinen Sanktuarium sonst etwas schiefgehen sollte, müßte er sich nur zu einer dieser Fallen durchschlagen, Strahlungsfelder aktivieren und abwarten, bis er sterben – oder entdeckt würde.
Niemand wußte von diesen Fallen. Niemand kannte seine Pläne…
Und dann gab es noch die Fallen in seinem eigenen Geist… Mentale Stolperdrähte, die von dem gleichen innerlich gespeicherten Partial kontrolliert wurden, das die Mentalität des Jarts überwachen sollte.
Falls er merken würde, daß er alle Kontrolle verlöre und es nicht bis zu einer Falle schaffen könnte, würde ein Fehler bei diesen Stolperdrähten in seiner Brust einen kleinen Sprengsatz zünden.
Er stellte zufrieden fest, daß alles in Ordnung war, verband die Drähte und setzte sich im Lotussitz auf den Boden vor das Paneel. Dann holte er eine kleine Flasche flüssiger Nahrung aus seinem Behälter, hob sie zutoastend in die Luft, und sagte: »Beni, Mar Kellen, namenlose Forscher. Stern Schicksal und Pneuma seien euch allen wohlgesonnen!« Er trank die Flasche aus und legte sie beiseite.
Dann griff er nach oben und berührte das Ventil.
Der Transfer setzte ein.