55. KAPITEL


Thistledown

 

Die siebente Kammer lag im Schatten, von Sonne, Erde und Mond abgewandt, und zeigte zu den Sternen. Ihre glattgeschnittenen Kanten, ihre riesige runde Höhlung, von Abfall gereinigt, waren ein schwächeres und leeres Schwarz. Nur vier Gruppen von Lichtern schienen auf ihrem Umfang, und wechselhaftes Aufleuchten von Überwachungsteams, die letzte Ausrichtungen vornahmen.

Die Blase, die auf dem Bohrloch saß, enthielt jetzt ein Kontingent von VIPs und Gästen. Die offiziellen Historiker des Hexamons, eine Gruppe, die Korzenowski durchaus bekannt war; Wissenschaftler und Techniker, die die Wartungsarbeiten übernehmen würden, sobald der Weg wieder angeschlossen und geöffnet wäre; der Präsident und der Premierminister, der Direktor von Thistledown; Judith Hoffman.

Olmy, der erheblich besser aussah.

Sie alle hingen ruhig und erwartungsvoll in den matten Linien von Traktionsfeldern wie Spinnen.

Eine so aufwendige Zeremonie, als wäre es die reale Wiederöffnung, dachte Korzenowski und bewegte sich mit seinem ausgestreckten Schlüsselbein zum Zentrum der Kuppel. Das hatte er vor Jahrhunderten schon einmal getan, als er den Weg zum ersten Mal nach seiner Erschaffung öffnete und das Hexamon auf einen weit schwierigeren und endgültigeren Kurs brachte, als damals jemand befürchtet hatte.

Er hatte sich noch nicht endgültig entschieden, ob er Olmys Signal übertragen würde. Freundschaft, sogar persönliche Verpflichtung, war nichts, das gegen ein so bedeutsames Ereignis wie dieses aufgewogen werden konnte… Die Gedanken von Einzelpersonen wurden durch seine größeren Verantwortlichkeiten zwergenhaft klein.

Und dennoch hatte Olmy in seinem Leben niemals etwas getan, das nicht für das Hexamon gut gewesen wäre. Es gab keine heroischere und hingebungsvollere Person.

Korzenowski verankerte sich in das Traktionsfeld im Zentrum der Blase und schwenkte das Kontroll-Schlüsselbein langsam in Stellung. Die Knoten, welche die siebente Kammer umgaben, waren an dieses Gerät gekoppelt. Er hatte alle Fähigkeiten und die gesamte Energie der Maschinerie der sechsten Kammer zu seiner Verfügung. Hinter ihm lagen Monate der Vorbereitung und Tests. Seine Hände auf dem Schlüsselbein waren sicher; sein Geist war klarer und schärfer ausgerichtet als seit Jahren.

Die Zeit war gekommen. Um ihn herum wurden die Besucher still und hörten auf zu piktographieren.

Korzenowski schloß die Augen und ließ das Schlüsselbein zu sich sprechen. Thistledowns Superspace-Sonden – kaum mehr als mathematische Abstraktionen, denen von der Maschinerie der sechsten Kammer zeitweilig Realität verliehen wurde – breiteten sich nach innen und außen aus und in Richtungen, denen menschliche Gehirne ohne Hilfe nicht folgen konnten.

Quer durch die Schmiere nahe verwandter Halbrealitäten, die dieses Universum umgaben, durch die vielgestaltige fünfte Dimension, welche die großen Universen und ihre unterschiedlichen Weltlinien trennte, gingen die Sonden auf Suche nach etwas Künstlichem, etwas, das anders war als das präzise organisierte Chaos der Natur. Sie gaben ihre Resultate zurück an das Schlüsselbein und zu Korzenowski. Der sah sein Gewebe aus großen Universen, die sich rund herum und sogar durcheinander drehten, zusammentreffend und sich trennend und fast immer sich ausbreitend, wobei ihre Distanzen in der fünften Dimension zunahmen.

Er erlebte eine gewisse Ekstase. Der Teil von ihm, welcher Patricia Vasquez war, verhielt sich wie die ruhige Oberfläche eines tiefen Ozeans, der Regen aufnimmt – ohne zu reagieren, bloß empfangend und ihn gewähren lassend, um an seiner außergewöhnlichen Technologie zu arbeiten.

Für einen zeitlosen Augenblick verschmolzen Korzenowskis Sinne mit dem Schlüsselbein, und er verstand mit einer zugleich vergänglichen und transzendierenden Klarheit alle Geheimnisse dieses begrenzten fünfdimensionalen Querschnitts. Er befand sich in dem Zustand, den er nur wenige Male in seiner Vergangenheit erlebt hatte. Theoretische Spitzfindigkeiten hinsichtlich der Natur des Superraumes bedeuteten weniger als nichts. Er wußte es.

In jedem Raum jenseits von Worten und Erfahrung fand er eine Anomalie. Unendlich lang, seltsam geringelt

sie sieht aus wie ein Wurm.

an einer Anzahl von Punkten, welche Stellen tiefer Konfusion waren, bekannt als die Geometrie-Stapel; eigenartig verwickelt innerhalb der Grenzen eines Universums, seines eigenen. Sie erstreckten sich wie eine lineare Flamme bis in eine leere und unbestimmte Dunkelheit. Der Schatten des abschließenden Universums, das gemacht werden und versagen würde –

Der Weg.

Innerhalb dieser gewichtigen, flüssigen aber unveränderlichen Spulen – Eingeweide, Schlangen, Proteinmoleküle, DNS – suchte er nach einem verätzten Ende. Die Suche hätte Jahrhunderte dauern können. Er wußte das nicht und kümmerte sich nicht darum. Falls Thistledown selbst zu einem kalten, sterilen Klumpen geworden wäre in der Zeit, die es erforderte, hätte ihm das nichts ausgemacht. Sein Ziel war klar und überwältigend.

Korzenowski musterte seine Schöpfung diesmal sorgfältiger, mit einem erfahreneren und reiferen Auge. Es gab gewisse Eigenschaften des Weges, die seines Erachtens künftige Untersuchung verdienten: Die Struktur der sehr verdrehten und verwobenen Geometriestapel und die wundervoll komplexen Kurven des Weges, wenn er mit den eigenen raumzeitlichen Anomalien seines erzeugenden Universums in Wechselwirkung stand ohne Bruch und unvermeidlich scheinende Zerstörung. Seine Schöpfung war wie ein Lebewesen geworden, das seine Existenz ungestört fortzuführen bestrebt war…

In all dem Gewebe großer Universen konnten die Sensoren nirgends einen allgemeinen Plan oder Sinn entdecken. Keine Intelligenz hatte all dies gemacht, nichts hatte durch seinen Willen diese Totalität ins Sein gerufen. Ob ein Gott oder Götter existierten, sie hatten hier keinen Platz. Soviel verstand er ohne jeden Schatten von Zweifel, erkannte er auf eine Weise, die er nie bewußt begreifen oder erreichen konnte.

Es gab keinen Gott, der für alles zuständig war. Kein Gott hätte sich eine solche Rolle gewünscht; denn was Korzenowski sah, konnte nie geschaffen worden sein und nie zerstört werden. Es war das eigene, unaussprechliche Geheimnis des Superraums, das Sammelbecken aller Mathematik und Physik, welches alle Gödelschen Widersprüche absorbierte.

Was Korzenowski sah, war eine phantastische Garnitur von Malflächen, auf denen jene Dinge dargestellt werden konnten, die Intelligenzen betrafen, ein Spielplatz für sich stets entwickelnde und immer größere Intelligenzen, bis hinauf zu Göttern und darüber hinaus. Welten über Welten über Welten ohne Ende oder Anfang.

Dort würde es nie echte Langeweile geben oder echte und anhaltende Einsamkeit. Dies war Alles. Und das war unendlich mehr als genug.

Fast als eine entgegengesetzte Steigerung fand der Ingenieur das, was er suchte, das verätzte Ende des Weges.

Er las im Schlüsselbein und gab Energie auf die Stimulatoren und Projektoren, die die offene siebente Kammer umgaben. Spiegelungen und Verzerrungen von Erde, Mond und Sonne bildeten langsam rotierende Lichthöfe um die Peripherie. Die fernen Sterne schimmerten. Er bewegte nichts, übte keine Kraft aus, brachte aber das verätzte Ende des Weges über ungeheure Entfernungen in Kontakt mit dem breit ausgedehnten Feld der Projektoren. Er kümmerte sich kaum um etwas außer den Bereichen des Superraums. Er war in der Ekstase, seine Fähigkeiten bis in deren größte Reichweite auszudehnen. Konsequenzen spielten jetzt keine Rolle. Der Akt selbst genügte.

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