60. KAPITEL
Erde, Christchurch
Karen saß im Wartezimmer der Klinik von Christchurch. Ihr Gesicht war durch Mangel an Schlaf blaß und verzerrt. Es war dreißig Stunden her, seit sie den Leichnam ihres Gatten gefunden hatte, und immer noch ließen die Techniker nichts über das Implantat hören.
Ihr Stuhl stand einem Fenster gegenüber. Draußen waren die Straßen von Christchurch voller Leute, viele Hexamonuniformen, viele Terrestrische Bürger, die sich um das Krankenhaus drängten. Vor weniger als einer halben Stunde war die Nachricht von der Evakuierung eingetroffen. Karen war jetzt besorgt, daß der Zustand ihres Mannes ohne jede Bedeutung sein würde inmitten dieser enorm größeren Krise und daß man sie beide vergessen würde.
Sie blickte auf ihre Hände. Trotz gründlicher Wäsche in der Toilette des Krankenhauses fand sie noch einen übersehenen Blutfleck am rechten Zeigefinger. Sie konzentrierte ihren Blick auf diesen Fleck – Blut ihres Mannes – und schloß die Augen. Die Erinnerungen wollten nicht weichen. Seinen Hals öffnen, nach dem Implantat graben, es in eine Tasche stecken, diese schließen und dann in einem störrischen Geländewagen nach Twizel fahren – das hatte alles Stunden gedauert. Nachdem der Himmel klar geworden war, hatte sie ein Hubschrauber nach Christchurch geflogen.
Der Körper war unnütz und in Twizel geblieben.
Die Probleme waren ihr keineswegs klar.
Sie hatten so viele Jahre zusammen verbracht und waren vergleichsweise so wenige Jahre getrennt gewesen… Die Zeit ihres erneuten Beisammenseins war so kurz gewesen.
Menschen sind geschaffen, um zu leiden. Wir sind nicht für Antworten oder Gewißheiten gemacht worden.
Ein Techniker – nicht derselbe, dem sie das Implantat gegeben hatte – kam durch die Tür des Wartezimmers, schaute sich um, bis er sie erblickte, und machte ein finsteres Gesicht. Das war eine professionelle Miene, die Unheil verhieß. Sie zog die Brauen hoch und bildete mit den Lippen ein erwartungsvolles O.
»Frau Lanier?«
Sie nickte unmerklich.
»Sind Sie sicher, daß das Implantat von Ihrem Gatten stammt?«
Karen starrte ihn an. »Ich bin sicher… Ich habe es ihm selbst entnommen.«
Der Techniker spreizte die Hände und blickte zum Fenster.
»Ist er tot?« fragte sie plötzlich.
»Frau Lanier, das Implantat enthält nicht Ihren Gatten. Da gibt es eine Persönlichkeit, aber die ist weiblich und nicht männlich. Wir haben in unseren Akten keine Aufzeichnung über diese Person… Wir wissen nicht, wer sie ist. Sie ist allerdings vollständig…«
»Worüber reden Sie?« fragte Karen.
»Wenn das Implantat von Ihrem Gatten ist, verstehe ich nicht…«
Sie stand auf und schrie fast: »Sagen Sie mir, was passiert ist!«
Der Techniker schüttelte schnell den Kopf, höchst verlegen und unbehaglich. »In dem Implantat steckt eine junge Frau von ungefähr einundzwanzig Jahren. Sie scheint einige Zeit inaktiv – gespeichert – gewesen zu sein, vielleicht zwanzig Jahre. Sie hat keinerlei Erinnerung an derzeitige Ereignisse. Sie ist bestimmt nicht erst kürzlich gespeichert worden. Ihre Codierung…«
»Unmöglich«, keuchte Karen. »Wo ist mein Mann?«
»Ich weiß es nicht. Kennen Sie jemanden namens Andia?«
»Was?«
»Andia. Diesen Namen gibt ihr Personalcode an.«
»Sie war unsere Tochter«, sagte Karen und wurde blaß. Halb saß sie und halb stützte sie sich mit einer Hand auf die Rücklehne des Stuhls. »Was ist mit meinem Mann geschehen?«
»Wir haben nur eine einleitende Untersuchung gemacht. Die einzige Persönlichkeit in dem Implantat behauptet, Andia zu heißen. Ich habe keine Idee, was mit Ihrem Gatten passiert ist.«
Karen schüttelte den Kopf. »Wieso? Sie ist tot – vermißt – zwanzig Jahre…«
Der Techniker hob leicht die Schultern. Er war hilflos.
»Garry… Sie haben ihn veranlaßt, das Implantat zu tragen.« Sie richtete sich im Stuhl auf. Dies war keine Realität. Dies ging über alles hinaus, was sie je geträumt hatte, Hoffnung oder Alptraum, daß sie ihre Tochter wiederbekommen würde auf Kosten ihres Mannes, durch irgendein Wunder oder einen perversen Trick. »Er hat sie in ihrem eigenen Spiel geschlagen.« Aber er hätte das nicht allein tun können. Sie sah zu dem Techniker auf, entschlossen, sich nicht in Stücke zu schütteln. Ihre Arme und Unterschenkel fühlten sich an, als ob ein leichter Strom in ihnen liefe. Sie mußte aufstehen und sich bewegen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie stand vorsichtig auf, langsam, ließ das Blut wieder dahin fließen, wo es gebraucht wurde, entschlossen ruhig zu bleiben und sich nicht zu übergeben. Es mußte etwas gesagt werden. Sie mußte irgendwie rational reagieren.
»Kann ich zu ihr sprechen?«
»Es tut mir leid. Nicht, bevor wir imstande sind, ihren Speicher zu erweitern. Bis dahin würde sie nicht klar sein. Ist Ihre Tochter eine Bürgerin der Erde?«
Karen folgte dem Techniker in den Archivbereich des Krankenhauses und beantwortete seine Fragen. Mit einigem Suchen wurden die alten inaktiven legalen Aufzeichnungen gefunden. Persönlichkeitskarten, die während der Implantation bei Andia aufgenommen wurden, wurden verglichen.
Sie paßten vollkommen.
»Das einzige Wort, das mir einfällt, ist ›Wunder‹«, sagte der Techniker. Offenbar glaubte er ihre Geschichte nicht. Er hatte das Implantat nicht selbst entfernt. »Ich muß für eine gesetzliche Untersuchung sorgen.«
Sie nickte, jetzt von Kopf bis Fuß erstarrt trotz ihres Entschlusses, ruhig zu bleiben. Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen Schrecken und Kummer und Staunen und Hoffnung. Ich habe Garry verloren und unsere Tochter gefunden. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu erklären.
Sie war nie dazu erzogen worden, an übermenschliche Kräfte zu glauben. Ihre Ausbildung war streng marxistisch gewesen. Der Trost der Religion stand ihr nicht zur Verfügung. Aber jetzt konnte sie nur an Mirsky denken und an das, was er repräsentieren könnte.
Wenn du ihn hast, dann kümmere dich um ihn! dachte sie und richtete diese Botschaft an den Russen und an die Mächte hinter dem Avatar. Und ich danke dir für meine Tochter.
Sie wartete allein in einem kleinen Nebenzimmer eine Stunde lang, während die Ärzte und andere Techniker sich ihren Weg zu bahnen suchten durch das Labyrinth aus Prozedur und Gesetz. Ein paar Minuten schlummerte sie ein in einer kahlen Leere. Als der Techniker zurückkam und sie aufweckte, fühlte sie sich viel stärker. Ihre Benommenheit war vorüber.
»Wir werden für eine Reinkarnation sorgen«, sagte der Techniker. »Das kann allerdings einige Zeit dauern. Wir werden in den nächsten Wochen und vielleicht sogar Monaten hier sehr viel zu tun haben. Man hat uns angewiesen, die Klinik für einen Notfall herzurichten. Jedes verfügbare Shuttle wird in absehbarer Zukunft beschlagnahmt sein und auch alle Fahrzeuge. Ich denke aber, ich kann es einrichten, daß ein medizinisches Shuttle Sie heimbringt, wenn Sie in der nächsten Stunde oder so aufbrechen…«
Sie schwenkte die Hand und verzichtete auf sein Anerbieten. Sie hatte zu Hause nichts zu tun. »Ich möchte lieber hier bleiben. Sofern ich irgendwie helfen kann.«
»Ich nehme an, das können Sie«, sagte der Techniker, immer noch im Zweifel. »Wir haben Ihre Akten durchgesehen – es tut mir leid, aber da war ein unklarer Punkt… Keiner von uns kann sich vorstellen, was geschehen ist…« Er schüttelte den Kopf. »Ihre Tochter ist bestimmt auf See vermißt worden. Es gibt keinen Weg, wie Sie ihr Implantat bekommen konnten und nicht das Ihres Mannes.«
Sie lächelte traurig und verzweifelt und nickte.
»Wird mit Ihnen alles in Ordnung gehen?«
Sie dachte kurz darüber nach und sagte: »Ja. Ich möchte sobald wie möglich mit meiner Tochter sprechen…«
»Natürlich«, sagte der Techniker. »Ich schlage vor, daß Sie einige Zeit im Krankenrevier schlafen. Wir werden Sie rufen.«
»Vielen Dank!« sagte sie. Sie sah sich im Zimmer um und bereitete sich vor, sich auf einem Untersuchungstisch hinzulegen.
Andia.