8. KAPITEL


Erde

 

Die Hälfte von Laniers Haus war aus jahrhundertealtem Stein und rohem Holz, auf einem Keller aus Stein und Beton sitzend, der tief in eine von Bäumen beschattete Bergflanke eingegraben war. Die andere Hälfte war vor fünfzig Jahren hinzugefügt worden, als sie eingezogen waren, wirkte moderner, weiß und nüchtern, obwohl gut gestaltet und komfortabel, mit einer neuen Küche und Einrichtungen für die Geräte, die er für seine Arbeit benötigt hatte. Diese Gerätschaft wartete noch an einer Wand des Studios, eine kleine Konsole mit Kommunikatoren und Prozessoren, die es ihm erlaubt hatten, den Zustand von praktisch jeder Stelle auf der Erde zu verfolgen, seine Verbindung zum Terrestrischen Hexamon, durch Christchurch und die orbitalen Bezirke. Er hatte dieses Studio seit sechs Monaten nicht mehr betreten.

Lanier wurde durch sein Nackenhaar ständig an die Gegenwart seines Gastes auf der Straße neben ihm erinnert. Sie stiegen die Stufen des Hügels empor, wobei Laniers Muskeln schon schmerzten, und standen auf der breiten, überdachten Veranda, als Lanier die unverschlossene Tür öffnete. Er wußte nicht, ob Karen zurückgekommen war oder nicht. Sie blieb oft, wenn sie mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, über Nacht oder länger in Christchurch oder einem nahegelegenen Dorf. Es kümmerte ihn wirklich wenig, daß sie einen oder mehrere Liebhaber haben könnte (obwohl es ihn verdrossen hätte, wenn sie mit Fremont ins Bett gegangen wäre); und außerdem war Lanier nie für jene Art von Eifersucht anfällig gewesen. Sex gehörte zu seinen schwächeren Leidenschaften.

Sie war nicht daheim. Das erleichterte ihn; denn er wußte nicht, wie er ihren Besuch beschreiben oder erklären würde. Dennoch empfand er beim Blick in das leere Haus einen kurzen scharfen Stich von Kummer. Sie hatten in den letzten paar Jahren soviel verloren, fast alles, was sie in den harten, grausamen Jahren der Wiederherstellung getröstet hatte.

»Komm bitte herein!« forderte er ihn auf. Im Zuge der Jahre hatte er den präzisen, fast oxfordartigen englischen Stil von Karen angenommen. Mirsky, oder wer immer dieser Mann wirklich war – Lanier hatte eine Erklärung, die fast so lächerlich war wie die des Besuchers selbst –, wischte sich die Stiefel auf der Matte der Veranda ab und trat ein. Er lächelte vergnügt über die Altertümlichkeiten des Hauses.

»Ein wirklich feines Heim«, sagte er. »Du lebst hier seit…?«

»Zwischen Missionen seit zweitausendsieben.«

»Allein?«

»Meine Frau und ich. Wir hatten eine Tochter. Die haben wir verloren. Sie ist tot.«

»Ich bin in einem normalen Haus nicht mehr gewesen seit…« Mirsky zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Kannst du von hier aus zu Olmy und Korzenowski sprechen?«

Lanier zog teils die Achseln hoch, teils nickte er. »In meinem Studio, hinten im Hause.«

Lanier zögerte an der geschlossenen Tür des Studios und warf einen Blick zurück auf den Mann. Seine Theorie, die jede Minute überzeugender wurde, war, daß dieser Bursche in der Tat Mirsky ähnelte, aber nicht Mirsky war – nicht sein konnte. Irgendwer hatte ein Duplikat geschaffen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wer. Wie würde er es Olmy oder Korzenowski erklären, oder sonst jemandem? Sie mußten einfach selbst schauen.

»Komm herein!« lud er ein, öffnete die Tür und setzte einen leichten Geruch von Staub und abgestandener, kühler Luft frei.

Von diesem Raum aus hatte Lanier nach seiner offiziellen Pensionierung gearbeitet, um diejenigen, die in seine Fußstapfen treten wollten, zu beraten und zu führen. Karen hatte gewünscht, daß sie beide ihre volle aktive Tätigkeit fortsetzen sollten, aber er hatte abgelehnt. Er hatte genug gehabt. Vielleicht war das der Anfang ihrer Entfremdung gewesen. Noch mehr unangenehme Erinnerungen stellten sich wieder ein, als er auf die Projektoren und die Steuerkonsole starrte, die in die Südwand des Raumes eingebaut waren. So viel Elend und Jammer mitgeteilt, so viele Missionen hier angesetzt, die zu der Diagnose oder der Behandlung so vieler unbeschreiblicher Schrecken geführt hatten.

Mirsky trat ins Zimmer. »Deine eigene Erdstation. Sehr wichtig für dich selbst jetzt noch?«

Lanier zuckte leicht die Achseln, als ob er all das loswerden wollte. Er setzte sich an die Konsole und aktivierte sie. Es bildete sich ein laufendes rotes Piktogramm und löste sich dann auf in ein lebendiges Bild der Erde vom Stein aus gesehen, gehüllt in eine Schlinge von DNS. Eine sanfte simulierte Stimme fragte: »Welcher Service, bitte?«

»Ich muß mit Olmy sprechen. Individuelle Priorität. Oder mit Konrad Korzenowski. Einem davon oder beiden.«

»Ist diese Mitteilung offiziell oder persönlich?«

»Persönlich«, antwortete Lanier.

Das laufende Statusbild kam wieder, ein wundervoller sphärischer Schwarm aus verschlungenen roten Fäden.

»Willst du mit ihm persönlich sprechen?« fragte Lanier Mirsky. Der Mann nickte. Lanier hob die Augenbrauen und sah wieder auf das Piktogramm. Noch verdächtiger. Aber wer konnte oder wollte einen Mord planen? Solche Dinge waren in der Politik des Hexamons nicht unerhört – zumindest nicht in letzter Zeit –, aber doch selten. Und Alte Eingeborene hatten nicht die Technologie, um physische Duplikate zu schaffen. Je komplizierter seine Vermutung wurde, desto leichter war es anzunehmen, daß der Mann tatsächlich Mirsky war.

»Ser Olmy lehnt Kommunikation zur Zeit ab«, informierte ihn die Konsole. »Ich habe Konrad Korzenowski da.«

Im Studio erschien ein Bild von Korzenowski, zwei Meter neben Lanier projiziert. Der legendäre Ingenieur, der sich von der Wiederherstellung zurückgezogen hatte, um Grundlagenforschung zu leisten, blickte Lanier mit scharfen Augen an, lächelte plötzlich und schaute dann auf Mirsky. Das Bild schwankte leicht wegen eines unvermeidlichen Energieverzuges oder einer Fremdweltinterferenz, wurde dann stabil und wirkte so solide wie alles sonst im Raume. »Garry, das sind Jahre her. Geht es Karen gut? Und dir selbst?«

»Uns ist wohl. Ser Korzenowski, dieser Mann sagte mir, daß er mit Ihnen sprechen muß.« Lanier räusperte sich. »Er behauptet, er wäre…«

»Er ist dem General Pavel Mirsky erstaunlich ähnlich, nicht wahr?« fragte Korzenowski.

»Ich wußte nicht, daß Sie einander je begegnet sind«, sagte Lanier.

»Wir sind nicht persönlich zusammengekommen. Ich habe seither die Aufzeichnungen oftmals studiert. Sind Sie Ser Mirsky?«

»Ich bin es, Sir. Es ist mir eine Ehre, eine so hervorragende Person kennenzulernen und freue mich, daß es Ihnen gut geht.«

Korzenowski fragte: »Ist dieser Mann Pavel Mirsky, Garry?«

»Ich wüßte nicht, wieso er es sein könnte, Ser Konrad.«

»Woher ist er gekommen?«

»Ich weiß es nicht. Er hat mich an einem Berghang in der Nähe meines Hauses getroffen…«

Mirsky hörte sich das mit ausdruckslosem Gesicht ohne eine Bemerkung an.

Korzenowski dachte kurz nach. Lanier dachte: Er hat immer noch einen Teil von Patricia Luisa Vasquez. Das wird in seinen Augen deutlich. »Kannst du ihn innerhalb von zwei Tagen nach Thistledown, erste Kammer, bringen?« fragte der Ingenieur Lanier.

Lanier empfand zugleich tiefe Besorgnis, Bedauern und eine alte, widersprüchliche Erregung. Er war so lange von wichtigen Angelegenheiten fern gewesen…

Er sagte: »Ich denke, ich kann das einrichten.«

»Ist deine Gesundheit in Ordnung?« fragte Korzenowski mit einiger Besorgnis in der Stimme. Nur Alte Eingeborene und die allerorthodoxesten Naderiten lehnten alle Verfahren zur Verlängerung von Leben und Gesundheit ab. Lanier war nach gegenwärtigen Begriffen lächerlich gebrechlich.

»Mir geht es gut genug«, antwortete er knapp und fühlte dabei den Schmerz in den Beinen und jetzt auch im Rücken.

»Dann werde ich euch auf Thistledown treffen kurz nach eurer Ankunft, wie lange das auch dauern mag. Ser Mirsky, ich muß sagen, daß ich nicht völlig überrascht bin, Sie zu sehen.« Das Bild verschwand.

Mirsky begegnete Laniers erstauntem Blick. Er sagte: »Ein Mann, der Bescheid weiß. Können wir bald aufbrechen?«

Lanier wandte sich zur Konsole und traf die erforderlichen Arrangements. Er hatte immer noch Einfluß, und es hatte ihm nie mißfallen, diesen geltend zu machen.

Die Situation entwickelte sich. Lanier war nicht weniger erstaunt und nicht weniger gereizt, aber stärker fasziniert.

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