7. KAPITEL


Gaia, nahe Alexandreia,
2345. Jahr des Alexandros

 

Rhita stand auf dem Achterdeck der Dampffähre Joannes, die die Gewässer zwischen Rhodos und Alexandreia durchpflügte. Um die Kühle des winterlichen Meeres abzuhalten, trug sie ein braunes Akademeia-Cape und ein butterfarbenes Wollkleid von Rhodos. Ihre Augen waren lässig auf den Ozean und das breite, quirlende Kielwasser gerichtet. Es begleitete sie eine einsame Möwe, die einige Armlängen entfernt mit offenem Schnabel auf der dunklen Eichenreling hockte und den Kopf drollig rückwärts und vorwärts drehte. Der düstere graue Himmel brütete über einem ruhigen Ozean von der trüben Farbe des Eisens. Hinter ihr kauerten im Schatten des überdachten Hauptdecks große Motorwagen aus Rhodos, Kos und Knidos.

Mit einundzwanzig Jahren fühlte sie sich noch reifer, als sie es mit achtzehn gewesen war, und das machte sie wirklich sehr reif. Zumindest hatte sie ihr reger Sinn für Spaß noch nicht verlassen. Sie hatte ein gesundes Gefühl für ihre Fähigkeit zu Torheiten und bedauerte, jetzt so wenig Zeit zu finden, ihr nachzugeben.

Ihr Haar hatte seine helle rotbraune Tönung aus der Kindheit behalten, aber sie trug es jetzt kürzer geschnitten. Wenig verändert waren ihre großen, spöttischen grünen Augen, die blasse Haut und die Figur. Sie war nicht mehr als mittelgroß geworden, obwohl ihre Schultern sich etwas verbreitert hatten. Sie hatte die ruhige körperliche Stärke ihres Vaters geerbt, wie auch seine langfingerigen Hände und langen Beine.

Rhita hatte Alexandreia nur zweimal besucht, beide Male, ehe sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter Berenike hatte es für am besten gehalten, ihr einziges Kind in der Nähe des Hypateions zu halten und entfernt von den großstädtischen Verführungen der Zentralstadt der Oikoumene.

Berenike war eine eifrige Schülerin von Patrikia gewesen und hatte Rhamon geheiratet, den jüngsten Sohn der Sophe, mehr aus Pflichtgefühl als aus Liebe. Sie hatte ihre Tochter glühend geliebt und in ihr ein junges Bild von Patrikia selbst erblickt. Im Aussehen sah Rhita indessen eher ihrer Mutter ähnlich als ihrer Großmutter.

Jetzt, da ihre Mutter seit einem Jahre und Patrikia fast neun Jahre tot waren, und ihr Vater noch immer in den Kampf um die Leitung der Akademeia verwickelt – in den Wettbewerb mit theokratischen Elementen, die ihre Großmutter offen verabscheut hatte –, hatte sie es für das beste gehalten, ihre Talente und ihr Wissen dorthin zu bringen, wo sie am besten genützt werden könnten. Falls die Akademeia ablehnte, würde sie sich anderswo aufhalten, vielleicht, um ein neues Hypateion zu gründen.

Diese ihre Sorgen standen bei ihr aber nicht im Vordergrund. Sie ließen sie sich fast bequem und sicher fühlen im Vergleich mit ihrem Hauptanliegen.

Seit sechzig Jahren hatte Patrikia nach einer schwer faßbaren Öffnung zu einem Ort gesucht, den sie den Weg nannte. Dies Tor hatte sich als flüchtig erwiesen, indem es zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Stellen der Welt erschienen war, lange genug, um anzulocken, aber nie präzise zu lokalisieren. Patrikia war gestorben, ohne es gefunden zu haben.

Rhita wußte jetzt genau, wo sich das Tor befand. Es hatte seit mindestens drei Jahren eine feste Position innegehabt. Dieses Wissen tröstete sie aber nicht. Sie hatte sich an ihre Rolle gewöhnt, obwohl sie ihr nicht recht behagte.

Das Wissen vom Tor hatte sie um ihr eigenes Leben gebracht. Ihrer Meinung nach hatte die Großmutter einem jungen Mädchen eine fast unmögliche Bürde auferlegt, indem sie das Instrument so einstellte, daß es ihre – nur ihre – Berührung erkannte.

Vielleicht war Patrikia in jenem Jahr vor ihrem Tod ein wenig verrückt gewesen. So oder so hatte sie ihrer Enkelin eine schreckliche Verantwortung übertragen.

Alles andere – ihr Antrag zum Studium am Mouseion, ihr Privatleben, alles – war gegenüber ihrem Wissen zweitrangig.

Sie hatte es nicht einmal ihrem Vater gesagt.

Rhita hatte auf ein ruhiges Leben gehofft, aber während sie zusah, wie der Meeresvogel einen Flügel putzte, wurde ihr klar, daß das nicht möglich war, nicht in dieser Welt. Sogar ohne die Objekte würde das Leben an der Akademeia hart werden. Alles, was sie liebte und was ihr vertraut war, lag hinter ihr, jenseits des schwarzblauen Meeres.

Sie trug ihr Schlüsselbein und die Lebenserhaltungsmaschine in einem großen verschlossenen Koffer. In einem kleineren hatte sie auch die ›Schiefertafel‹ ihrer Großmutter, ein elektronisches Tablett, auf dem man lesen und schreiben konnte. Diese Dinge wurden in ihrer Kabine von Lugotorix bewacht, ihrem keltischen Leibwächter. Dieser hatte sich der Abscheu der Sophe vor Waffen und Krieg gebeugt und war deshalb unbewaffnet, aber dennoch kaum weniger tödlich. Rhamon war bei aller pazifistischen Einstellung des Hypateions ein praktischer Mann und gelegentlich überraschend listenreich und weltlich. Lugotorix wurde sein Dienst in Gütern bezahlt, die wertvoller waren als Geld. Seine beiden Brüder studierten jetzt an der Akademeia. Bei einer solchen Ausbildung könnten sie vielleicht die Vorurteile überwinden, welche Leute keltischer Abstammung seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts behinderten.

Rhita empfand eine ständige, unaufdringliche Verbindung mit dem Schlüsselbein. Wenn ihm etwas passierte, würde sie das wissen und wahrscheinlich auch imstande sein, es zu finden, wohin es auch gebracht sein mochte. Mit Lugotorix als Wächter würden allerdings nicht viele wagen, es zu nehmen. Aber nicht einmal der Kelte wußte, was er da behütete.

Zu passender Zeit würde Rhita die Königin Kleopatra um eine Audienz ersuchen. Sie würde ihr Beweismaterial vorlegen.

Was danach geschehen mochte, darüber machte sie sich jetzt noch keine Gedanken.

Nachdem sie vorerst genügend Meeresluft bekommen hatte – diese war dick von Asche, wenn der Rauch durch den wechselnden Wind hin und her getrieben wurde –, ging Rhita wieder in ihre kleine, stickige Kabine und schickte den plumpen, stillen schwarzhaarigen Kelten in seine eigene Kabine zur Ruhe. Sie legte ihre Kleidung ab und zog ein einfaches indisches Nachthemd aus Baumwolle an. Sie kroch zwischen die dünnen Bettlaken der kurzen Pritsche, schaltete eine schwache elektrische Lampe an und entnahm ihrem Handkoffer das kleinere hölzerne Teuchos, den Buchbehälter, welcher die Tafel ihrer Großmutter enthielt und die Würfel mit Musik und Literatur, einschließlich ihrer eigenen Tagebücher.

Auf dieser Erde gab es nichts wie diese Tafel, obwohl die Mathematiker und Mechanikoi der Oikoumene versprachen, in ein paar Jahren große elektronische Rechenmaschinen zu erschaffen. Patrikia hatte einige von ihnen mit der Theorie solcher Maschinen bekannt gemacht bei Zusammenkünften, die kurz vor ihrem Tod stattgefunden hatten.

Rhita war sich über ihre Verantwortung klar, sich um diese Objekte zu kümmern. Sie trug buchstäblich das Schicksal der Akademeia von Rhodos mit sich. Die Objekte waren der Beweis dafür, daß Patrikia die Wahrheit gesagt hatte. Ohne sie – wenn beispielsweise die Fähre im Meer versänke und die Objekte verlorengehen würden – würde es keinen Beweis geben; und Patrikias Geschichte würde als Mythos oder, noch schlimmer, als eine Lüge angesehen werden. Aber wie auch immer die Gefahr sein und wohin auch immer sie gehen mochte, Rhamon hatte befohlen, daß Rhita diese Objekte immer bei sich haben müßte.

Rhita hatte vielmals die Aufzeichnungen ihrer Großmutter gelesen und die Geschichte ihrer Erde mit der von Gaia verglichen. Sie gewann Trost aus den Notizen auf der Tafel, wie sie ihn aus der Lektüre vertrauter Märchen gewonnen hätte.

Die moderne Erde, welche ihre Großmutter beschrieb, war eine so sagenhafte, wenn nicht schreckliche Stätte – eine Welt, die sich lebendig mit ihrem Genius und ihrem Wahnsinn verbrannt hatte.

Ein Würfel enthielt mehrere vollständige Geschichten von der Erde. Rhita hatte diese sorgfältig gelesen und so die Story jener anderen Welt fast ebensogut kennengelernt wie die von Gaia. Sie wußte, daß auf der Erde Megas Alexandras versucht hatte, Hindustan zu erobern und nur teilweise Erfolg gehabt hatte, wie auch auf Gaia. Aber auf der Erde war Alexandros nicht aus einem gekenterten Boot in den angeschwollenen Fluß Hydaspes gefallen, hatte sich keine Lungenentzündung zugezogen, so daß er einen Monat auf dem Krankenbett verbrachte, um sich dann aber völlig zu erholen und ein hohes, reifes Alter zu erreichen. Auf der Erde war der Große Weltenherr von seinen Truppen zum Rückzug gezwungen worden, an einem anderen Ort erkrankt und in Babylon jung gestorben… Und hier war es, wie Patrikia ihr gesagt hatte, wo sich ihre beiden Welten getrennt hatten.

Rhita überlegte oft, ob sie phantastische Geschichten schreiben sollte über jene andere Welt, die ihre Großmutter Romane genannt hätte. Vielleicht würde sie das einmal wirklich tun. Sie liebte Literatur, wenn sie nicht tief in ihren mathematischen und physikalischen Studien steckte.

Aber wer konnte sich eine Welt vorstellen, in der die Oikoumene unter den lokalen Nachfolgern aufgeteilt wurde? Kriege zwischen den Nachfolgern, die Umwandlung von Alexandras’ Reich in konkurrierende Königreiche: Ägypten beherrscht von der Dynastie des Ptolemaios, Syrien durch die Seleukiden und wo schließlich mit dem Aufkommen von Latine, der ganze mittlere Pontos unter die Herrschaft von Rhoma geraten würde…

Rhoma war in Rhitas Welt eine kleine, geplagte Stadt in dem von Kämpfen zerrissenen Italia – schwerlich der Nachfolger von Hellas! Aber auf der Erde war Rhoma aufgestiegen und hatte Karchedon – Carthago in der lateinischen Sprache – zerstört, womit die Geschichte dieses Handelsimperiums anderthalb Jahrhunderte vor der Geburt eines kaum bekannten jüdischen Messiah beendet wurde. Nach diesem Jeschua oder Jesus wäre Karchedon nie dazu gekommen, die Neue Welt zu kolonisieren, und Nea Karchedon würde nicht gegen sein Mutterland rebelliert und sich auf dem Atlantischen Ozean festgesetzt haben, um dann zusammen mit den Libyern und den nordischen Rus einer der Feinde der Oikoumene zu werden…

Auf Gaia hatte Ptolemaios VI. Soter der Dritte im Jahre 84 des Alexandros die Völker von Latine besiegt, einschließlich der Rhomaer, und dadurch gewährleistet, daß die Ptolemaier die ständige Herrschaft über Aigyptos und Asia erhielten.

Auf Gaia gab es Kernkraftwerke, riesige experimentelle Dinge, die in der Kyrenaika westlich des Nils erbaut waren. Es gab Düsenflugzeuge und sogar Raketen, die Satelliten, aber nicht Menschen, in Umlaufbahn brachten. Aber es gab keine Atombomben, keine Fernraketensperren, die Kontinente zu erschüttern vermochten, und keine Kampfstationen mit Todesstrahlen im Erdorbit. Viele dieser Wunder gehörten zum Geheimwissen der Akademeia. Patrikia hatte bei ihren Begegnungen mit Kleopatras Großvater harte Lektionen gelernt.

Gaia schien Rhita trotz ihrer Schwierigkeiten ein sichererer und lebenswerterer Platz zu sein. Warum also sollte man da nach der Erde jagen? Warum nach dieser Art von Mißhelligkeiten verlangen?

Sie war sich nicht sicher. Mit der Zeit würde sie vielleicht ihre eigenen Zwänge und Loyalitäten verstehen. Bis dahin tat sie einfach, was das Schicksal seit Kindheit von ihr verlangt hatte und um was ihre Großmutter sie ohne Worte gebeten hatte.

Rhita wühlte sich durch die Tafeltexte hindurch, die ihre Großmutter ausgezeichnet hatte, und kam zu der Beschreibung des Weges, den sie vielleicht zum hundertsten Male durchlas. Hier war eine Welt, die noch viel sagenhafter und fremdartiger war als die Erde. Wer in der Oikoumene oder in dieser ganzen Welt konnte solche Dinge verstehen oder glauben? Hatte Patrikia diese Wunder etwa zusammenphantasiert und aus ihren Alpträumen gestaltet? Menschen ohne menschliche Gestalt, ein Mann, der mehrere Male den Tod überlebt hatte, ein Kosmos, gestaltet wie das Rohr einer Wasserleitung und unermeßlich lang…

Allmählich nickte sie ein. Bald erklang die Glocke zum Essen, und sie zog sich wieder an. Die Kabine ließ sie erneut in der Hut von Lugotorix. Der speiste allein aus einer Schüssel, die ihm die Schiffskombüse geliefert hatte.

Rhita aß mit ihren Mitreisenden zusammen, hauptsächlich Leuten aus Tyros und Juden, in dem engen Speisesaal über dem Hauptdeck. Die lüsternen Blicke eines tyrischen Händlers ignorierte sie.

Sie würde das Hypateion vermissen und auch seine lässige Gleichstellung der Geschlechter.

 

Der Himmel über Alexandreia war wieder klar wie meistens.

Am nächsten Morgen in der Dämmerung qualmte die Fähre an dem vierhundert Ellen hohen Pharos-Leuchtturm vorbei. Rhita stand gegen die Kälte zusammengekauert auf dem Achterdeck. Dieser Pharos war der vierte seiner Art und der höchste von allen, ein Monstrum aus Eisen, Stein und Beton, das vor hundertsechzig Jahren erbaut worden war. Die enggedrängten Gebäude auf den sanften Hügeln Alexandreias erglühten rosa im Morgenlicht und dunkelgrün im Schatten. Die Palastbauten aus Marmor und Granit auf dem Kap Lochias waren ein orangefarbener Schimmer über dem friedlich graublauen Königlichen Hafen. Die großen Kästen nördlich vom Kap, die niedergelassen waren, um das Hafenwasser von eingesunkenen Palastgebäuden abzuhalten, sprenkelten das Ufer wie Spielsteine aus Elfenbein, verbunden durch Reihen von Steinpfeilern und Mauerwerk.

Für Rhita erschien diese berühmteste Stadt der Welt kaum real, das Zentrum menschlicher Kultur und Bildung – zumindest der Kultur der Oikoumene.

Die Fähre dockte im Großen Hafen an und spie ihre Motorwagen über eine breite Stahlzunge aus. Fettiger Rauch und entweichender Dampf trieben vom Wagendeck zur Passagierrampe, wohin Rhita und der Kelte ihr Gepäck schleiften.

Das Paar ging über die Rampe zwischen aithiopischen Geschäftsleuten in ihrer offiziellen Tracht aus Leder und Federn und aigyptischen Hausierern, die in ihren schwarzen Roben grob und aufdringlich waren, ohne aber ernsthaft lästig zu werden. Rhita hielt Ausschau nach jemandem, der sie abholen würde, und wußte nicht, was zu erwarten war, da der Einfluß ihrer Großmutter tatsächlich immer noch bis zu Kleopatra reichte. Auf einer Seite des Piers war ein schmaler Korridor reserviert für Motortaxis und von Pferden gezogenen Lastwagen. Dort puffte ein langer, schäbiger Personenwagen Dampf aus, während sein Fahrer eine fußlange schwarze Zigarre schmauchte, die nach Nelken roch. An einer offenen Tür lehnte eine Tafel, auf der mit Kreide geschrieben war: ›VASKAYZA-MOUSEION‹.

»Das ist wohl für uns, wie ich meine«, sagte Rhita. Es war kein besonders eleganter Empfang. Es waren auch keine Leibwächter anwesend, wenigstens konnte sie keine sehen.

Als sie an den Personenwagen herankamen, fühlte sie sich bäuerlich in ihrer Harmlosigkeit. Die Stadt, jetzt eine greifbare, stark riechende Präsenz – dickes scharfes Brennöl, milde flatternde Dampfwolken, stinkender Pferdemist, ungewaschene Massen von Reisenden und Kaufleuten –, konnte sie ganz verschlingen und zerkauen, ohne irgendwie zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zum erstenmal empfand Rhita akut ihren Mangel an Macht. Ihre Großmutter hatte immer so selbstsicher gewirkt. Wie konnte sie ihr möglicherweise nacheifern angesichts eines so ungeheuren, überwältigenden Ortes?

Rhita und Lugotorix stellten sich dem Fahrer vor, der seinen Glimmstengel an einem dreckigen Kotflügel ausdrückte, den Stummel in eine schmierige Hosentasche steckte und auf den erhöhten Vordersitz kletterte. Sie stiegen ein. Mit Quietschen und Stoßen quälte sich der Wagen mit ihnen über einen breiten Boulevard, der von alten Marmorsäulenreihen gesäumt war. Dann wandte er sich nach links in einen hohen marmornen Torweg und brachte sie auf das Gelände des Mouseions, der großen Bibliothek und Universität von Alexandreia.

 

»Sie ist eine sehr hübsche junge Frau«, sagte der Bibliophylax des Mouseions und schob seinen niedrigen Schemel vor der Königin zurecht. »Sie sieht ihrer Mutter ähnlicher als ihrer Großmutter, aber ihr früherer Erzieher versichert mir, daß sie der Sophe Patrikia gleichkommt. Sie ist im Hafen mit einem großen nordischen Scheusal angekommen, einem Diener, wie meine Kundschafter sagen, und wird noch in dieser Stunde in ihrer zeitweiligen Unterkunft sein.«

Kleopatra die Einundzwanzigste hob ihren kurzen und stämmigen Leib auf dem informalen Thron. Die Narbe, die sich von der linken Schläfe bis zur rechten Wange hinzog, die Nasenwurzel entstellte und ein Auge halb verschloß, war vor ihrer hellen und sonst glatten Haut wie eine rosafarbene Hülse. Die Königin hatte wenig von der Schönheit der Jugend. Dafür hatten die libyschen Attentäter vor zwanzig Jahren gesorgt bei ihrem Staatsbesuch in Ophiristan. Da sie kein Interesse mehr an Liebhabern hatte – sie hatte ihre drei Favoriten an jenem verhaßten Tag verloren –, lag ihr nichts mehr an ihrem Aussehen. Kleopatra war bloß dankbar, daß sie noch ihre Gesundheit und einen gesunden, agilen Verstand hatte.

Der berüchtigte trockene Sonnenschein von Alexandreia strich über den abgetretenen weißen Marmor des Innenhofes der königlichen Wohnung in einem goldenen Streifen und berührte den linken Schuh der Königin, womit er einen nicht bemalten, aber fein manikürten Zeh betonte. Sie sagte: »Du weißt, daß ich diese Sophe über Vernunft geduldet habe.« Ihr Großvater hatte beschlossen, daß Patrikia Luisa Vaskazya auf Rhodos eine Akademeia gründete. Diese, benannt nach einer Mathematikerin, von der niemand in Alexandreia jemals gehört hatte, hatte in den letzten fünfzig Jahren mit dem Mouseion des Kallimachos hinsichtlich der Finanzierung von Forschungen in Wettstreit gelegen und in der Mehrheit der Fälle substantielle königliche Preise erhalten. Aus der Akademeia von Rhodos kamen nützliche und sogar aufregende Arbeiten; aber jedermann im Palast – und in einem großen Teil der populären Presse – wußte, daß die höchste Leistung der Sophe gewesen war, einen Weg der Rückkehr in ihr Heim zu finden. Die meisten hatten sie für reichlich verrückt gehalten.

»Du äußerst eine königliche Meinung, meine Königin.«

»Sei jetzt offen mit mir, Kallimachos!«

Die syrupartige Miene des Bibliophylax wurde sauer. »Ja, meine Königin. Du hast sie auf Kosten weitaus wertvollerer Gelehrter bevorzugt mit mehr formalem Hintergrund und nützlichen Vorschlägen.«

Sie lächelte. Dies vom Bibliophylax zu hören, ließ es weniger wahr erscheinen. »Niemand im Mouseion hat soviel für Mathematik und Rechenkunst geleistet. Für Kybernetik«, fügte sie hinzu und sprach das Wort so aus, wie die Sophe es getan hätte. Sie spielte mit dem Zeh im Sonnenschein, als ob er ein Wasserstrahl wäre. Für einen Moment entführten sie die einfache Farbe des Sonnenlichts und die trockene, kühle Meeresbrise von der Realität. Sie schloß die Augen. »Sogar eine Königin braucht ein Hobby«, murmelte sie.

Kallimachos bewahrte respektvolles Schweigen, obwohl er noch viel mehr zu sagen hatte. Die Liga der Mechanikoi der Oikoumene hatte zwei Wochen zuvor dem Palast ihre Pläne zur Aufrüstung unterbreitet. Die Rebellenregierung von Nea Karchedon jenseits des Atlantischen Ozeans hatte im vergangenen Jahr die Nachschubwege der Südhemisphäre der Oikoumene überfallen. Die Rebellen hatten vor zehn Jahren alle mit Karchedon geschlossenen Verträge mißachtet und bildeten eine Allianz mit den Inselfestungen von Hiberneia und Angleia. Der Bibliophylax hoffte, daß alle die notwendigen Verteidigungsarbeiten reiche Kontrakte für sein Mouseion ergeben würden. Statt dessen saß er da und diskutierte über die Enkelin der Sophe Patrikia. Die Sophe und ihre Familie hatten seine Vorhaben alle dreißig Jahre behindert, die er im Amt war und noch mehr Dekaden davor die Unternehmungen seines Vorgängers.

Kleopatra lächelte Kallimachos an mit einem freundlichen, mütterlichen Lächeln trotz der Narbe und schüttelte den Kopf. »Du mußt sie in das Mouseion aufnehmen. Man muß ihr den Rang ihres Vaters zuerkennen…«

Kallimachos sagte: »Dieser Mann ist seiner Mutter nicht ebenbürtig.«

»Und man muß ihr gestatten, ihre Forschung fortzusetzen.«

»Verzeiht meine Kühnheit, teure Königin, aber warum bleibt sie nicht am Hypateion in Rhodos? Dort könnte sie bestimmt besser die Tradition ihrer Großmutter weiterführen.«

»In ihrem Gesuch bittet sie um die Unterstützung eures Mechanikos Zeus Ammon Demetrios. Demetrios hat in einer privaten Besprechung mit mir zugestimmt. Ich hoffe, dir damit nicht auf die Zehen zu treten, mein lieber Kallimachos.«

Sie wußte aber, daß es so war, und sie rechnete damit, daß er die Kränkung ignorieren würde. Er profitierte zu sehr durch seine Beziehung mit Ihrer Hoheit, als daß er sich über kleine, wenn auch anhaltende Ärgernisse wie die Vaskayza-Familie verstimmen ließe. So sagte er: »Dein Wille wird geschehen«, verbeugte sich und berührte mit dem Kragen seiner schwarzen Gelehrtenrobe den Boden.

Von oben ertönte ein schrilles falkenartiges Kreischen. Darauf folgte eine Erschütterung der Fundamente des Palastes und ein entferntes harmloses Krachen. Kallimachos stand auf, als sich die Königin erhob, und folgte ihr mit gefalteten Händen respektvoll auf die äußere Veranda. Sie lehnte sich ans Geländer und sah eine Rauchsäule im Brucheion, mitten im Judenviertel. »Wieder Libyer«, sagte sie. Er konnte tieferes Rot in ihrer Narbe erkennen, aber ihre Stimme war sanft und ruhig. »Gibt es irgendwelche Nachrichten aus Karchedon?«

»Ich weiß nicht, meine Königin. Ich habe nicht das Privileg für solche Mitteilungen.« Die jüdische Miliz würde hierdurch noch mehr gereizt sein; und es war schon allgemein bekannt, daß sie nicht Kleopatra wohlgeneigt war. Er überlegte, wie er diesen neuen Gewaltakt zu seinem Vorteil nutzen könnte.

Kleopatra wandte sich langsam um und kehrte in den Innenhof zurück, wo sie das Mundstück eines mit Gold verzierten Telephons aufnahm. Mit einem Kopfnicken entließ sie den Bibliophylax.

Binnen einer Stunde, nach einer Besprechung mit ihren Generalen und dem Chef des Sicherheitsdienstes der Oikoumene, entsandte sie eine Schwadron Düsenjäger von Kanopus, um die syrische Rebellenstadt Tunis zu bombardieren.

Dann begab sie sich wieder in ihre schlicht ausgestatteten Privaträume und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf einen wollenen Berberteppich. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, ihre tobende Wut zu bändigen.

Sie hatte wirklich nur wenig Zeit für ihre Hobbies, aber ihr Wort war im Mouseion immer noch Gesetz, wenn auch nicht immer in der streitsüchtigen Ratsversammlung. Rhita Berenike Vaskayza…

Kleopatra glaubte nicht mehr, daß man jemals ein Tor zu einer anderen Welt finden würde. Aber selbst in einer Zeit schrecklichen Bürgerkrieges und der schlimmsten Bedrohung der Oikoumene im Laufe ihres Lebens, glaubte sie, sich eine vollkommen verrückte Idee leisten zu können.

Ewigkeit
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