62. KAPITEL


Thistledown

 

Etwas derartiges hatte es seit der großen Katastrophe nicht mehr gegeben. Die vier Millionen Bewohner von Thistledown wurden aus den fünf besiedelten Kammern des Asteroiden mit jedem in der Nähe von Erde und Mond verfügbaren Vehikel entfernt. Die Evakuierung ging langsam. Es gab erheblichen Widerstand. Einige Nahkämpfe waren ausgebrochen zwischen den verschiedenen Parteien, die auf Thistledown neue Siedlungen gebaut hatten.

In den letzten vierzig Jahren war Thistledown zum Bollwerk und Nervenzentrum des Hexamons geworden und hatte viele Funktionen von den orbitalen Bezirken übernommen, die als viel verwundbarer galten. Es war ein gewaltiges Unterfangen, diese Funktionen zu übertragen, das nur etwas erleichtert wurde durch die Fähigkeit des Hexamons, Berge von Daten in sehr kleinen Paketen zu bewegen.

Olmy stand im Bohrloch der ersten Kammer, eingehüllt in ein Umgebungsfeld, und sah zu, wie Shuttles in geordneter Formation hin und her vorbeiflogen. Vier Shuttles waren außer Dienst gestellt worden; und als Lücken in dem gleichmäßigen Strom auftraten, wurden sie unter die rotierenden Docks in die Hangars zur Reparatur gebracht. Vier von zehntausend… Die Technik des Hexamons war auf manchen Gebieten immer noch wunderbar leistungsfähig.

Olmys Meister beobachtete diese Aktionen ohne etwas zu bemerken und verließ ihn dann für einige Zeit, um einen vorher abgestimmten Arbeitsplan an der Evakuierungsbemühung zu verfolgen und heimlich den Diebstahl eines Sprungschiffs vorzubereiten.

Er hatte sein Geständnis abgelegt. Der Ausdruck auf Korzenowskis Gesicht war besonders schmerzhaft gewesen. Aber die Unterschiede zwischen Versagen und Niederlage und der Willfährigkeit gegenüber einer Autorität, die höher war als jeder von ihnen, waren jetzt wirklich schwach geworden…

Olmy hatte einige seiner Bürden abgelegt. Jetzt nahm er eine größere Bürde auf sich. Er erkannte, daß er, selbst wenn er nicht von einem Jart besessen wäre, die gleichen Dinge tun und die gleichen Pläne machen würde – entgegen dem Willen der Anführer des Hexamons und der mens publica.

Manche Leute würden sicher glauben, daß er dadurch zu einem echten Verräter würde, nicht bloß zu einem geschlagenen und törichten Soldaten.

 

Korzenowski traf seine Vorbereitungen genau neun Stunden vor dem nächsten Glied. Diesmal verzichtete er auf seine zeremonielle rote Sack-Robe und trug einen schwarzen Overall, der nützlicher und passender war für das Abenteuer – oder dessen Mißerfolg –, zu dem sie sich anschickten. Während er die Meldungen automatischer Ferngeräte und Partiale in sich aufnahm, die alle besagten, daß Maschinerie und Projektoren der sechsten Kammer richtig funktionierten, ließ er seinen natürlichen Geist ein wenig wandern.

Er erinnerte sich deutlich an die frühen Jahre nach der ersten Öffnung, als unerwartete Instabilitäten viermal einen völligen Zusammenbruch hatten befürchten lassen. Das waren sehr schwierige Zeiten gewesen, als das Hexamon nicht nur seiner eigenen kritischen Erschaffung sondern der Bedrohung durch die Jarts ausgesetzt gewesen war.

Zunächst hatte es ein Unentschieden gegeben. Weder Jarts noch Menschen hatten gewußt, was sie miteinander anfangen sollten. Versuche von Kommunikation mit den Jarts waren gescheitert. Die ersten Angriffe seitens der Jarts – eher Stoßtruppunternehmen mit der Absicht, Schaden anzurichten – waren genau nach der ersten Instabilitätskrise gekommen. Die siebente Kammer hatte geringfügigen Schaden erlitten. In jenen frühen Zeiten hatte Korzenowski sich Sorgen gemacht, daß die Beschädigung eines eingegrabenen Projektors katastrophale Quetschungen im Weg bewirken könnte…

Seine Besorgnisse hatten sich damals als unbegründet erwiesen. Aber mit anderen Mitteln könnte eine solche Kräuselung oder Faltung genau die Technik sein, die er bald – vielleicht binnen vierundzwanzig Stunden – benutzen würde, um den Weg zu demontieren. Die Faltung konnte, wenn sie richtig gebildet war, ›entlang‹ des Weges im Superraum beschleunigt werden und bewirken, daß er sich kringelte, verknotete, Fisteln bildete und schließlich zerfiel.

›Windung‹ und ›Knoten‹ hatten ganz verschiedene Bedeutungen, wenn man sie auf höhere Dimensionen anwendete. Korzenowski hatte herausgebracht, wie eine solche Kräuselung aus dem Innern des Weges und von außen aussehen würde.

Während der Weg eine unendliche Zahl von Punkten in Raum und Zeit schnitt – und eine kleine Unendlichkeit von Punkten in anderen Universen –, war jeder Schnitt selbst nicht von ewiger Dauer.

Jedes geöffnete Tor würde eine endliche Existenz haben, nicht größer als die intern gemessene Gesamtdauer der Existenz des Weges selbst. Die Gesamtzahl der Tore, die im Weg geöffnet werden konnten, war riesig groß, aber nicht unendlich. Der Weg konnte nicht zu allen möglichen Schnittpunkten Zugang gewähren.

Es würde Jahre, vielleicht Jahrhunderte dauern, bis die destruktive Kräuselung im Weg ihr Werk vollendete. Ein großer Teil der Länge des Weges würde ziehharmonikaartig verzogen werden, wenn die Faltung durchlief, und eine Anzahl spontaner Fisteln – Verbindungen zwischen verschiedenen Segmenten – würde lange Sektionen abschließen und faktisch geschlossene Schleifen bilden. Die Fisteln konnten sich verdoppeln und untereinander Verbindungen herstellen, wobei sie die Schleifen bildenden Segmente losschnitten und frei driften ließen.

Wenn die Faltung ihren Weg längs des Weges beendet hatte, würde nur noch ein kleiner Schwanz übrig bleiben, der mit dem ›Ballon‹ des fehlgeborenen Universums verbunden war, den Mirsky erwähnt hatte.

All dies war in einer auch für ihn schwierig zu verstehenden Weise im Charakter der weit entfernten Segmente des Weges reflektiert, wie sie Ry Oyu vor der großen Zerstörung gesehen hatte. Hätte Ry Oyu – Patricia – etwas so Unwahrscheinliches auch nur befürchtet, würden sie die Effekte sofort erkannt haben.

Korzenowski war mit der Entgegennahme der Meldungen fertig und zog sich zurück, um in seiner wiederhergestellten Wohnung im Bohrloch Platz zu nehmen. Er schloß die Augen, verlor sich in Kontemplation und eine tiefe Melancholie, die nicht ganz unangenehm war.

Er hatte niemanden, und jedermann, hinter sich zu lassen. Nachdem er schon einmal gestorben war, fürchtete er bestimmt keine Auslöschung. Was er fürchtete, war die Überschreitung der Grenzen.

Er war bei der Erschaffung des Weges schon auf Wesen gestoßen, die der Menschheit ungeheuer überlegen waren. Daß diese ihm nichts Böses wollten, war bemerkenswert und vielleicht ein Zeichen ihrer Überlegenheit. Oder möglicherweise war jede Emotion oder Beschreibung ihrer Kategorie – sogar Mirskys Projektionen – grobe Vereinfachungen für beschränkte Geister.

Jetzt verriet er seine Pflicht gegenüber dem Hexamon, für jenes Überschreiten der Grenzen Schadenersatz zu leisten. Würde das Hexamon genügend Flexibilität und Genialität finden, um für immer ohne den Weg auszukommen?

Würden sie versuchen, einen anderen zu machen? Was, wenn überhaupt etwas, würde ihnen Einhalt gebieten?

Bei allen seinen Erkundungen mittels des Schlüsselbeins, bei allen Erforschungen aller Toröffner im Lauf der Geschichte des Weges, hatte man kein anderes Konstrukt wie dieses gefunden… in diesem Universum. Mirsky hatte angedeutet, daß andere künstliche Konstrukte ähnlich dem Wege in anderen Universen gemacht worden wären, aber hier konnte kein neuer Weg gemacht werden.

Korzenowski war sich völlig seiner Fähigkeiten bewußt, zweifelte aber nicht, daß andere ihnen gleichkommen könnten. Es war ihm mißlungen, eine Methode zur Öffnung von Toren ohne ein intermediäres Konstrukt wie den Weg zu finden. Vielleicht hatten andere Erfolg gehabt; und das erklärte den Mangel.

Eine andere mögliche Erklärung für die Einzigartigkeit des Weges war Interferenz, Verhinderung durch die Mächte, von denen Mirsky und Ry Oyu nur die kümmerlichsten Repräsentanten waren. Aber würden diese Kräfte auch nur einen Weg zulassen, wenn seine Effekte so verheerend waren?

Wenn sie Ry Oyus Plan folgten und Erfolg hätten – es schien ein sehr großes Risiko damit verbunden zu sein –, dann konnte vielleicht zu gegebener Zeit der Endgültige Geist, den der Jart in Olmy das Kommando der Nachkommen nannte, ihnen alles direkt erklären.

Das Mysterium von Patricia Vasquez in ihm schwieg. Ry Oyus Plan vergaß ihre Bedürfnisse nicht.

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