64. KAPITEL


Der Weg

 

In den einsamen Augenblicken – mochte es sich dabei um Zeit oder Täuschung handeln –, wenn Rhita nicht examiniert, getestet und ausgefragt wurde, oder was immer die Jarts mit ihr anstellten –, wenn sie einen Gedanken fassen konnte, von dem sie recht sicher war, daß es ihr eigener sei, versuchte sie zu verstehen, was ihre Großmutter ihr erzählt hatte. Daß sie sich durch eine Mauer arbeitete, die Patrikia selbst nicht überwunden hatte, war ihr jetzt klar. Eine Mauer von Unwissenheit hinsichtlich der Jarts. Was machen sie mit mir? Sie schienen ihre Gedanken und ihr Ich in einer getrennten Einzäunung zu halten. Sie fühlte ihren realen Körper nicht; oder zumindest glaubte sie, daß ihr realer Körper noch nicht mit ihr verbunden wäre. Einige der ihr dargebotenen Illusionen waren sehr überzeugend, aber sie hatte gelernt, allen scheinbaren Realitäten zu mißtrauen.

Wo bin ich? Sie war wieder im Weg, das schien so. Sie hatte den Eindruck bekommen, daß das, was auch mit Gaia geschehen sein mochte, noch nicht zu Ende war. Sie folgerte, daß man sie nicht dort festhalten würde. Vielleicht würde es für diejenigen, die sie testeten, bequemer sein, ihren Körper in der Nähe zu haben.

Ihr Geist könnte sich irgendwo befinden.

Werde ich von Typhon getestet? Sie wußte es nicht. Vielleicht war das auch gleichgültig. Jarts schienen austauschbar zu sein.

Die Tests, denen man sie unterzog, waren manchmal so instruktiv, daß sie sich daran erinnerte und daß sie mit diesen Erinnerungen in den gelegentlichen Momenten, die sie für sich hatte, arbeiten konnte.

Sie wurde in verschiedene soziale Situationen versetzt mit Leuten, die sie gekannt hatte. Zuerst gehörten zu diesen Phantomen nicht Menschen, die sie in Alexandreia kennengelernt hatte. Sie spielte die Szenen mit einiger Hoffnung, daß sie real sein könnten. Ein Teil von ihr spielte sie ernsthaft, völlig irregeführt. Sie gab das, was sie für anständige Vorstellungen hielt. Aber ein Teil von ihr, wenn auch unentschieden, war immer skeptisch.

Oft begegnete sie Patrikia. Oft wurden bestimmte Szenen wiederholt. Auf diese Weise wurde ihr eigenes Gedächtnis an die Oberfläche geholt, und Rhita erhielt eine Gelegenheit, es Revue passieren zu lassen, gleichzeitig mit den Jarts.

All das änderte sich nach einer unmeßbaren Zeit. Ihr Leben faßte Wurzeln. Sie wurde zu einer Studentin in Alexandreia. Diese Täuschung wurde durch ihre Fänger nicht unterbrochen.

Sie blieb im Schlafsaal der Frauen, kämpfte sich durch soziale und politische Ächtungen und besuchte Kurse in Mathematik und Ingenieurwesen. Sie hoffte, bald ihre Studien der Theoretischen Physik beginnen zu können.

Demetrios wurde ihr Didaskalos. Der kleine Teil von ihr, der noch in Skepsis verharrte, fragte sich, ob es die reale Psyche von Demetrios wäre. Er hatte etwas Überzeugenderes an sich.

Ihre ganze Umgebung war so real, daß sie begann, sich zu entspannen. Ihr skeptisch gebliebenes Ich verblaßte, bis sie solche Erinnerungen nur als vorübergehende Täuschungen ansah. Die letzte Wahrnehmung dieser entschwindenden skeptischen Rhita war: Endlich sind sie mit meinem Wächter fertig geworden.

Danach wurde Alexandreia real, wenn auch zeitweilig etwas schief.

Sie erinnerte sich überhaupt nicht an die Reise durch die Steppen.

Rhita gewann die meisten ihrer akademischen Kämpfe. Demetrios schien an ihr ein Interesse zu nehmen, das über die normale Beziehung zwischen Didaskalos und Student hinausging. Sie hatten etwas gemeinsam, das keiner von beiden definieren konnte.

Die Tage vergingen, und der aigyptische Winter kam; trocken wie gewöhnlich, aber kühler. Sie machten eine Bootsfahrt auf Mareotis. Er bekannte, daß er ihr fast ebenso viel beigebracht hatte, wie er selbst wußte, außer politischer Weisheit. Er sagte ihr: »Die scheinst du nur langsam aufzunehmen.« Sie bestritt das nicht und erklärte, daß sie Ehrenhaftigkeit für eine bessere Politik hielte als sich bloß anzupassen.

»In Alexandreia ist es nicht so«, sagte er. »Nicht einmal für die Enkelin von Patrikia. Für sie ganz besonders nicht.«

Weiße Ibisse stolzierten durch flache Schilfgewässer nahe den Schutzmauern aus Sandstein und Granit, die tausend Jahre lang die alten Grenzen von Mareotis gesichert hatten. Rhita saß im Boot und suchte sich verzweifelt an etwas zu erinnern. Ihr Kopf schmerzte. Vielleicht empfand sie den Druck der Aufmerksamkeit ihres Didaskalos. Diese war nicht unwillkommen, aber es hatte etwas gegeben, das noch dringlicher war… Eine Zusammenkunft mit der Königin? Wann würde es dazu kommen?

»Ich warte immer noch auf meinen Termin mit Kleopatra«, sagte sie ohne besonderen Anlaß.

Demetrios lächelte. »Eine Aktion deines Vaters?«

»Ich nehme das an«, sagte sie. Ihr Kopf schmerzte noch mehr.

»Er will den Bibliophylax hinausjagen.«

»Ich glaube nicht, daß das der Grund ist… Man braucht immer viel Zeit, um die Königin zu sehen.«

»Das ist durchaus verständlich. Sie ist sehr beschäftigt.«

Rhita drückte die Hände an ihre Wangen. Sie fühlten sich an wie… nichts Festes.

»Ich muß an das Ufer zurück«, sagte sie ruhig. »Mir ist schlecht.« Vielleicht war es damals, daß sich die lange, beständige Täuschung zu enthüllen begann, und nicht wegen derer, die sie gefangen hatten. Irgend etwas in Rhitas Psyche ging schief. Alles, was sie gesehen und in ihren geheimen Gedanken ausgebrochen empfunden hatte, suchte Befreiung.

Die Tage schienen nur langsam zu vergehen. Sie studierte, bemühte sich, nachts ruhig zu schlafen. Aber Schlaf war eine merkwürdige Sache, eine Leere innerhalb einer Leere.

Sie träumte in diesen wirren Schlafperioden von einem jungen Mädchen, das an die Tür ihrer Großmutter klopfte und hinein wollte. Wer war dieses junge Mädchen, das Patrikia sehen wollte, wenn sie sehr beschäftigt war und sich um niemanden kümmern konnte? Das junge Mädchen weinte und wurde dünner, es verhungerte. Eines Nachts war sie in den Träumen nur noch eine Hülse, eingehüllt in ein enges Leinentuch und nach Kräutern riechend. Sie plumpste gegen die Tür wie eine Rolle aus steifem Tuch mit herunterhängenden Kiefern. In der nächsten Nacht war sie nicht dort, aber das Klopfen ging immer weiter, leer und verzweifelt.

Patrikia gewährte dem Mädchen niemals eine Audienz.

Schließlich bekam Rhita aber eine Audienz bei der Königin. Sie ging durch die Privatgemächer und bemerkte, daß Oresias in einer Ecke saß und in einer sehr dicken und sehr langen Buchrolle las, wie ein altertümlicher Gelehrter. An der Wand sah sie ein Begräbnisbild von Jamal Atta.

Und dann führte sie ein rothaariger Kelte in das innerste Gemach der Königin, ihr Schlafzimmer, tief im Palast, umgeben von vielen dunklen und stillen Stützen aus Stein. Der Raum roch nach Weihrauch und Krankheit. Rhita musterte den Kelten, der sie mit Augen ansah, die äußerlich feierlich, innerlich aber verschreckt wirkten. Sie sagte: »Ich möchte deinen Namen wissen.«

»Geh hinein!« sagte der Kelte. »Kümmere dich nicht um meinen Namen, geh hinein zur Königin!«

Die Königin war krank, soviel war deutlich. Rhita sah sie auf ihrem langen weißen Federbett, in die Pelze exotischer Tiere aus dem südlichen Kontinent gehüllt. Um sie herum hingen goldene Öllampen und auch schwache elektrische Lampen. Die Königin war sehr alt, abgemagert, weißhaarig und trug ein schwarzes Gewand. Objekte in Holzkästen lagen um das Bett verstreut. Rhita blieb an der rechten Ecke des Bettes stehen. Die Augen der Königin folgten ihr.

»Du bist nicht Kleopatra«, sagte Rhita.

Die Königin antwortete nicht und beobachtete sie bloß.

»Ich muß mit Kleopatra sprechen.«

Rhita wandte sich um und erblickte Lugotorix – so war sein Name – am Eingang zum Schlafzimmer. Sie sagte: »Ich bin nicht an der richtigen Stelle.«

»Das ist niemand von uns, Herrin«, sagte der Kelte. »Erinnere dich daran! Ich bin stark, aber es ist schwierig. Erinnere dich!«

Rhita zitterte, fühlte aber keine tiefe Angst.

Typhon kam aus den Schatten, unverzerrt, ebenso überzeugend jetzt wie Lugotorix. Sein Gesicht war von Erfahrung gekennzeichnet, die Augen weise und menschlicher. »Du hast die Erlaubnis, dich jetzt zu erinnern«, sagte der Begleiter.

Ewigkeit
titlepage.xhtml
Ewigkeit_split_000.html
Ewigkeit_split_001.html
Ewigkeit_split_002.html
Ewigkeit_split_003.html
Ewigkeit_split_004.html
Ewigkeit_split_005.html
Ewigkeit_split_006.html
Ewigkeit_split_007.html
Ewigkeit_split_008.html
Ewigkeit_split_009.html
Ewigkeit_split_010.html
Ewigkeit_split_011.html
Ewigkeit_split_012.html
Ewigkeit_split_013.html
Ewigkeit_split_014.html
Ewigkeit_split_015.html
Ewigkeit_split_016.html
Ewigkeit_split_017.html
Ewigkeit_split_018.html
Ewigkeit_split_019.html
Ewigkeit_split_020.html
Ewigkeit_split_021.html
Ewigkeit_split_022.html
Ewigkeit_split_023.html
Ewigkeit_split_024.html
Ewigkeit_split_025.html
Ewigkeit_split_026.html
Ewigkeit_split_027.html
Ewigkeit_split_028.html
Ewigkeit_split_029.html
Ewigkeit_split_030.html
Ewigkeit_split_031.html
Ewigkeit_split_032.html
Ewigkeit_split_033.html
Ewigkeit_split_034.html
Ewigkeit_split_035.html
Ewigkeit_split_036.html
Ewigkeit_split_037.html
Ewigkeit_split_038.html
Ewigkeit_split_039.html
Ewigkeit_split_040.html
Ewigkeit_split_041.html
Ewigkeit_split_042.html
Ewigkeit_split_043.html
Ewigkeit_split_044.html
Ewigkeit_split_045.html
Ewigkeit_split_046.html
Ewigkeit_split_047.html
Ewigkeit_split_048.html
Ewigkeit_split_049.html
Ewigkeit_split_050.html
Ewigkeit_split_051.html
Ewigkeit_split_052.html
Ewigkeit_split_053.html
Ewigkeit_split_054.html
Ewigkeit_split_055.html
Ewigkeit_split_056.html
Ewigkeit_split_057.html
Ewigkeit_split_058.html
Ewigkeit_split_059.html
Ewigkeit_split_060.html
Ewigkeit_split_061.html
Ewigkeit_split_062.html
Ewigkeit_split_063.html
Ewigkeit_split_064.html
Ewigkeit_split_065.html
Ewigkeit_split_066.html
Ewigkeit_split_067.html
Ewigkeit_split_068.html
Ewigkeit_split_069.html
Ewigkeit_split_070.html
Ewigkeit_split_071.html
Ewigkeit_split_072.html
Ewigkeit_split_073.html
Ewigkeit_split_074.html
Ewigkeit_split_075.html
Ewigkeit_split_076.html
Ewigkeit_split_077.html
Ewigkeit_split_078.html
Ewigkeit_split_079.html
Ewigkeit_split_080.html
Ewigkeit_split_081.html
Ewigkeit_split_082.html
Ewigkeit_split_083.html
Ewigkeit_split_084.html
Ewigkeit_split_085.html
Ewigkeit_split_086.html
Ewigkeit_split_087.html
Ewigkeit_split_088.html
Ewigkeit_split_089.html
Ewigkeit_split_090.html