35
Als Catharina am Montag bei Tagesanbruch zur Fortsetzung der Tortur in den Keller gebracht wurde, zitterte sie vor Angst und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Doktor Frauenfelder schob ihr mit dem Fuß einen wackligen Schemel hin. Catharina setzte sich und legte ihre auf immer zerstörten Hände in den Schoß.
«Der Schreiber muss gleich hier sein, er ist noch wegen eines Gutachtens in der Fakultät», sagte Frauenfelder zu den beiden Schöffen. «Henker, erklärt der Hexe, wie es weitergeht.»
Die Richter nahmen Platz an ihrem Tischchen, auf dem ein großer Krug Wein mit vier Gläsern bereitstand.
«Wenn Ihr jetzt nicht gesteht, werde ich Euch aufziehen müssen», sagte der Henker. Dann fuhr er leise fort: «Unten auf der Straße hat mich ein Mann angesprochen. Er hat keinen Namen genannt, hatte aber auffallend blaue Augen. Er bat mich, Euch auszurichten, dass er immer in Eurer Nähe sei.»
Wimmerlin und der Sohn des Henkers traten ein. Frauenfelder stand auf und kam gemessenen Schrittes auf Catharina zu.
«Gesteht Ihr, eine Hexe zu sein und mit dem Leibhaftigen gebuhlt zu haben?»
«Ich bin unschuldig!»
«Bleibt Ihr dabei?»
«Ja, Euer Ehren.»
«Zieht sie aus und untersucht, ob sie Amulette oder sonstige Zaubermittel versteckt hält.»
Ungeduldig zog der Sohn des Henkers sie vom Schemel hoch und riss ihr die verschmutzten, von Ratten und Ungeziefer angefressenen Kleider vom Leib. Splitternackt stand sie da, schutzlos den Blicken von sechs Männern ausgesetzt. Spätestens in diesem Augenblick brach Catharinas Würde restlos in sich zusammen. Gott schien sie aufgegeben zu haben, zur Strafe für irgendein Vergehen, dessen sie sich nie bewusst gewesen war.
Ohne Widerstand ließ sie sich den Kopf scheren, dann Achseln und Schamhaare. Gleichgültig nahm sie die lüsternen Blicke des jungen Henkers wahr, als er ihr mit seinen rauen Händen erst die Hinterbacken, dann genüsslich die Scheide auseinander drückte, um irgendeinen vermeintlichen Schadenszauber zu entdecken. Anschließend wurde ihr der sackleinene Marterkittel übergezogen. Der Junge führte sie zum Seilaufzug und fesselte ihr die Hände auf dem Rücken, während sein Vater die Sperre an der Seilwinde löste.
«Ein Miserere lang aufziehen, dann fallen lassen», kam die knappe Anweisung von Frauenfelder. Schmatzend kostete er von dem rubinrot funkelnden Wein.
Das lose Ende des Seils wurde hinter ihrem Rücken an den gefesselten Händen befestigt, dann hoben sich ihre Hände durch den Zug des Seils, langsam, ganz langsam in die Höhe. Zunächst spürte Catharina überhaupt nichts, doch als sich ihre Füße vom Boden lösten und ihr ganzes Gewicht an den nach hinten verdrehten Schultergelenken zerrte, glaubte sie, Himmel und Erde gingen unter. Eine riesige Klammer schien ihren Brustkasten zusammenzupressen, sie wollte schreien, bekam aber keine Luft, und ihrem geöffnetem Mund entrang sich nur stoßweise ein Röcheln. In dem Moment, als sie dachte, jetzt sei alles vorbei, jetzt dürfe sie endlich sterben, wurde sie aus großer Höhe auf den Steinboden geschleudert, wo sie halb besinnungslos liegen blieb.
«Noch einmal aufziehen, diesmal langsamer, und hängen lassen.»
Catharina hörte ihr eigenes Stöhnen und Wimmern nicht, noch das Reißen ihrer Sehnen und Bänder, noch das leise Knacken, als ihre Arme aus den Schultergelenken auskugelten. Ihr war schwarz vor Augen, und ihr ganzer Körper loderte vor Schmerzen.
Frauenfelder drückte dem Henker eine Lederpeitsche in die Hand. Dann prasselten seine Fragen auf Catharina nieder, jede einzelne von einem scharfen Peitschenhieb unterstrichen:
«Habt Ihr Euch mit dem Teufel fleischlich vereinigt? In welcher Gestalt kam er? Wann zum ersten Mal? Was habt Ihr dem Teufel versprochen, was hat er Euch gegeben? Wie oft seid Ihr zum Sabbat ausgefahren? Wer waren Eure Gespielinnen? Wie oft habt Ihr Wetter gemacht? Wem habt Ihr mit Eurem Hexenzauber geschadet? Wart Ihr nachts auf dem Kirchhof, um Kinder auszugraben? Wie viel Menschen, Vieh und Kinder habt Ihr umgebracht? Wer hat Euch dabei geholfen? Sprich lauter, du Hexenweib, ich versteh dich nicht!»
«Ich – gestehe – alles.»
Der Henker ließ auf Frauenfelders Zeichen hin das Rad los. Mit einem dumpfen Schlag fiel Catharina auf den Boden zurück und blieb mit verrenkten Gliedern und blutgetränktem Rücken liegen.
«Bringt ihr was zu trinken!»
Keuchend schnappte sie nach Luft, als der Henker sie vorsichtig aufrichtete. Sie spuckte einen Schwall Blut aus, denn der zweimalige Sturz hatte ihr einige Zähne ausgeschlagen und außerdem eine klaffende Wunde auf der Stirn zugefügt.
«Versucht, in kleinen Schlucken zu trinken», sagte der Scharfrichter und hielt ihr den Becher an die Lippen.
Und dann brachte Catharina ihr Geständnis vor.
Wimmerlins Feder flog nur so über das Papier, vor Anstrengung biss er sich die Unterlippe wund, während Catharina, hin und wieder von Frauenfelders eindringlichen Fragen in die richtige Richtung geführt, stockend und mit heiserer Stimme ihre Vergehen aufzählte.
Ja, sie habe sich dem Teufel verschrieben, als Mädchen schon. Er sei ihr in der Gestalt eines jungen Mannes in der Lehmgrube draußen vor der Stadt erschienen, habe sie begehrt, und sie habe sich ihm fleischlich hingegeben. Ja, er sei kalter Natur gewesen, und sie habe ihm zu Willen Gott verleugnet, es aber gleich herzlich bereut. In späteren Jahren sei er ihr in anderer Gestalt erschienen, immer aber schwarzhaarig und dunkel. Ihr Buhle habe sie in Schadenzauber unterrichtet, und sie habe den Zauber verschiedene Male gegen Männer verwandt – gegen welche Männer, könne sie nicht mehr sagen. Mitunter habe ihr der Teufel auch gegen ihren Mann beigestanden, den Schlossermeister Bantzer, denn der habe sie die letzten Jahre ihrer Ehe übel gehalten, vor allem, wenn er betrunken war und sie sich vor seinen Schlägen die halbe Nacht auf dem Dachboden verstecken musste. Nein, den Kindern der Heißlerin habe sie kein Leid getan, wohl aber habe sie einmal ihr eigenes Neugeborenes ihrem Buhlen zuliebe umgebracht. Viele Male sei sie mit einem gesalbten Stecken nachts auf den Bromberg und in das Mösle ausgefahren, da standen Tische, gedeckt mit guten Speisen, Gebratenem und Wein, den ihr ihr Buhle aus einem silbernen Becher zu trinken gegeben habe. Dann hätten Lautenschläger zum Tanz aufgespielt. Wer die Gespielinnen gewesen seien? An diesem Punkt geriet Catharinas Redestrom das einzige Mal ins Stocken. Sie musste Namen nennen, heilige Mutter Gottes, jetzt musste sie Namen nennen.
Die meisten habe sie nicht gekannt, flüsterte sie zögernd, bis auf die Vischerin, die Mößmerin und die Wolffartin. Ja, die seien jedes Mal dabei gewesen.
Catharina ließ den Kopf auf die Brust sinken und schwieg. Befriedigt rieb sich Frauenfelder die Hände.
«Zum Schluss gestehen die Weiber doch alle. Immer wieder zeigt sich», dozierte er, «wie Recht unser ehrwürdiger Institoris hatte: So leichtgläubig und schnell verführbar die Weiber sind, so wenig Stärke und Widerstand zeigen sie bei der Tortur. Wie schreibt er doch in seinem großen Werk, dem Malleus maleficarum? Die Frauen seien in allen Kräften, der Seele wie des Leibes, mangelhaft.»
Wimmerlin nickte eifrig. Die Bewunderung für Frauenfelders Ausführungen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Commissarius stieß ihn in die Seite.
«Habt Ihr alle Aussagen verzeichnet, Wimmerlin? Bis morgen müsst Ihr das Protokoll ins Reine geschrieben haben. Und Ihr», wandte er sich an Catharina, «werdet, sobald Euch der Henker einigermaßen wiederhergestellt hat, Eure Urgicht ordnungsgemäß vor den sieben Zeugen bestätigen.»
Durch dichten blaugrauen Nebel sah Catharina, dass die Männer, bis auf den Sohn des Henkers, den Keller verließen. Dann schloss sie die Augen. Plötzlich durchfuhr sie ein höllischer Schmerz: Jemand hatte sie unsanft auf ihren wunden Rücken gedreht, und ein schweres Gewicht ließ sich auf ihren geschundenen Körper nieder. Sie glaubte im ersten Moment, dass die Folter nun fortgesetzt würde. Doch es war der Henkerssohn, der sich keuchend, mit offenem Hosenlatz, auf sie gelegt hatte und nun versuchte, in sie einzudringen.
«Mal schauen, ob dir dein Teufelsbuhle zu Hilfe kommt, vermaledeite Hure. Mir jedenfalls macht er keine Angst. Verdammt nochmal, mach die Beine breit!»
Volle fünf Tage verbrachte Catharina noch in der Dunkelheit des Christoffelturms, fünf Tage, in denen der Scharfrichter ihre ausgekugelten Glieder wieder einrenkte, den Verband ihrer zerquetschten Finger wechselte, mit Öl aus Alraun und Zaubernuss das brandig gewordene linke Bein behandelte und die eitrigen Schwären am Rücken reinigte. Mit einem Geheimrezept aus Baldrian, Haselwurz, Steinbrech und einer Spur Schierling linderte er ihr Fieber und ihre Schmerzen. Der Alte verstand sein Handwerk, denn er hatte nicht nur das Töten, sondern auch das Heilen gelernt.
Doch von all dem, was in diesen fünf Tagen mit ihr geschah, nahm sie kaum etwas wahr. Sie wusste nicht, dass nur wenige Schritte neben ihr ihre todkranke Freundin Margaretha Mößmerin in Ketten lag und ein Stockwerk unter ihr die Witwe des reichen Tuchhändlers, Anna Wolffartin. Einen ihrer wenigen klaren Momente hatte sie, als eines Morgens der Untersuchungsrichter mit sieben Zeugen in ihrem Gefängnis aufmarschierte und ihre unter der Folter erpresste Urgicht verlas. Erstaunt lauschte sie den Sätzen, die aus ihrem Mund stammen sollten. Fremde Worte, seltsame Dinge, die augenscheinlich mit ihr zu tun hatten. Sie schüttelte den Kopf, nein, das könne nicht von ihr sein. Kurz darauf erschien der Henker mit den Beinschrauben, die er an ihr gesundes Bein anlegte, und es bedurfte eines einzigen Zugs der Schraube, um Catharina im Namen Gottes bekennen und die genannten Verbrechen bestätigen zu lassen. Dann bat sie, ihr Testament machen zu dürfen und dass ein Priester sie aufsuche. Der Priester kam am selben Tag, er war nicht allein.
«Gute Frau, habt Ihr noch einen Wunsch, den ich Euch in den nächsten Tagen erfüllen könnte?» Textors Stimme zitterte.
«Nein – nichts, es ist – vorbei. Warum – nur?»
Catharina hatte Mühe zu sprechen. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper.
«Oder doch. Einen Brief an meine Freundin Lene Schillerin. Sie – ihre Kinder – meine Tochter – sollen wissen, dass ich unschuldig bin.»
Textor nickte. «Das wird sich machen lassen.»
Nachdem die Männer gegangen waren, fiel sie wieder in ihren Dämmerzustand. Einzig die Besuche Textors brachten Licht in ihren Kerker, rissen sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Unter Textors Feder füllte sich Seite um Seite, Blatt um Blatt mit Worten, die voller Hast und ohne Unterbrechung aus Catharinas Innerstem strömten.
«Nur langsam», beruhigte sie Textor immer wieder. «Wir haben Zeit. Dieses eine Mal noch haben wir Zeit. Vergesst nicht, in den Augen des Magistrats verfasse ich eine wissenschaftliche Abhandlung.»
Aber auch diese Zeit ging zu Ende, und als Textor ein letztes Mal seine Schreibutensilien zusammenpackte und sich mit bleichem Gesicht verabschiedete, ließ sie sich vollends in ihr Schattenreich fallen, zu dem nichts und niemand mehr Zutritt hatte. Wenn sie überhaupt fähig war, etwas zu fühlen, dann die ruhige Ermattung eines Kranken, der weiß, dass er auf dem Weg der Genesung ist. Sie begegnete Marthe und stand mit ihr im blühenden Obstgarten, lief mit Moses über endlose Wiesen und Felder, ließ sich von Christoph durch dunkelblaue Wogen tragen, saß mit Marthe-Marie am Hafen von Konstanz, ihrer Marthe-Marie, in der sie weiterleben würde. Immer wieder besuchte sie ein winziger Greis mit roter Kapuze und leeren Augenhöhlen, der ihre Hand hielt und mit trauriger Stimme bedauerte, dass sie nicht mehr auf sich Acht gegeben und auf seinen Rat gehört habe. Auch Michael Bantzer kam, doch sie schickte ihn weg, ebenso wie Benedikt.
Dann erschien Lene, mitten in der Nacht, mit einer blakenden Tranlampe in der Hand, und streichelte ihr über das Gesicht. Ihr Haar war grau geworden, ihre Wangen tränennass.
«Weine nicht, es ist doch alles gut», sagte Catharina, obwohl ihr das Sprechen sehr schwer fiel. «Wie geht es den Kindern? Hast du sie mitgebracht?»
«Ferdi hat mich begleitet, er wartet bei dir zu Hause auf uns.»
Catharina sann darüber nach, was Lenes Worte zu bedeuten hatten. Erst nach geraumer Zeit fand sie in die Wirklichkeit zurück.
«Wie – bist du – hereingekommen?»
«Der Wächter hat mich eingelassen. Ich habe den Schlüssel für deine Ketten.»
Ich kam zu spät. Catharina hatte mit dem Leben abgeschlossen. Dabei war alles bestens vorbereitet. Wir hatten herausgefunden, dass die Katzenpforte in jener Nacht unbewacht war. Unten auf der Straße wartete Christoph, um Cathi nach Basel zu bringen. Von ihm hatte ich das Säckchen mit Goldstücken, um den Wächter zu bestechen. Christoph hatte es gut gemeint, als er mich in den Turm schickte, er glaubte, dass eine Frau das Herz des Wächters eher erweichen würde. Nun, fast hatte er Recht, wenn auch in anderem Sinne. Die Goldstücke genügten dem Hundsfott von Wächter nicht, doch es gibt Momente im Leben, Marthe-Marie, die bringt man mit geschlossenen Augen ohne Hadern hinter sich, so wie die Liebesdienste für diesen Widerling.
Als ich endlich mit den Schlüsseln in der Zelle stand und Catharina fragte, ob sie aufstehen könne, schüttelte sie den Kopf.
«Lieb von dir, dass du mich besucht hast, aber ich muss jetzt schlafen. Ich habe morgen früh viel Arbeit. Die Setzlinge müssen ins Frühbeet, und Elsbeth kommt mit dem Bierbrauen allein nicht zurecht. Und für Marthe-Maries Namenstag möchte ich noch einen Kuchen backen. Komm doch ein andermal vorbei, ja?»
«Cathi!»
Ich nahm sie bei den Schultern, wollte sie schütteln, doch sie legte mir ihre verbundene Hand auf den Mund.
«Psst, leise, Christoph schläft schon. Geh jetzt, Lene, bis bald.»
Dann streckte sie sich auf dem stinkenden Stroh aus und rührte sich nicht mehr. Ich legte mich neben sie, nahm sie in die Arme und beschloss, sie nie wieder zu verlassen. Doch irgendwann kam der Wächter und brachte mich mit Gewalt hinunter auf die Straße.
In jener Nacht ergriff mich hohes Fieber, und mein Haar färbte sich so schlohweiß, wie du es jetzt vor dir siehst. Wenn ihr Kinder nicht gewesen wärt – wer weiß, ob ich jemals meinen Lebensmut wiedergefunden hätte.
Ach ja, du fragtest eben, was aus diesem Siferlin geworden ist. Wenigstens in seinem Fall ließ der Himmel Gerechtigkeit walten. Genau ein Jahr nach Catharinas Tod wurde er der fortgesetzten Veruntreuung und des Betrugs überführt. Da er als Buchhalter im Dienste der Stadt tätig war, fiel die Strafe besonders schwer aus: Er wurde aufs Rad geflochten, ohne die Gnade der vorherigen Enthauptung.
Ich komme zum Ende, Marthe-Marie. Doch ich habe nicht die Kraft, die Worte auszusprechen. Nimm diese Blätter und lies, es sind die letzten Seiten von Doktor Textors Aufzeichnungen.
Am nächsten Morgen betrat der Henker Catharinas Gefängnis und riss als Erstes das Stroh aus der Fensteröffnung. Helles Licht strömte in den engen Raum. Verschreckt suchten die Ratten nach einem Unterschlupf. Dann befreite er Margaretha und Catharina von ihren Eisen. Blinzelnd rieb sich Catharina mit ihren verbundenen Fäusten die entzündeten Handgelenke. Wieso war es auf einmal so hell?
«Es ist so weit», sagte der Scharfrichter. «Um elf Uhr werdet Ihr abgeholt. Aufgrund eines Gnadengesuchs Eures Vogtes», er sah zu Margaretha, «und Eures Vetters aus Villingen werdet Ihr vor der Verbrennung enthauptet. Bevor wir losfahren, bringe ich Euch Eure letzte Mahlzeit und werde Euch waschen. Dann kommt der Priester. Auch Doktor Textor möchte Euch noch einmal sehen.» Er beugte sich zu Catharina hinunter. «Das ist für Euch.»
Er legte ein auseinander gefaltetes Papier neben sie. Catharina erkannte Christophs Handschrift, doch die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Hilflos blickte sie zum Scharfrichter auf. Der zuckte die Schultern.
«Ich kann leider nicht lesen.»
Mit viel Mühe schaffte Catharina es, die Nachricht zu entziffern.
«Meine Liebste! Tag und Nacht war ich in Gedanken bei dir, und die Ungewissheit, ob wir uns je in Freiheit wiedersehen, hat mich nicht mehr schlafen lassen. Warum nur habe ich dich allein in Freiburg gelassen und dich nicht, meinem Schwiegervater zum Trotz, nach Villingen geholt? Was nützt mir nun meine Erbschaft, der Gasthof und das viele Geld? Als Lene gestern allein aus dem Turm zurückkam, habe ich die ganze Nacht Zwiesprache mit Gott gehalten, und ich denke, er wird meine Entscheidung, mit dir zu gehen, verstehen und mir diese eine große Sünde verzeihen, denn sie geschieht aus reiner Liebe. Sei also unbesorgt, wie ich es jetzt auch bin, denn wir werden bald für immer zusammen sein. Kein Richter, kein Büttel wird uns dann mehr trennen können.»
Die Märzsonne schien warm von einem dunstigen Himmel, und auf der großen Gasse vor dem Christoffelstor herrschte Volksfeststimmung. Bäcker verteilten an die umherstreunenden Kinder Henkerswecken, knusprig gebackene Brötchen aus Weißmehl, an den Straßenecken standen Weinhändler und kamen nicht nach mit dem Ausschenken. Ein paar Halbwüchsige vertrieben sich die Zeit des Wartens damit, eine dreibeinige Katze mit Steinen zu jagen.
Als der Schinderkarren vorfuhr, gezogen von einem kräftigen Rappen, und sich die Tür des Christoffelturms öffnete, ging ein Raunen durch die Menge. Hölzerne Rätschen begannen zu rasseln, Topfdeckel wurden aufeinander geschlagen, Kindertröten plärrten, laute Rufe erschollen: «Heraus mit den Hexen!» «Wir wollen sie brennen sehen!»
Anna Wolffartin erschien als Erste und bestieg den Wagen. Als Einzige konnte sie auf eigenen Beinen stehen. Dann wurden Margaretha Mößmerin und Catharina Stadellmenin herausgeschleppt und auf den Karren geschoben. Als sich der Wagen ruckend in Bewegung setzte, fielen die Frauen in sich zusammen wie ein Haufen Lumpen. Vorweg, auf hochbeinigen Schimmeln, ritten der Priester, der Schultheiß und Statthalter Renner, gefolgt von den Richtern und Stadträten. Die Vertreter der Zünfte waren feierlich in blank geputzten Harnischen angetreten. Einzig Doktor Textor fehlte in ihren Reihen, er war einen Tag zuvor von allen Ämtern und Titeln zurückgetreten. Ein gutes Dutzend Büttel bewachte den Karren und versuchte, die Verurteilten vor der Meute zu schützen. Hinter dem Wagen schließlich trotteten der Henker und sein Sohn.
Wie ein Bienenschwarm folgte die Menge dem Zug Richtung Münsterplatz, räudige Hunde rannten kläffend nebenher, und die ersten Wurfgeschosse landeten auf dem Schinderkarren. Ein Stein traf Anna Wolffartin am Hinterkopf, und das Geschrei der Leute steigerte sich zu tosendem Gebrüll, das das eben einsetzende Glockengeläute vom Münster übertönte.
Wehe, wenn der Pöbel losgelassen wird, dachte Textor unwillig und schlug einem der jungen Burschen einen Stein aus der Hand. Er fragte sich, wer der hagere Mann vor ihm war, der, in einen schwarzen Umhang gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, neben dem Wagen herschritt, so dicht, wie es die Büttel zuließen.
In der Vorhalle des Münsters nahmen die Richter und Schöffen Aufstellung, hoch über ihren Köpfen das erst vor kurzem erneuerte Relief des Jüngsten Gerichts. Nachdem der letzte Glockenschlag verhallt war, trat August Wimmerlin vor, mit stolzgeschwellter Brust, denn er hatte die ehrenvolle Aufgabe, die Geständnisse der drei Hexen und ihr Urteil zu verlesen.
«Auf Montag, den 22. März anno 1599, hat Margaretha Mößmerin, weiland Herrn Jacob Bauren seligen gewesenen Obristmeisters hinterlassenen Witwe vor den verordneten Herren Siebener, aller Banden ledig und los, im St. Christoffelsturm gütlich gestanden und der Hexerei halber bekannt, wie folgt:
Dass erstlich wahr sei, dass vor zehn Jahren ein schwarzer Mann zu ihr in den Garten spät gegen Abend gekommen sei und an sie begehrt habe, sie solle seines Willens mit ihm pflegen. Das habe sie getan, und er sei kalter Natur gewesen.
Item sei wahr, derselbe hab sich mit Namen Hemmerlin genannt und ihr Stecken und Salbe in einem Büchslein geben, den Stecken oder die Gabel damit zu salben.
Item sei wahr, dass sie auf demselbigen Stecken vergangener Jahre hinaus in den Bromberg gefahren, dass die Stadellmenin, die Wolffartin, auch Schneckenanna genannt, und sonst viel andere Weiber, die sie nicht kenne, bei ihr gewesen seien, und haben daselbst gegessen und getrunken.
Item sei wahr …»
Gespannt starrte die Menge während dieser endlosen Litanei auf die drei Frauen, wie sie sich wohl aufführen würden, jetzt, wo ihnen in aller Öffentlichkeit ihre Schandtaten vorgehalten wurden. Doch keine von ihnen regte sich, wie Mehlsäcke lagen sie aneinander, die Köpfe zur Brust gesenkt. Waren sie überhaupt noch bei Bewusstsein?
Textor spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Zu Hause, in seiner Eichenholztruhe, stapelten sich Hunderte von eng beschriebenen Blättern, ein dickes Bündel Papier, das die Wahrheit über diese Frauen enthielt. Eine Wahrheit, die niemand hören wollte. Doch eines Tages würde man diesen Zeilen Glauben schenken müssen, und er, Carolus Textor, würde sich mit all seiner Kraft dafür einsetzen. Gleich morgen würde er beginnen, alles ins Reine zu schreiben und besagter Lene Schillerin in Konstanz eine Abschrift zukommen zu lassen.
«Nicht einmal in ihrer letzten Stunde zeigen sie Bußfertigkeit», flüsterte eine alte Frau neben ihm erbost. «Wie sollen sie auch», gab eine andere zurück. «Wo ihnen der Leibhaftige doch bis zuletzt zur Seite steht.»
Textor sah, wie sich der hagere Mann in der zerschlissenen schwarzen Kutte nach vorn schob. Sein Blick war fest auf Catharina Stadellmenin gerichtet, seine Worte übertönten Wimmerlins Stimme:
«Hab keine Angst, ich bin bei dir.»
Langsam hob die Stadellmenin den Kopf. Mit geröteten Augen und zerschlagenem Gesicht betrachtete sie den Mann vor sich, und plötzlich schien sie zu erkennen, schien sich zu erinnern und begann zu lächeln, wie beim Anblick eines unerwarteten Glücks. Ihre Lippen formten lautlose Worte, und Textor fragte sich, ob sie Zwiesprache mit ihrem Gegenüber oder mit Gott hielt.
Wimmerlin sprach schneller und warf immer wieder ängstliche Blicke auf die Menge, die zusehends unruhiger wurde. «Anfangen!» «Entzündet das Feuer!» «Worauf wartet Ihr noch, in die Flammen mit den verdammten Hexen!»
Auf einen Wink des Schultheiß pflanzte sich die Stadtwache breitbeinig vor dem Henkerskarren auf und drängte die Leute mit gekreuzten Lanzen zurück. Da läutete ein Glöckchen. Der Schultheiß erhob sich, trat unter den mächtigen Torbogen des Portals und hob zur Urteilsverkündung einen zierlichen Stab in die Höhe. Augenblicklich trat Ruhe ein. Wimmerlin räusperte sich und versuchte seiner Stimme einen strengen und zugleich feierlichen Klang zu geben.
«Bürger Freiburgs, hört nun das Urteil:
Nach solchem Bekennen wird vom Hohen Gericht zu Recht erkannt, dass Margaretha Mößmerin, Herrn Jacob Bauren seligen Witwe, Anna Wolffartin, Alexander Schellen seligen Witwe, und Catharina Stadellmenin, Michael Bantzers seligen Witwe, als Hexen überführt sind und dieselbigen um ihre begangene Missetat und getriebener Hexerei willen erstlich aus Gnaden auf geschehene Fürbitte auf dem Schutzrain enthauptet, danach hinaus zum Hochgericht geführt und daselbst die Körper zu Asche verbrannt werden sollen. Gott verzeihe der armen Seelen. Amen.»
«Amen», kam es aus Hunderten von Kehlen rau zurück. Dumpfe Trommelwirbel ertönten, dann zerbrach der Schultheiß den Stab und warf ihn vor den Henkerskarren aufs Pflaster. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung wie ein schwerfälliges Tier und schob sich durch die Gassen zum Schutzrain, der vor der äußeren Stadtmauer lag. Fast Schulter an Schulter ging Textor mit dem Mann in der Kutte.
Als der Henker das in schwarzes Tuch gehüllte Richtschwert vom Wagen nahm, erschien der Priester. Vom Pferd herab schwang er sein Kruzifix. «Ora pro nobis», hob er an, doch seine Stimme ging unter im Lärm der Topfdeckel und Rasseln.
Dann, als Catharina Stadellmenin zwischen den beiden anderen Frauen vor dem Richtblock kniete und der Henker sein Schwert hob, wurde es still. Die meisten bekreuzigten sich, der verhüllte Mann in vorderster Reihe der Zuschauer fiel auf die Knie und entblößte sein Haupt. Jetzt erst erkannte Textor ihn: Es war der Villinger Gastwirt Christoph Schiller, Vetter der Stadellmenin und, wie Textor inzwischen wusste, ihr heimlicher Gatte.
Textor beobachtete, wie Christoph Schiller den Kopf hob und sich die Blicke der Geliebten trafen, mehr noch: ineinander ruhten, als seien die beiden fernab dieses grauenhaften Schauplatzes allein auf der Welt. Über Catharina Stadellmenins geschundenes Gesicht ging ein Leuchten, ihre Augen verloren jegliche Stumpfheit und strahlten Zuversicht und Erlösung aus, den Glanz grenzenloser Liebe.
Dann pfiff das Schwert durch die Luft, einmal, zweimal, ein drittes Mal. Textor betete laut das schmerzvollste Gebet seines Lebens, die Worte «Gegrüßest seist du, Maria, gebenedeit die Frucht deines Leibes» gellten aus seiner Brust und flehten um Gnade für jegliche Schuld, die er am Tod dieser Frauen tragen mochte. Dann, von einer Sekunde auf die nächste, war alles vorüber.
Keiner der Gaffer, nicht einmal der ehemalige Commissarius Carolus Textor, hatte bemerkt, was mitten in ihren Reihen geschehen war, dass da ein Mann regungslos auf der Erde kauerte, als wolle er den staubigen Boden küssen, und sich nicht einmal rührte, als die kopflosen Körper aufgeladen und selbst die Greise und Lahmen längst auf dem Weg zum Scheiterhaufen waren, um endlich die Hexenleiber in Flammen aufgehen zu sehen.
Erst als die Haufen lichterloh brannten und der Feuerschein bis weit über die Stadt hinaus zu sehen war, traf ein Trupp Stadtknechte ein, um die Richtblöcke vom Blut zu säubern. Mit einem kräftigen Fußtritt warf einer von ihnen den leblosen Mann auf die Seite und entdeckte, dass tief in seiner Brust ein Dolch steckte.
Marthe-Marie erhob sich und legte den Kopf in Lenes Schoß. Als das Herdfeuer erloschen war, sah sie auf.
«Nein, meine Mutter war keine Hexe. Ich bin stolz auf sie, auf ihren Mut und auf ihre Stärke.»
Lene schluckte. «Aber du siehst, wohin das geführt hat.»
«Trotzdem!»
Nachbemerkung:
Ebenso wie Catharina Stadellmenin hatten sich auch die beiden anderen Verurteilten auf die Frage nach ihren Gespielinnen gegenseitig angegeben sowie die Namen von bereits hingerichteten Frauen genannt. Die Verfolgungen hörten damit fürs Erste auf.
Bis vier Jahre später der Hexenwahn erneut ausbrach.