10

Als Catharina neunzehn Jahre alt war, brach in der Stadt die Pest aus. Vorausgegangen war in jenem feuchtwarmen Frühjahr eine Rattenplage, wie sie die Einwohner noch nie erlebt hatten. In Rudeln huschten die Tiere selbst tagsüber durch die verschlammten Gassen. Der Magistrat untersagte bei strengsten Strafen, weiterhin Küchenabfälle und Kot auf die Straße zu kippen, konnte diese Gewohnheit aber kaum eindämmen.

Zunächst traf die Epidemie ein paar Alte und Hinfällige. Nach ein paar Tagen hohen Fiebers erschien deutlich sichtbar das Zeichen für diese Geißel Gottes: Die Kranken bekamen blaue Beulen unter den Achseln, die Zunge wurde schwarz und rissig. Wenn sie dann schwarzes Blut erbrachen, war es von jetzt auf nachher vorbei mit ihnen.

Die Kunde vom schwarzen Tod verbreitete sich wie ein Blitz durch die Gassen. Wer irgendwo auswärts Freunde oder Verwandte hatte, verließ mit ein paar wenigen Habseligkeiten die Stadt, die Übrigen verbarrikadierten ihre Türen und Fenster und beteten, dass Gott ihr Haus verschonen möge.

Doch die Seuche war nicht aufzuhalten. Wie ein Geschwür breitete sie sich in der Stadt aus, am heftigsten waren die engen Vorstädte betroffen. Die Schreiner kamen nicht nach mit der Fertigung von Bahren für die Erkrankten und die Toten, die in die eilig ausgehobenen Massengräber gekippt und anschließend mit Kalk überschüttet wurden. Der Handel mit Amuletten und  Wundermitteln wie Wieselblut, getrockneten Rabeneiern und Wolfsherzen blühte, in den Häusern der Kranken stank es nach Weihrauch, Moschusäpfeln und Gewürzsträußen, deren Geruch die Pest aus der Stube vertreiben sollte. Trotz Verbots seitens der Kirche tauchten die ersten Geißler auf, barfüßige, zerlumpte Männer und Frauen, die sich den nackten Rücken mit geflochtenen Riemen und Ruten blutig schlugen. «Tut Buße, tut Buße, erniedrigt euch vor dem Herrn», riefen sie in die menschenleeren Straßen.

Der Magistrat trug das Seine dazu bei, die Epidemie einzudämmen. Eilends wurde eine Pestordnung verfasst und vor dem Hauptportal des Münsters verlesen und aufgehängt: An erster Stelle stand ein Aufruf an die Bürger zu einem tugendhaften, bußfertigen und gottgefälligen Lebenswandel. Dann folgten ausführliche Verfügungen zu Ordnung und Sauberkeit im Haus und in den Gassen, zum Umgang mit den Infizierten, Genesenden und Leichnamen und zuletzt zahlreiche Verbote von Festen und Lustbarkeiten aller Art.

Das Leben in Freiburg schien vor Angst gelähmt. Bis auf ein paar Mönche, die Beginenschwestern und eine Hand voll beherzter Frauen und Männer kümmerte sich niemand mehr um die Kranken. Erfüllte sich jetzt die Offenbarung des Johannes? «Und der dritte Teil aller Kreaturen wird sterben.» Wer war als Nächster an der Reihe? Am siebten Tag nach Ausbruch der Pest führten die Franziskaner eine Prozession durch. Vorweg gingen die Träger mit der lebensgroßen von Pfeilen durchbohrten Holzfigur des heiligen Sebastian, des Helfers der Pestkranken. Mit dem «Miserere nobis» auf den Lippen zogen die Mönche von Kirche zu Kirche. Aber es half alles nichts, weder die Reichen noch die Jungen, noch die Kräftigen wurden verschont.

Von alledem war in Lehen wenig zu spüren. Es gab keine Opfer zu beklagen, und aus Sicherheitsgründen ließ die Dorfgemeinde ein paar Tage nach Ausbruch der Seuche keine Freiburger mehr ein. Marthe schloss den Gasthof. Ihr Vetter Berthold vom Schneckenwirtshaus hatte mit seiner Familie Unterschlupf bei ihr gefunden. Weder seine noch Marthes Familie jedoch konnte die freie Zeit so recht genießen. Sie setzten Hausrat instand, weißelten die Hofmauer neu, saßen bei Spielen und Gesprächen zusammen, aber die Zeit schien stillzustehen.

Catharina hatte erfahren, dass Christoph nach Lehen zurückkehren wollte, sobald die schreckliche Epidemie ein Ende finden würde. Seine Frau hatte inzwischen eine Tochter zur Welt gebracht.

Eines Abends, als sie für einen Augenblick mit Berthold allein war, fragte Catharina ihn, ob sie bei ihm arbeiten könne.

«Du hast aber lange Zeit gebraucht, um auf mein Angebot zurückzukommen», lachte er. Dann wurde er ernst. «Tut mir Leid, Cathi, aber ich habe eben eine neue Kraft im Ausschank eingestellt.»

«Aber ich würde auch in der Küche arbeiten, Schweine füttern, putzen – ganz gleichgültig, was.»

Berthold schüttelte den Kopf.

«Du hast doch hier deinen Platz, dein Zuhause. Und irgendwann wirst du ja ohnehin einen anständigen Burschen kennen lernen, der um deine Hand anhält.»

Catharina war enttäuscht. Dann musste sie eben einen anderen Weg finden, um aus Lehen herauszukommen.


So plötzlich, wie die Pest hereingebrochen war, kam sie auch zum Stillstand. Von einem Tag auf den anderen gab es keine Toten mehr, und der Alltag in Freiburg kam wieder in Gang. Über ein Viertel der Einwohner war von der Krankheit dahingerafft worden, zahlreiche Häuser und Geschäfte geplündert. Auch Hiltrud und ihr Sohn zählten zu den Opfern. Ungerührt hörte Catharina die Nachricht vom Tod ihrer Stiefmutter. Um Claudius hingegen tat es ihr Leid, er war ein netter Junge gewesen. Ihr Elternhaus wurde verkauft, und sie und Marthe erhielten eine hübsche Summe Geldes.

«Jetzt kannst du dir ein schönes Leben machen», sagte Lene, aber Catharina bedeutete der unerwartete Geldsegen nichts. Ihre Gedanken kreisten um Christophs Ankunft. Über vier Jahre war er fort gewesen, und in dieser Zeit hatte er nur zweimal seine Familie besucht, das letzte Mal gemeinsam mit seiner Frau Sofie. Diese Tage waren ihr eine Qual gewesen. Er hatte hartnäckig das Gespräch mit ihr gesucht, doch sie war ihm ausgewichen. Für sie gab es nichts mehr zu besprechen. Jetzt würde er also für immer nach Lehen zurückkommen und den Gasthof übernehmen. So bald wie möglich musste sie sich in der Stadt nach einer Arbeit und einem Zimmer umsehen.

Anfang September fand sie schließlich eine Anstellung in der Neuburg. Mit Handschlag besiegelte der Rappenwirt ihre Arbeitsvereinbarung: Bedienen in der Schankstube und nach der Sperrstunde Aufräumen der Küche für freie Kost und Logis. Was die Gäste ihr zusteckten, durfte sie behalten, einen Sonntag im Monat hatte sie frei.

Marthe war bestürzt über diese Neuigkeit. Ihr war zwar unwohl bei dem Gedanken gewesen, dass Catharina und Christoph bald unter einem Dach wohnen würden, doch hatte sie nie geglaubt, dass Catharina Ernst machen und sich eine Arbeit suchen würde. Und ausgerechnet in der Neuburg, der größten, engsten und verkommensten der Freiburger Vorstädte! Dort wohnten Wäscherinnen und Tagelöhner, Totengräber und Abdecker, Kloakenfeger, Spielleute und Huren – all jene, die heute nicht wussten, wie sie morgen satt werden sollten. Es war kein Zufall, dass sich die meisten Häuser der städtischen Fürsorge wie das Blatternhaus, das Armenspital oder das Haus der Findelkinder in diesem Viertel befanden. Wohlweislich hatte Catharina ihrer Tante verschwiegen, dass gegenüber vom «Rappen » das «Haus zur kurzen Freud» stand, ein Dirnenhaus unter der Aufsicht des Scharfrichters, und so war sie froh, dass nicht Marthe, sondern Lene sie an ihrem ersten Arbeitstag in die Stadt brachte.

Beim Abschied hatte Marthe Tränen in den Augen.

«Du musst uns oft besuchen kommen», sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, nachdem sie Catharina ein dickes Paket mit Käse, Brot und luftgetrockneten Schweinswürsten überreicht hatte.

Lene sah ihre Mutter an.

«Es ist alles wegen Christoph.» Aus ihren Augen blitzte Zorn. «Soll er sich doch irgendwo im Dorf ein Haus bauen. Dann kann Cathi bei uns bleiben.»

Sie warf sich Catharinas Reisesack über den Rücken und schob ihre Base zum Hoftor hinaus. Moses begleitete sie bis zur Kreuzung nach Betzenhausen, dann trottete er mit eingekniffener Rute wieder nach Hause, als ahnte er, dass seine Herrin nicht so bald zurückkehren würde.

«Gerlinde wird dir deinen Schlafplatz zeigen», waren die Grußworte des Rappenwirts. «Danach kommst du herüber und beginnst mit der Arbeit.»

Ein mürrisches Mädchen, kaum älter als Catharina, führte sie in eine stickige Kammer, in die durch ein winziges Fenster mit gesprungenen Scheiben kaum Tageslicht fiel. Drei Strohsäcke lagen auf dem Boden, dazwischen stand eine von Kleidung und allerlei Krimskrams überquellende Kommode.

«Dort an der Wand schlafe ich, daneben Ruth. Waschen musst du dich im Hof.»

«Wo soll ich meine Sachen verstauen?»

Gerlinde zuckte die Schultern.

«Eine Kleiderkammer können wir dir natürlich nicht anbieten.»

Kurzerhand warf Lene den Reisesack mitten ins Zimmer. Daraufhin machte das Mädchen unwillig eine Schublade frei und ging wortlos hinaus.

«Keine einzige Nacht könnte ich hier verbringen», stöhnte Lene. «Schon gar nicht mit dieser Vogelscheuche neben mir.»

«Lass gut sein, ich werde mich daran gewöhnen. Geh jetzt besser, der Rappenwirt wartet sicher schon auf mich.»

Lene zögerte. «Das ist jetzt kein richtiger Abschied, oder? Ich meine, auch wenn du nicht nach Lehen kommst, kann ich dich doch ab und zu besuchen?»

Catharina nickte beklommen.

Nachdem Lene gegangen waren, stellte Catharina das Bild ihrer Mutter neben dem Strohsack auf und räumte ihre Sachen in die Schublade. Dabei fiel ihr die kleine Flöte in die Hände, die Christoph ihr einst zum Geburtstag geschnitzt hatte. Leise blies sie eine Melodie vor sich hin. Ihr Vetter war jetzt ein verheirateter Mann, obendrein Vater, und sie konnte ihn nicht aus ihrem Herzen vertreiben. Bedrückt ließ sie sich auf den Strohsack sinken und betrachtete die Kammer. Wie schäbig sie war. Aber es war immer noch besser, als Wand an Wand mit Christoph zu leben.

Wenn Marthe schon hin und wieder über das Schneckenwirtshaus ihres Vetters Berthold lästerte, so hätte sie an dieser Schenke kein gutes Haar gelassen. Der Boden starrte vor Schmutz und Essensresten, der Branntwein floss in Strömen, und bereits am Nachmittag war der düstere Raum mit der niedrigen, rußgeschwärzten Decke brechend voll. Gleich am ersten Abend gab ihr ein Mann, dem der linke Unterarm fehlte, großmäulig einen Rat, wie sie ihr Einkommen aufbessern könnte.

«Wenn du mir und meinen Freunden ab und zu deinen schönen Hintern hinhältst, lassen wir uns das was kosten!»

«Du kannst deinen Dampf drüben im Dirnenhaus ablassen, aber nicht bei mir», zischte Catharina und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Ihr hatte das Auftragen und Bewirten bisher immer Spaß gemacht, doch hier war es ein ständiges Spießrutenlaufen zwischen betrunkenen Männern.

Nachdem sie bis in die Nacht in der Küche Töpfe geschrubbt und gebürstet hatte, fiel sie todmüde auf ihre neue Schlafstatt. Doch mit der Ruhe war es vorbei, als einige Zeit später Gerlinde und Ruth auftauchten, mit zwei Männern im Schlepptau. Catharina hielt sich die Ohren zu und stellte sich schlafend, als Kichern und Gestöhn einsetzten. Gütiger Himmel, lasst mich bloß in Ruhe, dachte sie. Und dann, fast ein wenig schadenfroh: Wenn Tante Marthe wüsste, wie es hier zugeht, dann würde sie sich die Haare raufen darüber, dass sie Christoph und mich auseinander gebracht hat.

Die ersten zwei, drei Tage waren eine Qual. Gerlinde und Ruth, die, wie Catharina schnell begriff, tatsächlich für Geld mit Männern schliefen, waren ihr von Anfang an feindselig gesonnen. Nachts fand sie kaum Schlaf, ihre Arme und Beine waren von Ungeziefer zerstochen, und von den Gästen hatte sie noch keinen einzigen Pfennig zugesteckt bekommen. Doch erstaunlicherweise gewöhnte sie sich trotz allem an ihre neue Umgebung, sie störte sich immer weniger an dem Schmutz und Unrat, an den ständigen Raufereien und daran, dass sie bei den Gästen als Zicke verschrien war. Mochten die doch mit ihren dreckigen Pfoten die anderen Frauen betatschen. Und der Rappenwirt, das war ihr nicht entgangen, schätzte ihre Arbeitskraft. Ja, sie war stolz, dass sie es hier aushielt. Sie brauchte niemanden, der sich um sie kümmerte.

Nach etwa einer Woche bemerkte sie, dass ihr Vorrat an Trockenwurst verschwunden war. Erbost stellte sie ihre beiden Kammergenossinnen zur Rede.

Ruth lachte laut auf. «Was bist du nur für ein Häschen! Hast du nicht gewusst, dass wir hier alles teilen? Das Zimmer, die Wurst, sogar die Männer.»

«Ich glaube, unsere Catharina treibt’s lieber mit Frauen. Hab ich Recht?» Bei diesen Worten griff Gerlinde ihr zwischen die Beine. Catharina gab ihr einen harten Schlag auf die Hand.

«Wenn ihr mir nochmal was klaut, sage ich es dem Wirt.»

Die beiden schüttelten sich vor Lachen. «Du bist so dumm! Weißt du, was den Wirt das kümmert? Einen Scheißdreck!»

Am selben Abend nahm der Wirt sie beiseite.

«Du bist das flinkste und zuverlässigste Mädchen, das ich je hatte. Aber wenn du dich weiter so anstellst mit den Männern hier, wirst du nicht lange bleiben können.»

«Was soll das heißen?»

«Menschenskind, die Männer müssen bei Laune gehalten werden. Je mehr Spaß sie mit den Mädchen haben, desto mehr trinken sie. Will das nicht in deinen Kopf, verdammt nochmal?»

Sie sollte sich also als Dirne verdingen.

«Nein, das nicht», murmelte sie und ließ ihn stehen.

Fortan gab sie sich noch mehr Mühe bei der Arbeit, versuchte auch, freundlicher zu den Gästen zu sein – alles in der Hoffnung, nicht eines Tages ihre Stellung zu verlieren. Meist fühlte sie sich abends so erschöpft, dass sie nicht wusste, wie sie den morgigen Tag durchstehen sollte.

Da tauchte eines Abends Berthold auf. Sie bemerkte ihn zunächst gar nicht, denn er hatte sich unter die Gäste gemischt und sie unbemerkt beobachtet. Einer der Stammgäste griff gerade nach Catharinas Arm und wollte sie küssen. Als sie sich wehrte, stieg der Mann auf den Tisch, hob sein Glas und rief:

«Hiermit trinke ich auf Catharina, ein Mädchen, kalt wie ein Eiszapfen. Möge sie einmal so richtig durchgevögelt werden von uns allen!» Dabei fasste er sich an den Hosenlatz und machte eine unzüchtige Bewegung.

Die Umstehenden schrien und klatschten. Wütend wollte Catharina sich auf ihn stürzen, da flüsterte eine bekannte Stimme an ihrem Ohr: «Das lohnt nicht. Lass uns gehen.»

Stumm ließ sie sich von Berthold auf die Gasse führen. Scham hatte jetzt ihre Wut abgelöst, Scham darüber, dass ein Freund ihrer Familie sie in dieser unwürdigen Situation erlebt hatte.

«Was soll jetzt werden?», fragte sie leise.

«Wir holen deine Sachen und gehen zu uns.»

«Und dann?»

«Ab morgen arbeitest du bei uns im Schneckenwirtshaus – wenn du noch willst.»

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Schließlich räusperte sich Berthold.

«Lene hat zu Hause erzählt, in was für eine Spelunke es dich verschlagen hat. Was waren wir nur für Dummköpfe, Marthe und ich. Hätte ich geahnt, was es dir bedeutete, aus Lehen wegzukommen – du hättest auf jeden Fall bei mir eine Arbeit gefunden. Zumal ich inzwischen nicht nur Christophs Vormund bin, sondern auch deiner.»

Berthold besaß bei der Mehlwaage, wo sich das Wirtshaus befand, noch ein winziges zweistöckiges Häuschen, dessen Bewohner an der Pest gestorben waren. Dort wohnte jetzt Bertholds neue Köchin, und Catharina zog noch am selben Abend ein.

«Meine Güte, hast du jetzt viel Platz für dich allein», stellte Lene fest, als sie Catharinas neues Zuhause im Obergeschoss des Häuschens besichtigte. «Da kann man ja neidisch werden. Was meinst du, wie eng es inzwischen bei uns geworden ist.»

Auch Catharina fühlte sich nach den Wochen im Rappen wie in einem Palast. Berthold hatte das kleine helle Zimmer großzügig eingerichtet, denn gebrauchte Möbel waren jetzt, nach der Seuche, überall billig zu haben. Neben dem Bett stand ein Waschtisch mit einer irdenen Schüssel und einem Krug, an der Wand gegenüber Tisch und Stuhl sowie eine Kommode mit vier wuchtigen Schubladen. Sogar eine kleine Abstellkammer gehörte dazu.

Zwar war auch das Schneckenwirtshaus eine einfache Schenke, denn es gab nur einen einzigen großen Gastraum, und die meisten Gäste waren Handwerker und Arbeiter aus der Nachbarschaft, doch Berthold kannte fast alle seine Kunden und hatte sie fest im Griff. Fingen die Raufbolde unter ihnen zu händeln an, packte er sie am Kragen und setzte sie freundlich, aber bestimmt vor die Tür. Wirklich böse wurde er nur, wenn «seine Frauen», wie er sie nannte, unflätig angesprochen oder gar angefasst wurden. Da konnte ihm die Hand ausrutschen. So brauchte sich Catharina denn auch nicht mehr mit Belästigungen herumzuschlagen, selbst wenn es an manchen Abenden, vor allem an Feiertagen, ziemlich derb und laut herging. Einmal saß eine Gruppe Weißgerber aus der nahen Fischerau beisammen. Ihr Wortführer, ein untersetzter Kerl mit roten, rissigen Händen, machte Catharina immer wieder zweideutige Komplimente. Ganz offensichtlich wollte er sich vor den anderen großtun, und da Catharina ihn nicht beachtete, fasste er ihr, als sie ihm frisches Bier brachte, mit seiner dicken Hand unter den Rock. In aller Ruhe goss Catharina ihm den halben Liter Bier in den Schoß.

«Du Hurenbalg», brüllte er, während seine Tischgenossen in Gelächter ausbrachen. «Ich werde mich beim Wirt über dich beschweren.»

Doch Berthold, der die Szene beobachtet hatte, stand längst hinter ihm. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er dem Mann den Arm auf den Rücken und stieß ihn hinaus.


Ein einziges Mal nur ging sie in den nächsten Jahren nach Lehen. Es kostete sie große Überwindung, den Hof zu betreten. Moses war halb verrückt vor Freude über das Wiedersehen und ließ sie den ganzen Tag nicht aus den Augen. Von Sofie wurde sie freundlich begrüßt. Sie sah noch zarter und zerbrechlicher aus als bei ihrer letzten Begegnung. An der Hand hatte sie ein kleines Mädchen mit seidigen hellblonden Haaren, das gerade seine ersten Schritte übte. Catharina stellte fest, wie sehr sie die Tatsache, dass Christoph jetzt seine eigene Familie hatte, immer noch schmerzte. Da kam er aus dem Stall und umarmte sie.

«Gut siehst du aus», sagte er und betrachtete verstohlen ihre schlanke Gestalt. «Was für eine schöne Frau du geworden bist.»

Catharina ließ ihn wortlos stehen. Ihr war, als schnürte ihr ein eisernes Mieder die Luft ab. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, half sie bei der Hausarbeit mit, tobte mit Moses und den Zwillingen im Hof herum und stattete Schorsch, der inzwischen verlobt war, einen kurzen Besuch ab. Bis zum Abend wurde ihr klar, dass dies ihr erster und letzter Besuch gewesen war.


Alles in allem hatte Catharina keinen Grund zu klagen. Auch mit Bertholds Frau Mechtild, einer kleinen, drahtigen Person voller Energie, und den anderen Angestellten verstand sie sich gut. Einzig mit der Köchin konnte sie nichts anfangen, und ausgerechnet mit ihr wohnte sie zusammen. Sie war sicher schon über vierzig. Für jede Gelegenheit hatte sie einen Bibelspruch parat, bekreuzigte sich dabei und jammerte über die Gottlosigkeit der Zeit. Catharina hatte sie noch nie lachen sehen und ging ihr möglichst aus dem Weg.

Hin und wieder kam Lene zu Besuch. Zu Catharinas Freude brachte sie meistens Moses mit. Alles, was Christoph betraf, wurde bei ihren Gesprächen sorgfältig ausgeklammert. Wenn Catharina allein war, blätterte sie in den Büchern, die sie vom Vater geerbt hatte, oder ging am Stadtgraben spazieren. Sie fand sich damit ab, dass sie wohl als ledige Schankfrau alt werden würde. Bis der Tag kam, an dem sie Michael Bantzer kennen lernte.

Die Hexe von Freiburg
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