8
Mit starken Halsschmerzen, Husten und triefender Nase lag Catharina im Bett. Sie hatte sich in Villingen eine schwere Erkältung geholt. An die Rückfahrt konnte sie sich kaum erinnern, so geschwächt war sie gewesen. In Lehen hatte Marthe sie gleich ins Bett gesteckt und ihr Wadenwickel angelegt. «Ich bin so froh, dass du wieder da bist», waren ihre einzigen Worte gewesen. Keine Schelte, keine Vorhaltungen.
Lene brachte heißen Holundersaft und setzte sich zu ihr ans Bett.
«Mutter war völlig niedergeschlagen. So habe ich sie noch nie erlebt. Weißt du, sie macht sich schreckliche Vorwürfe, weil sie dir nicht gleich gesagt hat, dass Christoph verlobt ist. Sie wollte dich schonen und hat damit nur erreicht, dass du weggelaufen bist. Wenn es dir besser geht, musst du mir unbedingt erzählen, was du erlebt hast.»
Aber vorerst war Catharina nicht nach Reden zumute. Drei Tage lang schlief sie fast ununterbrochen. Als sie zum ersten Mal wieder in die Küche hinunterging, lag neben dem Herd ein junger Hund und kaute auf einer alten Bürste herum. Er hatte ein struppiges blondes Fell und dicke Pfoten.
«Für dich», sagte Marthe und lächelte sie erwartungsvoll an. «Er wird wahrscheinlich sehr groß.»
Catharina nahm den Hund auf den Arm. Er leckte ihr mit seiner rosigen Zunge über das Gesicht. «Wie herzig der ist. Und er hat hellbraune Augen, habt ihr das gesehen?»
«Er ist vom Schäfer und wird wahrscheinlich genauso schlau werden wie seine anderen Hunde. Weißt du schon einen Namen?»
Da musste Catharina nicht lange überlegen.
«Ich nenne ihn Moses.»
Moses folgte ihr von nun an auf Schritt und Tritt. Mit Mühe konnte Lene verhindern, dass er nachts bei ihnen im Bett schlief.
«Wenn er größer ist, muss er sowieso im Hof schlafen, also verwöhne ihn besser nicht.»
Marthes Geschenk hatte Erfolg: Catharina war in ihrer freien Zeit so mit dem jungen Hund beschäftigt, dass sie es schaffte, kaum noch an ihren Vetter zu denken – sie verbot es sich einfach. Und die anderen vermieden in den nächsten Wochen, den Namen Christoph auch nur auszusprechen.
Der Sommer nahm seinen Lauf mit den üblichen Arbeiten im Haus, im Obstgarten und auf den Feldern der Nachbarn. Catharina war bald wieder mit der alten Tatkraft und Freude beim Bewirten der Gäste. Einmal kam Marthes Vetter Berthold aus Freiburg zum Abendessen, ein dicker, gemütlicher Mann mit unzähligen Lachfalten um die Augen. Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, blieb er noch mit Marthe am Tisch sitzen. Catharina war gerade dabei, das Geschirr in die Küche zu tragen, als er sie zu sich rief.
«So ein Mädchen wie dich könnte ich bei mir im Schneckenwirtshaus gut gebrauchen. Willst du nicht die Arbeitsstelle wechseln? Ich würde dich gut bezahlen.»
Marthe protestierte, und Catharina freute sich über sein Lob.
«Ich habe doch bei Tante Marthe gar keine Arbeitsstelle», gab Catharina zurück. «Das ist meine Familie, und ich bin sehr glücklich hier.»
Bei dieser Bemerkung ging ein Strahlen über Marthes Gesicht, und Berthold drückte dem Mädchen eine Silbermünze in die Hand.
«Ich sehe schon, ich habe keine Aussicht, dich abzuwerben. Was bin ich für ein Pechvogel.»
Er holte von der Anrichte einen Becher, goss ihn mit Rotwein voll und reichte ihn Catharina. Kurz darauf sah Lene in die Stube und setzte sich dazu. Seit langer Zeit wieder einmal saßen sie zusammen und genossen schwatzend und lachend den Feierabend.
Mindestens einmal die Woche gingen Lene und Catharina in die Stadt auf den Markt, um Kleinigkeiten für Haushalt oder Küche zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit besuchte Catharina ihren Vater. Manchmal kam Lene mit, manchmal schlenderte sie währenddessen durch die Gassen.
Man wusste nie, in welcher Verfassung der Vater gerade war. Es konnte sein, dass er lesend auf der Ofenbank saß und Catharina kaum bemerkte, so sehr war er in die Heilige Schrift vertieft. Er las nichts anderes mehr. An manchen Tagen setzte sein Verstand aus.
An das erste Mal konnte sich Catharina gut erinnern. Es war der Tag, als Kaiser Ferdinand seinen Untertanen in Freiburg einen Besuch abstattete. Vor dem Haus zum Walfisch, wo er residierte, drängten sich die Menschenmassen. In der gegenüberliegenden Martinskirche sollte gegen Mittag ihm zu Ehren eine Messe gelesen werden, und die Leute standen sich die Beine in den Bauch, um ihren Herrscher aus dem fernen Wien einmal leibhaftig vor sich zu sehen. Lene hatte Catharina überredet mitzukommen, aber die ganze Warterei stellte sich als umsonst heraus: Die Stadt hatte eigens für diesen Kirchgang einen geschlossenen Holzsteg vom Walfisch hinüber zur Kirche bauen lassen, sodass kein Zipfel des kaiserlichen Rocks zu sehen war.
«Hast du den Kaiser gesehen, meine liebe Anna?», begrüßte ihr Vater sie. Catharina erschrak zu Tode: Anna war der Name ihrer Mutter. Von diesem Tag an verwechselte er sie mal mit seiner früheren, mal mit seiner jetzigen Frau, und einmal hatte er sie sogar wieder weggeschickt, weil er überzeugt war, sie sei der Bader, der ihm mit Aderpresse und Lanzette zu Leibe rücken wollte. Catharina hoffte vor jedem Besuch inbrünstig, dass er bei sich war, denn sie konnte sich an diese Zustände ihres Vaters nicht gewöhnen.
Eines Tages erfuhr sie, dass Johann in die Stadt zurückgekehrt war. Von da an bat sie Lene, sie zu ihrem Vater zu begleiten, denn sie hatte Angst, dort auf ihren Stiefbruder zu treffen. Doch diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig, denn Johann war nie zu Hause aufgetaucht, und niemand wusste, wo er sich aufhielt.
«In Straßburg haben sie ihn wegen Schulden aus der Stadt gejagt. Ich habe ihn ein paar Mal auf der Straße getroffen, aber er wollte mir nicht sagen, wo er jetzt wohnt», berichtete Claudius über seinen Bruder.
In Catharina stieg wieder die alte Angst auf.
«Mach dich nicht verrückt», beruhigte Lene sie. «Nach Lehen wird er sich nicht hinauswagen, und in die Stadt gehen wir ja immer zu zweit. Außerdem hast du noch deinen Moses.»
Dass der Hund ihr ein ernsthafter Bewacher sein könnte, bezweifelte Catharina. Moses war noch zu verspielt und zu neugierig, auch wenn er jetzt fast ausgewachsen war. Als sie einmal den Schäfer draußen besuchte, fragte sie ihn, ob er Moses beibringen könne, auf Befehl zu beißen.
«Das wäre schon möglich», war seine Antwort, «gescheit genug ist er. Aber es würde seinen Charakter verändern, und es ist die Frage, ob du das willst. Mir ist es lieber, wenn ein Hund selber spürt, wann er seinen Herrn verteidigen muss.»
Im Grunde dachte sie genauso und verwarf den Gedanken wieder.
Wenige Wochen später hörte sie, dass Johann im Schuldturm saß, da er in verschiedenen Schenken die Zeche geprellt hatte. Falls er sich noch den geringsten Verstoß gegen das geltende Gesetz zuschulden kommen ließe, würde er lebenslänglich aus der Stadt verwiesen.
«Na also», war Lenes Kommentar. «Den sind wir bald auf immer los.»
Lene hatte sich inzwischen neu verliebt. Ihrem Freund Schorsch hatte sie sang- und klanglos den Laufpass gegeben, und der Arme litt unsagbar. An einem heißen Augustmorgen war Catharina mit ihrer Base wieder einmal auf dem Weg in die Stadt, als er ihnen in der Nähe der alten Lehmgrube entgegenkam.
«Auch das noch», stöhnte Lene.
Mit gesenktem Kopf ging der Junge an ihnen vorbei, blieb dann stehen und drehte sich zu Lene um.
«Bitte, Lene, ich muss mit dir reden.»
Unschlüssig trat Lene von einem Fuß auf den anderen. Zu Catharina sagte sie schließlich: «Geh schon mal voraus, ich komme gleich.»
Als Catharina ihren Weg fortsetzte, stellte sie fest, dass Moses verschwunden war. Bestimmt war er wieder in der Lehmgrube auf Kaninchenjagd. Nur war Moses zu ungeschickt, um bei diesem Zeitvertreib Erfolg zu haben. Sie kletterte die Böschung zur Grube hinunter. Seit die Befestigung der Vorstädte fertig gestellt war, wurde sie nicht mehr benutzt. Catharina war dieser Ort nicht geheuer. Im Sommer wimmelte es hier von Stechmücken, und hin und wieder suchten heimatlose Bettler und Vagabunden Unterschlupf.
Da hörte sie den Hund wütend bellen und entdeckte ihn vor einer der verfallenen Holzhütten. Wahrscheinlich hatte sich seine Beute darin versteckt. Erleichtert ging Catharina auf ihn zu und tätschelte sein Fell, während sie ihn liebevoll ausschimpfte.
In diesem Moment packte sie jemand heftig am Oberarm und zerrte sie in die Hütte. Noch bevor ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnen konnten, wusste sie, wer vor ihr stand. Ihr Herzschlag stockte. Das war das Ende, sie hatte gewusst, dass es eines Tages so kommen würde.
«Du solltest dich freuen, mich noch einmal wieder zu sehen, bevor ich auf Reisen gehe», hörte sie den verhassten Stiefbruder sagen. Da machte Moses einen Satz und schnappte nach seinem Bein. Ohne seinen Griff zu lockern, versetzte ihm Johann einen so heftigen Tritt, dass der Hund winselnd gegen die Bretterwand rutschte. Mit der freien Hand zog Johann aus dem Hosenbund ein Messer hervor.
«Du bindest diesen Köter jetzt draußen an, oder ich schneide ihn in Stücke. Da vorne in meinem Beutel ist ein Strick.»
Mit der Messerspitze im Rücken legte sie ihrem Hund den Strick um den Hals und band ihn vor der Hütte an einen abgestorbenen Baum. Dann drängte Johann sie zurück und verschloss die Tür.
«Jetzt können wir uns endlich einmal gepflegt unterhalten. Oder wäre dir Küssen lieber.»
Johann stank, als habe er sich wochenlang nicht mehr gewaschen, und Catharina drehte sich fast der Magen um, als sich sein schweißtriefendes Gesicht ihrem Mund näherte. Quer über die linke Wange zog sich eine hässliche Narbe. Sie musste Zeit gewinnen, vielleicht war Lene schon auf der Suche nach ihr. Voller Ekel wandte sie ihr Gesicht ab.
«Ich denke, du sitzt im Schuldturm?»
«Schon lange nicht mehr.» Er grinste und drückte sie rückwärts gegen eine alte Werkbank. Unter seinem geöffneten Hemd entdeckte Catharina ein Alraunmännchen, das an einem Lederband vor seiner schmutzigen, vor Schweiß glänzenden Brust gebunden baumelte. Von Lene wusste sie, dass diese wie Püppchen bekleideten Wurzeln sehr wertvoll waren und einem männlichen Besitzer neben dem Schutz vor bösem Zauber auch eine enorme Manneskraft verleihen sollten.
«Ich verlasse diese verdammte Stadt», hauchte er ihr mit heißem Atem ins Ohr, «und gehe in die Schweiz. Dort braucht man Söldner für unseren Heiligen Vater. Aber vorher habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.»
Wieder versuchte er sie zu küssen, und Catharina verlor die Beherrschung.
«Du elender Hurensohn, du Miststück, lass mich los», schrie sie und versuchte verzweifelt, sich loszumachen. Da schlug er ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Erstaunt spürte sie den Geschmack von Blut im Mund. Vor Angst war sie jetzt wie gelähmt.
«Führ dich nicht auf wie eine Betschwester, ich habe doch auf dem Jahrmarkt letztes Jahr beobachtet, wie du mit deinem Vetter poussiert hast. Bestimmt hat dich dieser halb lahme Hengst längst angestochen. Wart nur, mein Schwengel ist um einiges stärker.»
Bei den letzten Worten fing er an zu keuchen. Heftig drückte er sie mit dem Rücken auf die Bank und riss ihr die Unterkleider entzwei. Er versuchte, in sie einzudringen, aber sie presste mit aller Kraft die Beine zusammen. Da schlug er sie erneut und bohrte mit Wucht seine Finger zwischen ihre Schenkel. Ein brennender Schmerz durchfuhr Catharina. Sie hörte noch von draußen den Hund jaulen, dann verlor sie das Bewusstsein.
Gott mag mich richten, wenn ich Unrecht begangen habe an jenem unseligen Augusttag. Doch selbst heute, Marthe-Marie, nach so vielen Jahren, würde ich wieder genauso handeln.
Nachdem ich Schorsch endlich abgeschüttelt hatte, war Cathi verschwunden. Ich dachte, sie sei schon vorausgegangen in die Stadt, als ich das Jaulen des Hundes hörte. Es kam aus der Lehmgrube. Dann sah ich von der Böschung aus Moses, der vor einem Schuppen angebunden war und wie ein Rasender an seinem Strick zerrte. Ich wusste sofort, dass Catharina in Gefahr war.
So schnell ich konnte, stolperte und rutschte ich durch die dornigen Büsche den Abhang hinunter zur Hütte. Als ich die Tür aufriss, bot sich mir ein Bild, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Ich erblickte den breiten nackten Hintern eines Mannes, der sich heftig vor und zurück bewegte, und über breite Schultern hinweg das reglose, blutverschmierte Gesicht von Catharina.
In jenem Moment habe ich weder nachgedacht noch gezögert: Ich griff nach einer losen Holzlatte, holte weit aus und zerschlug sie über dem Schädel des Mannes. Lautlos und ganz langsam sackte der schwere Körper zur Seite. Jetzt erst erkannte ich, dass es Johann war.
Ich schleppte Catharina ins Freie, ihr Körper war schlaff, ihr geschundenes Gesicht wie eine leblose Maske. Wenn dieser Dreckskerl sie nun umgebracht hatte?
Es dauerte eine gute Weile, bis Catharina zu sich kam. Sie spürte etwas Feuchtes an ihrer Schläfe. Wo war sie? Als sie die Augen öffnete, sah sie über sich Lenes besorgtes Gesicht und den haarigen Kopf ihres Hundes
«Was ist geschehen?», flüsterte sie.
«Es ist vorbei, bleib ganz ruhig. Hast du Schmerzen?»
«Es geht.»
Mit Lenes Hilfe stand sie auf und ging vorsichtig ein paar Schritte. Da fiel ihr Blick auf den Schuppen. Sie begann zu zittern wie Espenlaub.
«Lene, wir müssen weg – Johann – er ist da drin.»
Ihre Knie gaben nach, und sie fiel auf die Erde.
«Nein, Cathi, der rührt sich nicht mehr. Ich glaube, ich habe ihn umgebracht.»
Sie hielten sich an den Händen, als sie die Hütte betraten, wo Johann immer noch in derselben Stellung halb über der Werkbank hing, mit offenem Mund und nach oben verdrehten Augen.
Catharina starrte den leblosen Körper an. Etwas in ihrem Inneren verhärtete sich. Ja, so sollte es sein, es war gerecht, dass Johann nicht mehr lebte. Jahrelang hatte er ihr Angst eingejagt. Damit war es nun vorbei.
Langsam ging sie auf ihn zu und berührte seine Hand. Diese dreckigen Hände würden nie mehr etwas anfassen. Dann betrachtete sie seinen entblößten Unterleib, minutenlang, bis sich ihr Magen hob und sie sich in heftigen Krämpfen neben der Leiche übergab.
Sie richtete sich mühsam auf. «Gehen wir zum Fluss und waschen uns.»
Das kühle Wasser tat ihnen gut. Bei dem Sturz durch die Böschung hatte sich Lene Arme und Gesicht zerkratzt, Catharinas Oberlippe war aufgesprungen und dick geschwollen, auf ihrer linken Wange breitete sich ein Bluterguss aus. Glücklicherweise war kein Zahn ausgeschlagen. Wieder und wieder wusch Catharina sich den Unterleib, auch als der kleine Blutfleck am Oberschenkel längst verschwunden war. Nur der Abdruck von Johanns Fingernägeln blieb, wie ein Mal, dass er ihr aufgedrückt hatte.
Seitdem sie die Hütte verlassen hatten, hatte Lene kein Wort mehr gesprochen. Jetzt fing sie an zu schluchzen.
«Du hast recht getan, Lene», versuchte Catharina sie zu trösten. Dann stieß sie ein schrilles Lachen aus, weil sie an Johanns Alraunmännchen dachte: Wer sich dieser Wurzel nicht rechtzeitig vor dem Tode entledigte, auf dem lastete der Fluch ewiger Verdammnis. Ihr Lachen wurde lauter, und Lene sah sie erschrocken an.
«Er war nicht nur ein Gesetzloser», flüsterte Catharina, «sondern auch teuflisch. Hörst du, Lene? Der Teufel war in ihm, und jetzt ist er dort, wo er hingehört.»
Erschöpft ließ sie sich ins Gras fallen und fing ebenfalls an zu weinen.
Lange Zeit lagen sie in der glühenden Mittagshitze, ohne sich zu rühren. Erst als Moses bellte, weil dicht am Ufer ein Floß vorbeitrieb, standen sie auf. Catharina packte Lene am Arm.
«Wir müssen noch einmal zur Hütte zurück. Niemand darf erfahren, was geschehen ist. Wenn wir ihm alles, was er hat, wegnehmen, sieht es aus wie ein Raubmord.»
Auf der Leiche und dem Erbrochenen hatten sich inzwischen Schwärme von fetten, blauschwarz schillernden Fliegen niedergelassen. Hastig leerten sie Johanns Taschen, zogen ihm die Schuhe aus und stopften alles in seinen Beutel. Dann banden sie einen schweren Stein daran und versenkten die Sachen im Fluss.
Lene wirkte inzwischen wieder gefasster. «Was ist, wenn du von ihm ein Kind bekommst?»
Catharina zuckte zusammen. Wie in einem bösen Traum sah sie wieder den massigen Körper vor sich, der sich auf sie legte. In ihrem Magen rumorte es erneut.
«Was soll ich denn machen?»
Lene zupfte sich am linken Ohr, wie immer, wenn sie nachdachte.
«Komm mit. Ich weiß, wer uns vielleicht helfen kann.»
Die alte Gysel lebte ein Stück außerhalb des Dorfes in einem winzigen, mit Efeu überwucherten Steinhaus. Sie war ihr Leben lang als Heilkundige tätig gewesen, die meiste Zeit davon in Freiburg. Aber nachdem vor ein paar Jahren die städtische Hebammenverordnung verschärft worden war und die heilkundigen Frauen nur noch im Dienste der Stadt, unter Aufsicht des Amtsarztes, arbeiten durften, hatte sie sich zu ihrer Tochter nach Lehen zurückgezogen. Von Rechts wegen durfte sie nur Küchen- und Heilkräuter verkaufen, aber in der Dorfgemeinde scherte sich niemand darum.
Freundlich begrüßte sie die beiden Mädchen.
«Du bist doch Lene, die Wirtstochter? Und du das Mädchen aus der Stadt, Catharina, nicht wahr? Kommt ans Fenster, damit ich euch besser sehe, mein Augenlicht lässt langsam nach.»
Befangen traten sie zu der zierlichen alten Frau, die am offenen Fenster saß. In dem niedrigen Raum roch es angenehm nach getrockneten Kräutern, und über dem Herdfeuer köchelten Suppen und Sude. Prüfend blickte Gysel die Mädchen an.
«Euch ist es nicht gut ergangen, das sehe ich.» Und mit einem Blick auf Catharinas zerrissenen Rock: «Da ihr ausgerechnet zu mir kommt, nehme ich an, dass ein gewalttätiger Mann dahinter steckt.»
Catharina nickte und spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Ohne um Erlaubnis zu bitten, setzte sie sich auf eine Bank. Die Alte ging zum Herd und goss zwei Becher randvoll mit einer dampfenden Flüssigkeit.
«Heißer Kräuterwein. Das wird euch stärken und den Schreck erträglicher machen.» Dann wandte sie sich an Catharina. «Dich hat also ein Mann genommen.»
Catharina nickte wieder und trank einen Schluck von dem süßen Wein.
«Hast du schon deine Blutungen?»
«Erst einmal, und das ist schon längere Zeit her.»
«Dann müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.» Sie stellte einen Kessel mit Wasser auf das Feuer. «Hab keine Angst, ich werde dich jetzt untersuchen. Dann nimmst du dort drüben ein heißes Sitzbad, und ich bereite derweil einen Sud vor.»
«Was für einen Sud?», fragte Catharina ängstlich.
«Aus Mutterkorn, Gartenraute und Wacholder. Damit spülst du dir den Unterleib.»
Behutsam untersuchte Gysel das Mädchen. Die Scheide war auf einer Seite wund, und Gysel trug eine kühlende Salbe auf. Damit bedeckte sie auch Catharinas geschwollene Lippe.
«Kanntet ihr den Mann?»
«Nein», antworteten sie fast gleichzeitig.
Ohne weiter auf Einzelheiten zu drängen, fuhr die Alte mit ihren Verrichtungen fort. Nachdem sie einen Bottich mit heißem Wasser gefüllt hatte, zog sich Catharina aus und setzte sich hinein. Im ersten Moment glaubte sie, sich zu verbrühen, doch dann entspannte sie sich. Lene hielt ihre Hand. Als ihre Blicke sich trafen, stieg ein Gefühl tiefer Dankbarkeit in Catharina auf.
Zurück im Gasthaus, stieß Marthe einen Schreckensschrei aus, als sie ihre Mädchen sah.
«Um Himmels willen, was ist mit euch geschehen?»
«Wir sind überfallen worden», antwortete Lene, und bevor ihre Mutter noch etwas sagen konnte: «Wir sind vom Weg abgekommen, als wir mit Moses spielten. Wir wissen nicht, wer der Mann war, aber Moses hat ihn gebissen und verjagt. Bitte, Mutter, frag nicht weiter.»
Catharina bat ihre Tante, den Rest des Tages in ihrer Kammer verbringen zu dürfen. Dort spülte sie alle ein, zwei Stunden ihren Unterleib, betete zu Gott und allen Heiligen, dass sie nicht schwanger werde, und fragte sich immer wieder, ob sie das, was sie erlebt hatte, jemals würde vergessen können.
Wochen später wurde Johanns Leiche gefunden. Hitze, Gewürm und streunende Hunde hatten sie beinahe unkenntlich gemacht.