6
Den ganzen Morgen hatte es genieselt. Endlich teilten sich die Wolken und ließen ein paar zaghafte Sonnenstrahlen durch. Catharina trat aus dem Schatten des Martinstors, um sich aufzuwärmen. Eine Stunde nach Mittag wollte sie sich hier mit Christoph und Lene treffen, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Konzentriert schaute sie auf die Turmuhr, eine Errungenschaft, auf die die Stadtväter sehr stolz waren, besaß sie doch zwei Zeiger und gab damit die Uhrzeit auf die Minute genau an. Catharina stellte fest, dass die beiden schon eine halbe Stunde zu spät waren. Sie hatten noch ein paar Botengänge für ihre Mutter erledigen wollen, währenddessen war Catharina bei ihrem Vater gewesen.
Letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen vor Vorfreude. Lene war das nicht entgangen, und beim Aufstehen hatte sie gestichelt:
«Freu dich nicht zu früh – Christoph ist nämlich mit sämtlichen schönen Mädchen Freiburgs verabredet.»
Die Gassen waren voller Menschen. Schon in aller Frühe waren Kleinkrämer, Händler und Schaulustige in die Stadt geströmt, und wer immer sich Zeit nehmen konnte, eilte jetzt zum Münsterplatz, wo der große Jahrmarkt mittlerweile voll in Gang war. Als sich eine Gruppe Betrunkener dicht an Catharina vorbeidrückte, fasste sie ängstlich unter ihrem Umhang nach der Geldkatze. Erleichtert sah sie Christoph und Lene um die Ecke kommen.
«Jetzt kann’s losgehen», rief Lene und nahm ihre Base am Arm. Sie zogen mit dem Menschenstrom die Große Gasse hinauf, an den Marktständen der hiesigen Bauern vorbei, und bogen in das schmale Gässchen ein, das zum Münster führte. Hier herrschte ein solches Geschiebe und Gedränge, dass sie kaum vorwärts kamen. Das war etwas ganz anderes als die kleine Kirmes in Lehen.
Schon von weitem sahen sie den Akrobaten, der hoch oben in der Luft zwischen Kornhaus und Heiliggeist-Spital auf einem kaum erkennbaren Seil balancierte. Der zartgliedrige, fast knabenhafte Mann war im farbenfrohen Gewand der Landsknechte gekleidet: ein Hosenbein feuerrot, das andere grasgrün, am gelben Wams hingen bunte Bänder. Ein langer, dünner Stab half ihm, das Gleichgewicht zu halten.
Von unten ertönte ein dumpfer Trommelwirbel. Der Seiltänzer richtete sich auf, jeder Muskel gespannt, und hielt mit festem Griff seine Stange vor der Brust. Dann rannte er plötzlich los, als seien Wegelagerer hinter ihm her. Die Menge schrie auf, und Catharina krallte sich in Christophs Arm fest, als sich der Mann mit enormem Schwung in die Höhe stieß und in einem perfekten Salto einmal um seine Stange wirbelte. Leicht wie eine Feder kam er wieder auf die Füße, wobei das Seil gefährlich schwankte. Die Leute johlten.
«Das ist doch ein tolles Weib», meinte ein Zuschauer neben ihnen anerkennend.
«Hast du gehört? Das ist eine Frau. Ich kann’s kaum glauben», sagte Catharina.
«Du kannst meinen Arm jetzt wieder loslassen», lachte Christoph. Verlegen zog Catharina ihre Hand zurück. An Christophs Unterarm war der Abdruck ihrer Finger zu erkennen. In diesem Moment entdeckte Lene eine Gruppe junger Leute aus Lehen.
«Wir sehen uns später beim Tanz», verabschiedete sie sich und war im Gewühl verschwunden.
Ein gellender Schrei ertönte nur wenige Schritte neben ihnen, und Catharina zuckte zusammen. Er kam von einem dicken Kerl, dem der Bader gerade einen Backenzahn gezogen hatte. Zusammengekrümmt saß er auf dem Schemel und spuckte dicke Blutschlieren auf den Boden. Dann nahm er einen herzhaften Schluck von dem Branntwein, den der Bader bei jeder Zahnbehandlung großzügig zur Verfügung stellte.
«Du kannst mich ruhig wieder festhalten, wenn du heute so schreckhaft bist», neckte sie Christoph. Catharina musste lachen. Es war fast wieder wie früher mit ihrem Vetter. Vielleicht nicht ganz, denn sie spürte einen wohligen Schauer im Bauch.
In den Lauben entlang des Heiliggeist-Spitals roch es verführerisch nach Honigkuchen, allerlei Braten und Suppen. Sie kauften sich jeder ein Stück knusprige Hammelkeule, dazu einen Krug Dünnbier, und setzten sich auf eine Bank. Da sie nur wenig Geld dabeihatten und es üblich war, für jede Vorführung einen kleinen Obolus zu entrichten, mussten sie sich auf zwei, drei Darbietungen beschränken. Dabei gab es so viel zu sehen: Jongleure und Gymnastiker, Taschenspieler und Zauberer, einen Tanzbären und dressierte Ziegen, einen Mann, der Eisenketten wie Papierbänder zerriss, und jede Menge Musikanten.
Sie hatten sich gerade darauf geeinigt, erst in das Raritätenkabinett und dann zu den Wanderschauspielern zu gehen, als Christoph unvermittelt aufsprang und zu der Menschenmenge am Bierstand eilte. Catharina sah noch, wie ein Mann mit einem großen albernen Hut davonrannte – Johann!, schoss es ihr durch den Kopf –, als Christoph auch schon zurückkam. Er sah ärgerlich aus.
«Was war denn los», fragte sie.
«Ach, nichts. Ich dachte, ich hätte einen Bekannten gesehen, aber ich habe mich wohl getäuscht.» Unwirsch verjagte er zwei abgemagerte Hunde, die unter der Bank in den Essensresten wühlten.
Vor dem Zelt mit den «seltsamsten Kreaturen der Schöpfung», wie der Ausrufer mit schriller Stimme ankündigte, mussten sie lange warten, so groß war der Andrang. Endlich durften sie, zusammen mit etwa zwanzig anderen Neugierigen, eintreten. Im Zelt roch es nach Schweiß und Unrat, und es war so dunkel, dass sie die Gestalten auf dem lang gestreckten Podest nur schemenhaft wahrnehmen konnten. Jetzt griff Catharina ohne Scheu nach Christophs Arm. Ein bärtiger Mann mit langen Haaren, die ihm fettig über die Schultern hingen, ging mit zwei Talglichtern voraus.
«Hochverehrtes Publikum, bitte halten Sie Abstand. Unsere Kreaturen sind nicht an menschliche Zivilisation gewöhnt, und wir können keine Verantwortung für eventuelle Zwischenfälle übernehmen.» Dann beleuchtete er die erste Sensation.
Ein Aufschrei entfuhr den Zuschauern: Im flackernden Licht der Kerzen erkannte man einen riesigen schwarzen Hund mit zwei Köpfen, aus den beiden leicht geöffneten Mäulern hing dunkelrot die Zunge heraus. Regungslos starrte er sie an.
«Ist der tot?» Catharinas Stimme bebte.
«Hier sehen Sie Zerberus, unseren doppelköpfigen Hund aus England. Eine perfekte Nachbildung aus Wachs und Fell, das Original finden Sie in der Londoner Anatomie. Zerberus diente als treuer und, wie Sie sich denken können, äußerst wirkungsvoller Wachhund einem königlichen Bannwart und erreichte immerhin das erstaunliche Alter von zehn Jahren.»
Sie gingen ein paar Schritte weiter.
«Und jetzt kommen wir zu einer ganz besonderen Spezialität, unserem Automatenmenschen. Dieser künstliche Mensch ist eine hochkomplizierte Konstruktion des berühmten Professors Suliman aus Konstantinopel. Einzigartig im Habsburgerreich. Wir würden den Automat gern für Sie öffnen und Ihnen den Mechanismus veranschaulichen, aber leider ist der Apparat so empfindlich, dass wir das nicht riskieren können. Indem ich diesen Hebel hier am Rücken umlege, erwecke ich den Automatenmenschen zum Leben.»
Der Automat, ganz nach der spanischen höfischen Mode gekleidet, hatte bisher regungslos auf dem Podest gestanden. Jetzt hob er zitternd das Kinn und ging mit ruckhaften Bewegungen und starrem Blick auf die Menge zu, die verschreckt zurückwich. Catharina meinte, ein leichtes Knirschen in den Bewegungen zu hören. Ein Kind, das den Automaten berühren wollte, wurde von dem Bärtigen heftig zurückgerissen.
«Bittschön, nicht anfassen, meine Herrschaften. Diese Konstruktion ist Hunderte von Goldstücken wert.» Eilig drängte er die Menge zum Ende des Zelts.
«Und hier sehen Sie die Hauptattraktion unseres Unternehmens: Rochus Agricola, der Mann ohne Hände und Beine, der manche Arbeiten geschickter verrichten kann als jeder von Ihnen.»
Der grauhaarige Mann, der auf einem winzigen Stuhl an einem ebenso winzigen Tisch saß, verneigte sich.
«Meister Agricola ist schon verkrüppelt auf die Welt gekommen. Nichtsdestoweniger kann er ohne Hilfe essen, zeichnen, sich selbst barbieren, ja sogar auf Anhieb einen Faden einfädeln.»
Der Bärtige legte ihm Nadel und Faden auf das Tischchen. Meister Agricola klemmte mit seinem rechten Armstumpf die Nadel aufrecht gegen die Tischkante, nahm dann mit dem Mund den Faden auf und führte ihn zielsicher in die Nadel ein. Die Zuschauer applaudierten. Anschließend malte er mit Tusche einen verblüffend echten Rosenstrauch, indem er die Feder mit dem Mund führte. Dann rasierte er sich geschickt die wenigen Barthaare, das lange Messer fest zwischen die beiden Armstümpfe geklemmt. Zu den Klängen eines lustigen Trinklieds, das Agricola auf seinem Hackbrett zauberte, verließen sie das Zelt.
Christoph schien ein wenig enttäuscht über die Darbietungen, er hatte sich wohl mehr erhofft. Auch Catharina war es schade um ihr Geld, wenn auch aus einem anderen Grund.
«Die armen Menschen, hast du gesehen, wie traurig sie alle ausgesehen haben? Da hat es die Maschine noch am besten, die spürt wenigstens nichts.»
«Glaubst du im Ernst, dass das ein Automat war? Der Mann war doch genauso aus Fleisch und Blut wie wir beide», gab Christoph zurück, aber Catharina ließ sich nicht überzeugen.
Draußen war der Himmel inzwischen wolkenlos blau, und auf der Wanderbühne an der Nordseite des Münsters hatte die Vorstellung bereits begonnen. Eine kräftige Frau mit langen blonden Haaren saß auf einem Bett und strich gerade einem jungen Mann, der vor ihr auf dem Boden kniete, über die Haare: «O Geliebter, niemals werden wir uns trennen.» Catharina lachte. Sie merkte sofort, dass diese Frau ein Mann war, mit Perücke, rot geschminktem Mund und einem viel zu großen Busen unter seinem Kleid. Als die verkleidete Frau ihren Liebhaber zu sich auf das Bett zog, sah man auf der anderen Bühnenseite einen dicken, glatzköpfigen Mann auf einem Stock mit Pferdekopf an der Spitze heranhüpfen. Wieder gurrte die Frau in höchsten Tönen: «Du bist so anders als Hans, dieser tumbe Tor, der nichts von Frauen versteht.»
Neben Catharina begannen einige Zuschauer zu kichern und knufften einen älteren, schon etwas betrunken wirkenden Mann in die Seite. «Hast du gehört, Hans?» – «Weißt du, was deine Susanne in diesem Moment gerade treibt?» – «Geh doch mal nachschauen.»
«Lasst mich in Ruhe», knurrte der Gefoppte ärgerlich.
Auf der Bühne spitzte sich die Situation jetzt zu. Die beiden Ehebrecher wälzten sich laut stöhnend auf dem Bett, als der heimgekehrte Ehemann unbeholfen vom Pferd stieg und rief: «Susanne, mach sofort die Tür auf!»
Das war zu viel für die Gruppe neben Catharina und Christoph. Sie johlten und lachten über die Namensgleichheit, während der echte Hans feuerrot anlief.
«Das ist eine Unverschämtheit, mich und meine Frau so in den Dreck zu ziehen», schrie er und stürzte zur Bühne. Die Schauspieler, sichtlich irritiert über den wütenden Zuschauer, unterbrachen ihr Spiel. «Weitermachen!», brüllte die Menge. Da kletterte der echte Hans auf das Podest, nahm das Steckenpferd und schlug es dem falschen Hans an den Kopf. Die beiden Liebhaber stürzten herbei, und alle vier fielen bei dem Handgemenge von der Bühne. Bald wusste keiner mehr, wer hier gegen wen haute und schlug. Zwei Stadtwächter bahnten sich ihren Weg durch die lärmende Menge, wurden aber wieder zurückgedrängt.
Christoph und Catharina versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
«Los, komm, dort hinüber.» Christoph zog seine Base zur Nordpforte des Münsters, die zum Glück offen stand. Im Chor setzten sie sich auf eine Steinstufe und holten Luft. Obwohl Catharina einen heftigen Schlag gegen die Schulter abbekommen hatte, musste sie über die Situation lachen.
«Die Leute sind froh, wenn sie raufen können. Genauso wie bei uns auf dem Dorf.»
Christoph betrachtete das Farbenspiel, das die Sonne durch die bunten Fenster auf den Steinboden zauberte. Er wirkte verlegen, als er den Blick hob.
«Gehen wir tanzen.»
Der Rest des Tages verging viel zu schnell. Auf der Tanzdiele trafen sie Lene wieder, die mit Schorsch, dem aufgeblasenen Sohn des Stellmachers, über die Bohlen wirbelte. Catharina, die noch nie in ihrem Leben getanzt hatte, ließ kein Musikstück aus, und im Gegensatz zu Lenes Ankündigung hatte Christoph nur Augen für sie.
Als es dämmerte, erinnerte das Läuten der Münsterglocken die ausgelassenen Tänzer daran, dass die Stadttore bald schließen würden. Nach und nach machten sich einzelne Gruppen auf den Weg. Catharina und Christoph hatten es nicht eilig. Bald waren sie die Letzten, die auf der Landstraße durch die sternenklare Nacht wanderten.
«Cathi, es tut mir wirklich Leid, dass ich im Sommer so aufdringlich war.» Er blieb stehen. «Und die alte Magd interessiert mich wirklich keinen Pfifferling. Ich möchte mit dir zusammen sein.»
Er wollte schon weitergehen, da hielt Catharina ihn fest. Zögernd legte sie eine Hand an seine Wange und ließ zu, dass er sie in die Arme nahm. Sie ließen den Abstand zu den anderen noch größer werden und gingen Hand in Hand nach Hause.
«Deshalb also hast du die zweite Dienstmagd eingestellt. Du hattest das schon seit längerem geplant.»
Catharina war im ersten Moment eher wütend als traurig. Sie saß mit Marthe allein in der Küche, Christoph und Lene waren irgendwo im Dorf unterwegs, und die Zwillinge spielten im Hof.
«Denk doch mal nach, Cathi. Christoph muss, wenn er unseren Gasthof übernehmen will, noch eine Menge lernen. Und es ist nun einmal üblich und auch vernünftig, wenn er das an einer anderen Arbeitsstätte tut.»
«Aber warum schickst du ihn nach Villingen, warum so unendlich weit weg? Du hast doch auch einen Schwager in Freiburg, Christophs Vormund, dem das Schneckenwirtshaus gehört? Dort kann er doch genauso viel lernen.»
«Eben nicht. Das Schneckenwirtshaus ist eher eine Schenke, dazu hat es nicht einmal den besten Ruf. Der Hof von Onkel Carl in Villingen ist viel größer, mit eigenem Gästehaus, ähnlich wie hier. Und außerdem –» Sie zögerte einen Moment.
«Was außerdem?» Catharina spürte jetzt, dass es noch einen anderen Grund gab.
«Cathi, ich will ehrlich zu dir sein. Es ist mir nicht verborgen geblieben, wie nah ihr beiden euch gekommen seid. Aber ihr seid doch praktisch Geschwister, lebt unter einem Dach. Und ihr seid noch viel zu jung. Stell dir vor, du würdest ein Kind bekommen.»
Jetzt wurde Catharina trotzig. «Vor dem Gesetz dürften wir aber heiraten, und du könntest es nicht verbieten.»
«Nein. Aber ich kann vielleicht verhindern, dass in eurem Alter mehr passiert als irgendeine Küsserei auf dem Lehener Bergle.»
Catharina sprang auf. «Wer hat das erzählt? Hat dir das Lene zugesteckt?»
Marthe lächelte. «Beruhige dich, Lene kann im rechten Moment schweigen, auch wenn sie sonst ein loses Mundwerk hat. Der Müller hat euch im Sommer beobachtet.»
Catharina starrte vor sich hin. Sie waren auf dem Lehener Bergle also nicht allein gewesen. Im Nachhinein war ihr dieser Gedanke furchtbar unangenehm.
«Und – wann wird Christoph gehen?»
«Noch bevor im Höllental der erste Schnee fällt. Genauer gesagt, in zwei Tagen.»
Wortlos rannte Catharina hinauf in ihre Kammer und warf sich aufs Bett. Warum nur waren in ihrem Leben die schönen Zeiten immer von so kurzer Dauer?
Sie dachte an den Buchenhain am Fluss, der zu ihrem heimlichen Treffpunkt geworden war. Viel zu selten allerdings hatte sich ihnen die Gelegenheit geboten, unbemerkt davonzuschleichen. Dann aber saßen sie im weichen Gras am Ufer, schmiedeten Pläne für die Zukunft und küssten sich lange. Längst genoss Catharina die Zärtlichkeiten genauso wie Christoph.
So glücklich hatte sie sich noch nie gefühlt. Die Arbeit ging ihr noch schneller von der Hand als sonst, sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Abends lag sie neben Lene im Bett und dachte daran, dass sie nur eine hauchdünne Bretterwand von Christoph trennte.
Catharina richtete sich auf und betrachtete das Bild ihrer Mutter. Wie hätte sie sich wohl verhalten? Hätte sie ihnen auch Steine in den Weg gelegt? Lene trat in die Kammer und setzte sich zu ihr auf das Bett.
«Meine Mutter hat dir also gesagt, dass Christoph weggeht. Ich weiß es auch erst seit heute Morgen.»
Sie legte den Arm um Catharina, die mit den Tränen kämpfte.
«Ach, Cathi, das ist doch keine Trennung auf Ewigkeit. In zwei, drei Jahren kommt er wieder zurück, und wenn ihr dann immer noch zusammenbleiben wollt, verlobt ihr euch einfach, und dann kann nichts mehr passieren. Und bis dahin lassen wir beide es uns gut gehen. Tanzen kannst du auch mit anderen Jungen.»
So war Lene. Für sie schien alles einfach, jede Schwierigkeit lösbar. Catharina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
«Aber warum muss jetzt alles so schnell gehen? Tante Marthe hätte uns doch auch schon früher sagen können, was sie vorhat.»
Lene zuckte die Achseln. «Vielleicht hat sie jetzt erst begriffen, was zwischen euch ist, und übermorgen fährt zufälligerweise ein Händler, den sie kennt, nach Villingen und kann Christoph mitnehmen. Pass auf», Lene flüsterte jetzt, «er und ich haben beschlossen, dass wir in der letzten Nacht die Betten tauschen: Ich leg mich in seins, und er kommt herüber. Falls Mutter auf die Idee kommt nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist, zieht ihr beide euch einfach die Bettdecke über die Ohren. Ist das nicht ein famoser Einfall?»
Als am Abend die letzten Gäste gegangen waren, trat Catharina mit dem Kübel voll Essensreste in den Hof hinaus. Ihre Tante folgte ihr.
«Es fällt mir schwer, euch zu trennen. Ich seh doch, wie sehr ihr euch mögt. Aber versuch auch, mich ein bisschen zu verstehen.»
Catharina nickte nur. Dann ging sie zum Stall hinüber. Es dämmerte bereits, und Christoph war mit Füttern beschäftigt. Gemeinsam schütteten sie die Essensreste in den Schweinetrog.
Christoph nahm ihre Hand.
«Heute habe ich mich schrecklich mit meiner Mutter gestritten. Jetzt tut es mir Leid, was ich ihr alles an den Kopf geworfen habe.»
«Ist es wahr, dass wir morgen Nacht in einem Bett schlafen werden?», fragte Catharina leise.
«Ja, aber es wird nicht die letzte Nacht sein, das verspreche ich dir.» Er küsste sie lange und zärtlich im Dunkel des Stalles.
Den nächsten Tag war Christoph mit den Vorbereitungen für seinen Umzug beschäftigt. Vormittags ging er mit seiner Mutter in die Stadt, um noch ein paar Kleinigkeiten einzukaufen, dann machte er sich daran, seine Sachen zu packen. Catharina sah blass aus. Sie vermochte nicht zu sagen, was sie mehr beunruhigte: der Gedanke an Christophs Abschied oder die bevorstehende gemeinsame Nacht. Es war sicherlich nicht richtig, was sie vorhatten, und sie hatte Angst, dass Marthe sie erwischen könnte.
Catharina spürte, wie ihr das Blut in den Schläfen pochte, als am Abend Christoph in die Kammer trat. Die Stelle neben ihr im Bett war noch warm von Lenes Körper. Hilflos stand er vor ihr, trotz seines leinenen Nachthemds zitterte er.
«Frierst du?»
«Nein. Es ist nur – ich weiß nicht recht, was jetzt geschieht. Darf ich zu dir kommen?»
Sie schlug die Bettdecke zurück und rutschte gegen die Wand. Da klopfte es dreimal leise gegen die Bretter. Das vereinbarte Zeichen von Lene, dass alles in Ordnung war. Sie hatte sich noch einmal versichert, dass ihre Mutter schlafen gegangen war.
Catharina nahm Christoph in den Arm, bis er aufhörte zu zittern.
«Freust du dich auf Villingen?»
«Ach, weißt du, freuen ist zu viel gesagt. Es ist schön, einmal aus diesem engen Dorf herauszukommen. Und Onkel Carl finde ich recht nett. Aber ich habe Angst, dass du dir, wenn ich weg bin, irgendeinen hergelaufenen Dorfburschen angelst.»
Catharina streichelte seine Hand. «Lass uns einander versprechen, dass wir aufeinander warten.»
«Versprochen. Und jedes Mal, wenn ich freibekomme, werde ich dich besuchen.»
Dann lagen sie schweigend nebeneinander. Irgendwann fragte sich Catharina, ob Christoph wohl eingeschlafen sein mochte, so tief und regelmäßig gingen seine Atemzüge. Im Obstgarten miaute eine Katze. Sie fand keine Ruhe. Immerzu dachte sie daran, wie leer das Haus ohne Christoph sein würde.
Da spürte sie, wie er sich bewegte.
«Cathi, ich habe einen großen Wunsch. Willst du ihn hören?»
Sie nickte, obwohl er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach.
«Du weißt, dass ich nichts mache, was du nicht auch möchtest. Aber ich hätte gern, dass du – dass du dich ausziehst.» Dann fügte er so leise hinzu, dass sie es kaum verstehen konnte: «Vielleicht ist es ja das letzte Mal.»
«So etwas darfst du nicht sagen.» Sie zog sich das Hemd über den Kopf. Christoph küsste sie sanft auf ihre Augen, ihre Nase, ihre Wangen, während seine Hand die Linien ihres Halses bis zum Schlüsselbein nachzeichnete und von dort zu ihren kleinen festen Brüsten wanderte. Er streichelte Catharina lange und zärtlich. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme, die ihr in die Glieder fuhr.
Cathis Furcht, dass meine Mutter sie ertappen könnte, war völlig unbegründet. Ohne nachsehen zu müssen, wusste sie, dass die beiden zusammen in einem Bett lagen. Aber das beunruhigte sie nicht, denn sie vertraute darauf, dass die Kinder – und Kinder waren die beiden in ihren Augen – vernünftig blieben. Was sie nicht schlafen ließ, war ihr schlechtes Gewissen: Den eigentlichen Grund, warum sie Christoph ausgerechnet nach Villingen schickte, hatte sie verschwiegen. Carl, der Vetter ihres zweiten Mannes, hatte nämlich eine Tochter in Christophs Alter, knapp siebzehn Jahre alt, hübsch anzusehen, fleißig und bescheiden. Mutter hoffte auf eine Verbindung zwischen den beiden. Ich weiß, dass sie Catharina wie ihre eigene Tochter liebte, aber gerade deshalb kam für sie eine Ehe mit Christoph nicht infrage. «Wenn Verwandte Kinder bekommen», sagte sie immer, «führt das zu Krankheit und schlechtem Blut.» Und dass das Ganze nur eine kurze Kinderliebe war, darauf wollte sie sich nicht verlassen.
«Wie schäbig waren meine Pläne, die beiden auseinander zu bringen», sagte sie mir später einmal. Doch was war das gegen meinen Verrat – ohne mich wäre ihr die heimliche Liebe zwischen den beiden vielleicht nie aufgefallen.