25

Catharina sah aus dem Fenster. Auf die Große Gasse fielen dichte Schneeflocken. Es dämmerte bereits, und die Marktleute packten ihre Sachen zusammen.

Sie würde also bald Witwe sein. Der Stadtarzt hatte von zwei, drei Tagen gesprochen, die Michael nach seinem letzten Herzanfall noch zu leben hatte.

«Wasser … Durst …», hörte sie seine brüchige Stimme sagen. Sie drehte sich um. Wie er da so auf dem Bett lag und mit fiebrigen Augen an die Decke starrte, löste er keinerlei Mitgefühl in ihr aus. Sie fühlte überhaupt nichts mehr, seit der Arzt vor einigen Minuten das Haus verlassen hatte, weder Trauer noch Angst. Seltsamerweise auch keine Erleichterung, obwohl sie sich diesen Moment schon so häufig erhofft hatte.

Anstatt Elsbeth zu rufen, ging sie selbst in die Küche und füllte den Krug mit frischem Wasser. Als sie zurückkam, hatte er versucht, sich aufzurichten, und dabei war das Federbett zu Boden gerutscht. Sie deckte ihn wieder zu, gab ihm zu trinken und setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett. Er hustete und brummte etwas. Sie verstand ihn nicht, doch es klang so unwillig wie immer. Regungslos saß sie da und beobachtete die Schneeflocken, die ans Fenster schwebten, sich dort festsetzten und dabei langsam auflösten. Ihre Gedanken kreisten immerzu um dieselbe Gewissheit: dass die mühseligste Phase ihres Lebens bald zu Ende sein sollte. Was danach kam, konnte sie sich nicht vorstellen. Über zwanzig Jahre hatte sie an der Seite dieses Mannes gelebt, im Schatten seines Erfolgs, sich als Frau Magistrat anreden lassen. Wie viele Menschen hatten sie beneidet um dieses behäbige Leben, um diesen beeindruckenden Mann, dem jeder Respekt zollte, selbst dann noch, als er letztes Jahr wegen Unterschlagung in Untersuchungshaft saß. Angesichts seines hohen Alters und seiner Verdienste im Rat der Stadt war er begnadigt worden. Sein Wort besaß Gewicht, im Rat wie in der Zunft – davor aber, wie er sie, seine eigene Frau, immer wieder gedemütigt und gequält hatte, hatten alle die Augen verschlossen.

Der alte Zorn stieg wieder in ihr auf: Hatte sie denn zu viel gewollt? Durfte sie als Frau nicht erwarten, wichtige Schritte selbst bestimmen zu dürfen? Wie gespannt war sie als junges Mädchen auf ihre Zukunft gewesen – und wie hatte sie sich in den letzten zwanzig Jahren gestaltet?

Fremde Städte und Länder besuchen, einmal im Leben das Meer oder wenigstens den Bodensee sehen, andere Sprachen lernen, Bücher lesen, ohne deswegen gedemütigt zu werden, mit den Menschen zusammen sein, die man als Freunde betrachtet, ohne sich deswegen rechtfertigen zu müssen – waren das alles zu hohe Erwartungen gewesen?

Ach, diese Ehe bedeutete nur viele verlorene Jahre. Nicht das Geringste hatte dieser Mann, der da neben ihr röchelte, einlösen können, nicht einmal Kinder hatte er ihr machen können, geschweige denn ihre Lust befriedigen.

Sie starrte in die Dunkelheit und hörte dem eintönigen Singsang des Nachtwächters zu, der unten auf dem Fischmarkt die Lampen ansteckte.

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, kauerte sie halb auf dem unbequemen Stuhl, halb auf der Bettkante. Mit schmerzenden Gliedern richtete sie sich auf und sah zu ihrem Mann hinüber. Es gab keinen Zweifel: Michael lebte nicht mehr.


Der neue Zunftmeister stand schwerfällig auf und hob sein Glas.

«‹Der Tod macht alle Menschen gleich,
in allen Ständen, arm und reich.
Der Tod klopfet bei allen an,
beim Kaiser und beim Bettelmann.›

Michael Bantzer, du wirst uns allen fehlen. Nimm unsere innigsten Fürbitten mit auf deine letzte große Reise.»

Als er einen tiefen Schluck aus seinem Weinglas nahm, taten es ihm die anderen Trauergäste nach, und der trinkfreudige Teil der Totenfeier begann. Sie saßen im «Roten Bären», wo die Schmiedezunft zum Ross eine eigene Stube besaß. Kein weiterer Stuhl, kein weiterer Gast hätten mehr in den holzgetäfelten Raum mit der niedrigen Balkendecke gepasst.

Catharina wunderte sich, wie viele Menschen gekommen waren. Fast der gesamte Magistrat war versammelt, die Meister und einige Gesellen der Schmiedezunft und deren Unterzünfte und natürlich etliche Nachbarn. Dass ihr Mann besonders beliebt gewesen war, glaubte sie nicht. Geachtet, beneidet und manchmal auch gefürchtet wohl eher.

Die Beileidsbezeugungen und Umarmungen ließ sie ungerührt über sich ergehen, in diesem Kreis hatte sie keine Freunde. Bis auf ein paar wenige Handwerksleute mochte sie diese Menschen nicht besonders, und umgekehrt war sie bei den meisten angesehenen Bürgerfamilien als launisch und unnahbar verrufen.

Jedenfalls war sie froh, als der offizielle Teil der Feier vorüber war. Jetzt würde die übliche Zecherei losgehen, und sie konnte sich ihren Gedanken überlassen. Sie schenkte sich gerade Rotwein nach, als der Altobristmeister, der an der Spitze des Stadtrats stand, auf sie zukam.

«Liebe Catharina, ich habe Euch einen Vorschlag zu machen. Was die Werkstatt des seligen Bantzer betrifft, so werdet Ihr Euch ja wohl mit der Zunft beraten. Es sind aber noch andere Dinge zu klären, wie etwa ausstehende Gelder der Stadt oder die ganzen Erbschaftsangelegenheiten. Wenn Ihr erlaubt, würde ich Euch dabei gern zur Seite stehen. Unser Schreiber ist ein kluger Kopf und würde alles in Eurem Sinne in die Wege leiten.»

Catharina seufzte. Kaum lag ihr Mann unter der Erde, kümmerten sich andere Männer um ihre Angelegenheiten. Dann nickte sie. «Schickt den Schreiber in den nächsten Tagen vorbei.»

Der starke Wein stieg ihr zu Kopf.

Die Zunft hatte längst darauf gedrängt, dass sie die Werkstatt aufgeben und einem jungen Meister überlassen solle, denn Meisterstellen waren rar in dieser kleinen Stadt. Dabei hatte sie ganz andere Pläne. Als Erstes würde sie Siferlin entlassen, und dann würde sie das Geschäft ihres Mannes selbständig weiterführen, wie diese Frau, die sie vor so vielen Jahren auf der Fahrt nach Villingen kennen gelernt hatte. Hieß sie nicht Maria oder Marie? Dabei fiel ihr Christoph ein. Wie es ihm wohl ging, dort oben in Villingen? Sie hatte ihm niemals zurückgeschrieben. Und vielleicht, vielleicht konnte ihre Tochter sie einmal besuchen kommen? Sie spürte ihr Herz schneller schlagen. Doch nein, das wäre nicht gut. Nicht für Marthe-Marie, nicht für Lene, und auch nicht für sie selbst.

Müde schaute sie durch die kleinen, in Blei gefassten Scheiben nach draußen. Im Licht der Laterne tanzten die Schneeflocken durch die Dämmerung. Seit Tagen schneite es immer wieder.

Plötzlich erschrak sie bis ins Mark: Von draußen drückte sich ein winziges Gesicht unter einer roten Kapuze an das Fenster und starrte ihr aus leeren Augenhöhlen entgegen. Hastig zwängte sie sich durch die engen Stuhlreihen und stürzte hinaus auf die Gasse. Weit und breit war niemand zu sehen. Aber war da unter dem Fenster nicht der Schnee festgetreten? Was hatte das zu bedeuten? Was wollte der rote Zwerg von ihr? Ihr Kopf schmerzte. Sie versuchte sich zu beruhigen. Wahrscheinlich hatte sie zu viel getrunken und sich getäuscht. Der alte Bartholo musste doch längst tot sein.

Zitternd stand sie unter der schmalen Balustrade und starrte auf den zertretenen Schnee. Sie glaubte, Spuren von winzigen Schuhen zu entdecken. Da hörte sie jemanden ihren Namen rufen, eine Stimme, fremd und vertraut zugleich. Sie fuhr herum und glaubte zu träumen: Durch das Schneegestöber kam Christoph auf sie zu. Sie erkannte ihn auf Anhieb, obwohl das Alter seine Haare gelichtet hatte und seine Gesichtszüge männlicher und ernster geworden waren.

«Schnell, gehen wir hinein.» Er zog sie in die Diele des Gasthofs, wo er sich den Schnee von den Schultern klopfte. Vor Aufregung sprach er sehr schnell. «Ich war in Emmendingen, als ich durch Zufall von Michaels Tod erfuhr, und wollte schon zur Beerdigung hier sein, aber bei diesem Wetter war es fast unmöglich, vorwärts zu kommen. Und jetzt – solange es schneit, kann ich nicht nach Villingen zurück.»

Er blickte ihr fest in die Augen. «Ich habe also viel Zeit. Wenn du willst, bleibe ich ein paar Tage hier.»

Vor Überraschung konnte Catharina immer noch nicht sprechen, und sie nickte nur. Verlegen sahen sie sich an. Da ging Christoph einen Schritt auf sie zu und berührte vorsichtig ihre Schultern.

«Richtig zerbrechlich bist du geworden! Wie lange haben wir uns nicht gesehen?»

«Ich weiß es nicht», murmelte Catharina. «Viel zu lange jedenfalls.»

Die Hexe von Freiburg
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