28
Sie erreichten Bellingen am frühen Abend, und da ein feiner, aber stetiger Landregen eingesetzt hatte, der Glieder und Kleidung klamm werden ließ, trieb Sommerer seine Braunen in Trab und hielt schließlich vor einem kleinen, abgewirtschaftet wirkenden Gasthof. Im Schutz des Vordaches an der Längsseite des Hauses drängten sich einige Pferde im Matsch, vier, fünf Karren standen dicht nebeneinander.
«Ich weiß ja, dass Ihr Wirtsleute seid», sagte der Fuhrunternehmer reichlich verlegen. «Umso unangenehmer ist es mir, Euch hierher zu führen. Ihr wisst vielleicht, dass es in Bellingen berühmte Heilquellen gibt, und dadurch sind die anständigen Gasthäuser völlig überteuert. Deshalb übernachte ich, wenn es das Wetter zulässt, normalerweise draußen, an einem hübschen, windgeschützten Rastplatz am Ortsrand. Aber bei diesem Regen –»
Er sah Catharina an. «Ich für meinen Teil bleibe hier, aber wenn Ihr wollt, führe ich Euch zu einem anderen Gasthof. Dort zahlt Ihr allerdings das Doppelte.»
Catharina winkte ab. «Für eine Nacht wird es schon gehen.»
Doch als sie die stickige, überfüllte Gaststube betraten, bereute Catharina ihren Entschluss. Dass sich so etwas Gasthaus nennen durfte! Ein kahler, von einigen Tranlampen spärlich erleuchteter Raum diente als Herberge für Männer und Frauen gleichzeitig, und in der Ecke gleich neben dem Eingang, nur durch einen hüfthohen Bretterverschlag abgetrennt, war das lebende Hab und Gut der Gäste angebunden: Zwei Schweine, einige Hühner und vier Ziegen standen auf einer urin- und kotgetränkten Strohschütte. Sicherlich hätte es bestialisch gestunken, wären die Ausdünstungen der Tiere und durchnässten Menschen nicht von dem beißenden Rauch einer Feuerstelle überdeckt worden, die sich an der gegenüberliegenden Wand befand und deren Abzug ganz offensichtlich verstopft war. Eine dicke Frau in speckigem Kittel und vor Schmutz starrenden Haaren schlurfte auf sie zu. Grußlos und in mürrischem Ton gab sie ihnen Anweisungen.
«Pferd und Wagen kosten extra. Hunde müssen draußen bleiben. Nasse Kleider und Schuhe gehören auf die Bänke am Feuer. Sichert Euch gleich einen Strohsack, sonst müsst Ihr auf dem blanken Boden schlafen. Bezahlt wird im Voraus.»
«Und was ist mit Abendessen?», fragte Christoph.
«Gibt’s nach Sonnenuntergang», gab die Wirtin zurück und hielt die Hand auf.
Nachdem Sommerer und Christoph bezahlt hatten, zerrten sie aus einem rasch kleiner werdenden Stapel drei zerschlissene Strohsäcke hervor. Sie hatten die unbefriedigende Wahl, entweder mit tränenden Augen in der Nähe des qualmenden Feuers oder im Stallgeruch der gegenüberliegenden Seite zu schlafen. Der Fuhrunternehmer sah sich prüfend um.
«Mein Vorschlag: Wir legen uns an die Kaminseite unter das Fenster. Dort ist zwar jetzt noch die schlechteste Luft, aber das Feuer wird nach dem Abendessen ausgehen, und dann öffnen wir das Fenster. Immer noch besser als in der Nähe der Strohschütte, denn die wird erfahrungsgemäß im Lauf der Nacht noch mehr stinken.»
Während der Fuhrunternehmer noch einmal hinausging, um nach Wagen und Pferden zu sehen, bereiteten Catharina und Christoph die Schlafstatt vor. Sie mussten daumenlange Kakerlaken von den dreckverkrusteten Dielenbrettern verscheuchen, bevor sie ihre vom Sitzen steifen Glieder ausstrecken konnten. Immer mehr durchnässte Wanderer strömten herein. Die meisten von ihnen zogen sich ungeniert bis aufs Hemd aus und breiteten ihre Kleider rund um die Feuerstelle zum Trocknen aus. Die Feuchtigkeit im Raum ließ kaum noch Luft zum Atmen.
«Sind das Hübschlerinnen?», fragte Catharina und deutete auf drei aufgedonnerte Frauen, die kichernd die Stube betraten. Die jüngste von ihnen lächelte unverhohlen zu Christoph herüber.
«Ich denke schon», sagte Christoph und wandte ihnen den Rücken zu. «Wahrscheinlich hoffen sie auf einen guten Verdienst heute Nacht.»
Sommerer kehrte zurück, und kurz darauf trugen die Wirtin und eine Magd Holzgestelle in die Mitte des Raumes und legten lange Bretter darüber. Dann wischten sie mit zwei, drei Armbewegungen die feuchten Kleider von den Bänken. Einige Gäste murrten, als sie ihre Kleidung auf dem schmutzigen Boden liegen sahen. Endlich war die Tafel aufgebaut, und die Wirtin klatschte in die Hände. «Nachschlag gibt es nur einmal, Wein und Wasser, soviel Ihr wollt.»
«Ich rate Euch, dieses Angebot anzunehmen», grinste der Fuhrmann. «Je mehr Ihr trinkt, desto besser übersteht Ihr die Nacht und das miserable Essen.»
Die Leute kramten ihre Messer aus dem Gepäck und drängten sich hungrig an den Tisch. Catharina starrte auf ihren Napf mit der lauwarmen Hirsegrütze. Am Rand klebten noch Essensreste vom Vortag.
«Ich habe keinen Hunger», sagte sie und schob den Napf von sich.
«Dann nimm wenigstens etwas von dem Fleisch.» Christoph reichte ihr die Platte. «Es ist zwar zäh wie Leder, aber gut gewürzt.»
«Wahrscheinlich würde man sonst merken, wie angefault es ist. Nein danke, ich halte mich lieber an den Wein, auch wenn er nach Essig schmeckt.»
Catharina schlief alles andere als ruhig. Sie war es nicht gewohnt, mit so vielen Menschen in einem Raum zu liegen, zudem machte ihr die schlechte Luft zu schaffen, denn die Wirtin hatte ihnen verboten, die Fenster zu öffnen, solange es regnete. Auch Christoph, der zwischen ihr und dem Fuhrmann lag, wälzte sich auf seinem Sack unruhig hin und her, sodass Sommerer ein Stück weit von ihm abrückte.
Inzwischen waren alle Lichter gelöscht, was manche nicht daran hinderte, im Dunkeln weiterzuzechen. Das erste Schnarchen war zu hören und mischte sich mit dem steten Platschen dicker Regentropfen in eine Blechschüssel. Dann setzte nur wenige Schritte weiter ein leises, rhythmisches Stöhnen ein, das bald darauf auch noch aus einer anderen Richtung zu hören war. Catharina wäre am liebsten nach draußen gegangen, um einen Spaziergang zu machen.
Endlich hörte der Regen auf. Sie stand auf und öffnete vorsichtig, um niemanden zu wecken, das Fenster. Kühle Nachtluft strömte herein und erfrischte sie. Der Himmel klarte langsam auf, und ein fast voller Mond schien in die Gaststube. Catharina wollte sich eben hinlegen, da stutzte sie: Die Gestalt, die sich von hinten an Christoph presste, war doch nicht Sommerer! Dann begann sich die Gestalt sachte zu bewegen, dabei rutschte die Decke zur Seite, und Catharina sah einen bleichen splitternackten Frauenkörper und eine Hand, die Christophs Geschlecht umfasste. Es war die jüngste der drei Dirnen. Als sich Christoph ihr mit einem leichten Grunzen entgegendrehte, griff Catharina kurzerhand in den Haarschopf der Frau und zog.
«Au! Hör auf, du Miststück!»
«Lass augenblicklich meinen Mann los und verschwinde, sonst reiß ich dir deine Haare einzeln aus», zischte Catharina wütend.
«Ruhe!», riefen Stimmen aus der Dunkelheit. «Tragt Eure Streitereien draußen aus.»
«Was ist denn los?», fragte Christoph erstaunt und tastete nach Catharinas Hand.
«Das fragst ausgerechnet du», antwortete Catharina böse. «Du warst doch kurz davor, diese Dirne zu … zu …» Das Mädchen war inzwischen im Schutz der Dunkelheit verschwunden.
«Ich schwöre dir, Cathi, ich habe geschlafen. Na ja, ein bisschen wach geworden bin ich eben schon, aber ich dachte, du seist es und –»
«Was und?»
Er nahm sie in den Arm und zog sie fest an sich. «Und ich habe mich gefreut.»
Sie spürte, wie sich seine Erregung auf sie übertrug, und wickelte sich umso fester in ihren Umhang.
«Bitte, Christoph, hör auf. Ich finde es schrecklich hier in dieser verlausten Bude, wo herumgehurt wird wie in einem Frauenhaus.»
«Dann lass uns rausgehen und uns ins nasse Gras legen.»
«Du spinnst.»
«Wenn jetzt nicht bald Ruhe ist, hole ich die Wirtin!», schimpfte eine Frau. Entnervt legte sich Christoph auf die Seite.
Als Catharina mit leichten Kopfschmerzen erwachte, dämmerte es, und die ersten Gäste machten sich bereits zum Aufbruch fertig. Strahlend, mit nassem Gesicht, stand Sommerer neben ihrer Schlafstatt.
«Es ist herrliches Wetter. Wenn wir gleich losfahren, schaffen wir es heute bis Laufenburg.»
«Kann man sich hier denn waschen?», fragte Catharina.
Er nickte. «Draußen an der Viehtränke.»
Die kalte Morgenluft ließ ihre Kopfschmerzen augenblicklich verschwinden. Sie drängte sich zwischen zwei ältere Frauen an die Tränke, holte tief Luft und klatschte sich dann mit vollen Händen das eisige Wasser an Hals und Gesicht. Nachdem sie sich mit ihrem Sacktuch abgetrocknet hatte, hielt sie es noch einmal unter Wasser und lief in die Stube zurück. Genüsslich drückte sie das eiskalte Tuch auf Gesicht und Nacken des schlafenden Christoph.
«Hilfe!»
Mit einem Schrei richtete er sich auf und riss Catharina das Tuch aus der Hand.
«Die Rache für deine nächtlichen Gelüste –»
Sommerer, der die Szene beobachtet hatte, lachte. «Die Dirne hat Eurem Mann ja einen schönen Schlamassel beschert. Diese Weiber schrecken wirklich vor nichts zurück, nicht mal vor anwesenden Ehefrauen. Ich warte draußen am Wagen auf Euch, ein Morgenmahl gibt es hier nämlich nicht. Bis gleich.»
Auf Catharinas Bitten hin machte der Fuhrmann einen Abstecher an den kleinen Hafen. Träge glitzerte der mächtige Strom in der Morgensonne. An der Anlegestelle machte gerade ein Schiffszug aus vier lang gestreckten, mit bunten Fahnen geschmückten Transportschiffen fest. Catharina hatte noch nie Schiffe mit Aufbauten und Segeln oder Flöße in dieser Größe gesehen und wäre gern ausgestiegen, um diese fremde Welt der Schifffahrt genauer kennen zu lernen. Doch Sommerer drängte zur Weiterfahrt.
«Ihr werdet auf dieser Reise mehr als genug Wasser und Boote besichtigen können.»
Bis zum frühen Vormittag war vom nächtlichen Regen keine Pfütze mehr zu sehen, und die Sonne brannte heiß auf sie herunter. Sie ließen das Rheintal hinter sich, da Sommerer drei Ballen Leinen in Lörrach abzuliefern hatte. Dort, in einem Wäldchen unterhalb der Burg Rötteln, holten sie ihr Frühstück nach.
«Wir haben zwei Möglichkeiten zur Weiterfahrt», sagte Sommerer und nahm seinen Pferden den Hafersack ab. «Entweder nehmen wir den etwas längeren Weg südlich des Dinkelbergs nach Rheinfelden oder die Straße durch das Wiesental. Die ist zwar etwas bergiger und anstrengender für die Tiere, aber dafür schattiger. Ja, ich denke, wir fahren oben herum, früh genug dran sind wir, und der Wagen ist bereits halb leer.»
Dann bat er seine beiden Fahrgäste, für alle Fälle ihre Messer bereitzuhalten, da diese Strecke nicht ganz so sicher sei. Etwas beunruhigt rückte Catharina näher an Christoph. Wollte der Fuhrmann sie nur hochnehmen, oder lauerten jetzt tatsächlich Gefahren?
Ohne Zwischenfälle stießen sie kurz vor Säckingen auf den Hochrhein. Catharina konnte kaum glauben, dass dies derselbe Fluss sein sollte, dessen riesige Wasserfläche sie am Morgen bewundert hatte. Viel schmaler war er geworden, seine Trägheit hatte er verloren. Aus dem gekrümmten Lauf erhoben sich felsige Inseln und hier und da die Schaumkronen von Stromschnellen. Die Berge und Hügel des Hotzenwalds schoben sich so dicht ans Ufer, dass gerade noch Platz für die Landstraße und den Leinpfad blieb, auf dem kräftige Pferde und Ochsen ihre Schiffslast stromaufwärts zogen.
Sommerer trieb seine erschöpften Braunen an. Ohne Halt zu machen, fuhren sie an der Befestigung von Säckingen vorbei, denn die Sonne stand bereits tief.
«Wir haben zwar in Laufenburg einen sicheren Schlafplatz», wandte sich Sommerer nach hinten, «aber nach Einbruch der Nacht werden keine Wagen mehr in die Stadt gelassen.»
Gerade noch rechtzeitig erreichten sie die Tore der Habsburgerstadt. In einem Gässchen hinter der Pfarrkirche wohnte der Kaufmann, für den die restliche Fuhre bestimmt war und der Sommerer eine Schlafkammer zur Verfügung stellte. Als der Fuhrmann seine Begleiter vorstellte, ließ der dicke, gemütliche Mann unverzüglich zwei weitere Strohsäcke in die Kammer bringen.
«Es tut mir Leid, dass ich kein weiteres Bett mehr frei habe», entschuldigte er sich bei Catharina. Die lachte.
«Wenn Ihr wüsstet, was ich für eine Nacht hinter mir habe. Da erscheint mir der Strohsack in Eurer Kammer wie ein Fürstenbett.»
Christoph nahm die Einladung zum Abendessen freudig an, doch Catharina war von der langen Fahrt völlig erschöpft und zog sich zurück. Kaum hatte sie sich auf ihrem Lager ausgestreckt, fiel sie auch schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am dritten Tag ihrer Reise wurde Catharina das ewige Sitzen auf dem rumpelnden Wagen zu viel.
«Am liebsten würde ich wieder zu Fuß gehen», sagte sie leise zu Christoph.
«Sag so was nicht», gab er zurück. «Wenn wir Pech haben und keinen Wagen nach Konstanz finden, müssen wir morgen den ganzen Tag marschieren.»
Hinter Waldshut verließen sie den Rhein und fuhren durch die fruchtbare Hügellandschaft des Klettgaus. Die Festung von Schaffhausen war schon in Sichtweite, als Sommerer sein Gefährt in einen schmalen Hohlweg lenkte, der bald auf ein kleines felsiges Plateau mündete.
«Euch zuliebe», wandte er sich lächelnd an Catharina, «mache ich einen Umweg. Ich will Euch etwas zeigen, das Ihr nie vergessen werdet. Steigt aus und schaut Euch den Rhein einmal von oben an.»
Neugierig traten Christoph und Catharina an den Rand des Felsrückens und sahen nur einen Steinwurf weit entfernt den Fluss zu ihren Füßen.
«Was ist denn das?»
Eine weiße Wand von der Breite einer kleinen Stadt versperrte das Flusstal. Erst auf den zweiten Blick erkannten sie, dass da ungeheure Wassermassen, die Gischt und Nebel versprühten, in die Tiefe stürzten. Sprachlos betrachtete Catharina das Schauspiel, lauschte dem dumpfen Grollen des Wasserfalls und spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Haut.
Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Rathaus von Schaffhausen. Der Abschied von Sommerer fiel ihnen schwer.
«Wenn ich wieder einmal nach Freiburg komme, besuche ich Euch», versprach der Fuhrmann und nahm Catharina und Christoph herzlich in den Arm. «Ihr wart die angenehmste Reisebegleitung seit langem. Gott sei mit Euch.»
«Gott sei mit Euch, Sommerer, und behüte Euch auf Euren Reisen.»
Die wenigen Meter zum Gasthaus hinauf, das Sommerer ihnen empfohlen hatte, gingen sie zu Fuß. Der schmale Fachwerkbau besaß eine gemütliche kleine Schankstube und zwei einfache, aber saubere Schlafsäle – der eine für Männer, der andere für Frauen.
«Schade», sagte Christoph. «Ich hatte mich schon daran gewöhnt, neben dir zu schlafen.»
Nachdem sie dem Wirt ihr Gepäck in Obhut gegeben hatten, kauften sie sich auf dem Marktplatz heiße Pfannkuchen und schlenderten zur Anlegestelle. Bis in die Abendstunden sahen sie dem geschäftigen Treiben der Bootsleute und Lastträger zu. Catharina war restlos glücklich.
«Und morgen sind wir am See! Ich kann es kaum erwarten.»
Am nächsten Tag weckte Christoph sie in aller Herrgottsfrühe. Wie Sommerer ihnen geraten hatte, begaben sie sich zur Rheinbrücke, über die die Landstraße nach Stein und Konstanz führte. Auf dem Weg dorthin kam ihnen ein Menschenstrom entgegen, an dessen Spitze, bewacht von schwer bewaffneten Bütteln, drei zerlumpte Gestalten stolperten. Bei ihrem Anblick fuhr Christoph der Schreck in die Glieder – wurden nun überall im Land Hexen und Zauberer verbrannt? Die Männer, alle drei in seinem Alter, waren an Fußknöcheln und Handgelenken aneinander gefesselt, ganz offensichtlich waren sie verwundet, denn ihre Kittel waren blutverschmiert, und einer von ihnen trug einen schmutzigen Verband am Kopf. Wütend bewarfen die Menschen am Straßenrand sie mit faulem Obst und Pferdeäpfeln.
«Hängt sie auf, diese Quacksalber», riefen sie. «Ans Rad mit ihnen!»
«Was wirft man den Männern vor?», fragte Christoph einen der Umstehenden.
«Diese Hundsfötte haben gestern auf dem Markt Gelbe Rüben für Alraunen verkauft. Dafür werden sie jetzt an den Galgen geknüpft.»
«Lass uns schnell weitergehen», flüsterte Catharina.
Gegen einen, wie Christoph fand, unverschämt hohen Preis fand sich ein Krämer bereit, sie mit nach Steckborn zu nehmen. Auf seinem Karren saß es sich alles andere als bequem, und die Sonne trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn. Doch als linker Hand das Städtchen Stein auftauchte, erhob sich eine angenehm frische Brise. Schließlich hielten sie in Steckborn, und Catharina und Christoph kletterten vom Wagen.
«Sieh mal, Christoph, der Rhein wird immer breiter.»
Der Krämer beobachtete Catharina, und ein Anflug von einem Lächeln breitete sich über sein mürrisches Gesicht. «Dachte ich es mir doch, dass Ihr Fremde seid», sagte er und spuckte aus. «Was Ihr hier seht, ist der Untersee. Die Türme da drüben gehören zu den Klosterkirchen von Reichenau, einer großen Insel, der waldige Bergrücken dahinter ist der Bodanrück. Wartet ab, bis Ihr in Konstanz seid, dort fängt der See erst richtig an.»
Trotz der Hitze machten sie sich gleich auf den Weg.
Christoph genoss es, neben Catharina den schmalen Uferweg entlangzuwandern, vorbei an üppigen Gemüsegärten und fetten Viehweiden, an schilfbesetzten Buchten, in denen flache Holzkähne schaukelten, und Kiesstränden mit glasklarem Wasser. Als sie schließlich das Wasserschloss der Konstanzer Bischöfe erreichten, runzelte er die Stirn. Hier war der See eindeutig zu Ende, und vor ihnen erhoben sich die Türme und das Münster der österreichischen Garnisonstadt. Er war verwirrt.
«Führt dieser Weg in die Stadt?», fragte er einen Fischer, der im Schatten seiner Hütte Netze ausbesserte. Der nickte.
«Immer am Rhein entlang.»
Also waren sie wieder am Rhein angekommen. Christoph warf einen verstohlenen Seitenblick auf Catharina – ob sie wohl sehr enttäuscht vom Bodensee war? Sei’s drum, es wartete ja noch eine Überraschung, eine Überraschung, mit der sie sicherlich nicht rechnete. Unwillkürlich lächelte er und beschleunigte den Schritt.
«Nun renn doch nicht so», schalt Catharina. «Und das bei dieser Hitze.» Dann blieb sie stehen.
«Sieh mal, dort, hinter der Brücke. Siehst du die Masten und Segel? Da ist ja noch ein See!»
Sie rannten los, bis sie das steinerne Geländer der Rheinbrücke erreicht hatten. Christoph traute seinen Augen nicht: Eine silbrig glitzernde Wasserfläche von unvorstellbarer Weite. Vor sich konnte er zwar noch schemenhaft eine Hügelkette ausmachen, doch wenn man nach rechts sah, dehnte sich der See in die Unendlichkeit, verschmolz mit dem dunstigen Sommerhimmel. So gewaltig hatte er sich den See nicht vorgestellt. Er sah hinüber zum Hafen, einem Gewirr von Masten und Segeln, von Tauen und bunten Wimpeln, und inmitten der hin und her schaukelnden Takelage Schwärme von kreischenden Möwen. Da spürte er Catharinas Arm um seine Hüften, ihren erhitzten Körper, der sich an seine Seite schmiegte.
«Danke, Christoph.»
Er sah sie an, sah die Strähnen, die sich aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst hatten, ihre vom Laufen immer noch geröteten Wangen und die tiefschwarzen, mit Tränen gefüllten Augen. Gütiger Gott im Himmel, wie sehr er diese Frau doch liebte!
«Weißt du, was ich jetzt möchte?», sagte Catharina nach einer Weile. «Dort drüben auf der anderen Seite des Rheins, wo es so grün ist, am Seeufer sitzen und aufs Wasser schauen. Mir ist jetzt nicht nach den engen Gassen und dem Lärm einer Stadt.»
«Gut, wenn du meinst. Aber hast du noch keinen Hunger?»
«Wie sollte ich in so einem Moment Hunger haben? Komm.»
Sie überquerten die Brücke und schlenderten an einfachen Häuschen und Fischerhütten vorbei, bis der Weg endete und nur noch ein schmaler Trampelpfad durch schilfiges Gelände führte. Schließlich erreichten sie eine einsame Bucht mit einer kleinen Wiese und einem Erlengehölz, das seine langen Schatten auf den kiesbedeckten Strand warf. Catharina, die schon den ganzen Weg über die Schuhe in der Hand getragen hatte, warf sie nun mitsamt ihrem Beutel auf die Wiese und watete mit gerafftem Rock durch das flache Wasser auf einen umgestürzten Baumstamm zu.
«Das tut gut!» Sie war auf den Stamm geklettert und ließ die Füße ins kühle Wasser hängen, während die Sonne ihr den Rücken wärmte. Im Licht des späten Nachmittags hatte der See eine tiefblaue Farbe.
«Was meinst du, Christoph, wie unendlich weit weg mag das Ufer dort sein, wenn man es nicht sehen kann.»
«Wenn du genau hinschaust, kannst du Berge erkennen. Ich sehe sogar Schneefelder.»
Während sie angestrengt über das Wasser starrte, zog Christoph sich blitzschnell aus.
«Und jetzt gehe ich baden» rief er, stürzte sich bäuchlings ins Wasser und spritzte und tobte wie ein kleiner Junge.
«Cathi, komm, es ist herrlich!»
«Um Himmels willen, ich kann nicht schwimmen, und außerdem tun die Steine meinen armen Füßen weh.»
Er richtete sich auf. «Schau her, hier kannst du stehen. Und der Boden ist aus feinstem Sand.»
Sie zögerte, dann streifte sie ihre Kleidung bis aufs Hemd ab. Mit vorsichtigen Schritten tastete sie sich über die Kiesel auf Christoph zu, der sie übermütig nass spritzte.
«Na warte», rief sie und stürzte auf ihn zu. Sie packte Christophs Knie und versuchte, ihn umzuwerfen. Dabei fielen sie beide der Länge nach ins Wasser. Prustend kam Catharina wieder hoch. Ihre runden Brüste zeichneten sich unter dem nassen Hemd ab, auf ihren Armen und Schultern glitzerten die Wassertropfen in der Sonne wie Diamanten. Christoph betrachtete sie ungläubig. Er holte tief Luft und ließ sich rücklings ins Wasser fallen.
«Christoph, wo bist du?»
Hinter ihrem Rücken tauchte er auf und umarmte sie.
«Du wirst mich nie wieder los», flüsterte er ihr ins Ohr. Er spürte, wie ihre Abwehr in sich zusammenfiel wie eine brüchige Mauer, und sie küsste ihn mit einer Leidenschaft, die er niemals erwartet hätte. Er führte sie ans Ufer, ins weiche Gras, und zog sie an sich. Zitterte sie?
«Wenn du wüsstest», sagte er leise, «wie viel Angst ich davor habe, alles falsch zu machen. Außer mit Sofie war ich nie mit einer Frau zusammen.»
«Vergiss nicht die Magd aus Lehen.» Catharina legte ihm die Hand über die Augen. «Weißt du, was ich möchte? Dass du die Augen schließt und mich nicht anschaust. Versprichst du das?»
«Ich mache alles, was du willst.»
Während seine Hand jeden Zoll ihres Körpers ertastete, nahm er wahr, wie sie weich und anschmiegsam wurde und erst langsam, dann immer forscher seine Zärtlichkeiten erwiderte. Aus dem Erlenbruch drang der herbe Duft von Bärlauch, ein Kuckuck begann zu rufen. Das Rauschen der Blätter im Wind über ihnen, das sanfte Hin und Her des Sees zu ihren Füßen, die Bewegungen ihrer feuchten Leiber: Es wurde alles eins, kein Oben und Unten, kein Innen und Außen gab es mehr, nur noch ein Gefühl von Wärme und Nähe, das sich steigerte und wie eine Feuersbrunst von ihm Besitz ergriff. Er hätte nicht sagen können, wem sich der lang gestreckte Seufzer entrang, der sich mit dem Ruf des Kuckucks mischte.
Langsam lösten sie sich voneinander. Der See lag so ruhig und gelassen da wie zuvor, der Kuckuck war längst verstummt. Catharina betrachtete Christophs Brust, die sich immer noch unter schnellen Atemzügen hob und senkte. Erstaunt fragte sie sich, wieso sie davor, was eben geschehen war, jemals hatte Angst haben können. Wie ein glühender Feuerball hatte sich ihr Innerstes zusammengezogen, und auch jetzt noch verspürte sie das heftige Pochen, das nur langsam verebben wollte.
Ihre Hände ineinander verschränkt, lagen sie lange Zeit schweigend in der Abendsonne. Wie leicht schien auf einmal das Leben, wie gering die Zwänge und Widrigkeiten der vergangenen Jahre. Sie richtete sich auf und strich Christoph das verschwitzte Haar aus der Stirn.
«Jetzt ist alles gut. Es ist, als wären wir niemals getrennt gewesen.»
Christoph lächelte beinahe schmerzvoll.
«Wie konnte ich nur so lange warten. Was auch immer geschieht – ich will dich nie wieder verlassen.»
Als von einem nahen Kirchturm das Sechs-Uhr-Läuten zu hören war, stand er auf. «Wir müssen los!»
«Willst du denn heute Abend noch zu diesem Gewürzhändler?»
«Nein, das hat Zeit.» Er betrachtete sie liebevoll. «Aber wir müssen noch ein Nachtquartier finden, das schönste, das es in Konstanz gibt.»
Als sie die Stadt erreichten, wunderte sich Catharina, wie zielstrebig Christoph auf das alles überragende Münster zusteuerte und sich dann zum Obermarkt durchfragte. Vor einem stattlichen Haus blieb er stehen.
«Hier muss es sein», murmelte er und schlug den schweren, mit einem Löwenkopf besetzten Eisenring an die Tür.
«Das sieht nicht eben nach einer Herberge aus», sagte Catharina, doch bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, öffnete sich die Tür, und vor ihnen stand – Lene.