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So also sah eine leibhaftige Hexe aus! Festgekettet kauerte Anna Schweizerin mit gebrochenen Beinen auf dem Henkerskarren, kahl geschoren, den flackernden Blick zum Himmel gerichtet, mit einem losen Kittel über dem nackten Leib. Deutlich konnte die Menge die Brandmale auf ihren Armen und Schultern erkennen, zu denen jetzt neue Wunden hinzukamen: Alle zwanzig Schritte stieß der Henkersknecht ihr eine glühende Zange ins Fleisch.

Für die Zuschauer des Spektakels war die öffentliche Bestrafung von Mördern, Dieben und Betrügern so selbstverständlich wie der Wechsel von guten und schlechten Ernten, von fetten und mageren Jahren. Ob Auspeitschen oder Brandmarken, Abschneiden der Zunge oder der Gliedmaßen, Aufhängen, Rädern, Ertränken oder der mildtätige Hieb mit dem Richtschwert – niemandem wäre in den Sinn gekommen, dass an der Wiederherstellung des Rechts mittels körperlicher Züchtigung etwas unrecht sein mochte. Davon abgesehen, war jeder Schauprozess eine willkommene Unterbrechung des Alltagstrotts und der täglichen Mühsal.

Doch als am 20. März des Jahres 1546 das Hohe Gericht verkündet hatte, die Besenmacherin Anna Schweizerin sei wegen Hexerei bei lebendigem Leib zu verbrennen, ging ein ungläubiges Raunen durch die Bevölkerung von Freiburg. Dabei war es nicht die schreckliche Todesart, die die Gemüter erregte, sondern die Tatsache, dass mitten unter ihnen eine Hexe gelebt haben sollte, unbemerkt und unerkannt. Zwar hatte man von Ketzer- und Hexenverbrennungen gehört, aber das waren Nachrichten von weit her gewesen, aus anderen Teilen des Reiches, aus Frankreich, Oberitalien oder aus der welschen Schweiz. Auch der inquisitorische Eifer der beiden Dominikanermönche Jacob Sprenger und Heinrich Cramer war niemals bis Freiburg gelangt. Zauberei und Wahrsagerei, schwarze und weiße Magie – das waren Dinge, mit denen fast jeder einmal in Berührung gekommen war, doch Hexerei und Teufelspakt? Auf einmal wussten sich die Freiburger unglaubliche Dinge zu erzählen über diese Besenbinderin aus der Wolfshöhle, jenem düsteren Viertel unterhalb des Burgbergs, das man nach Einbruch der Dämmerung nur ungern durchquerte. Nun strömten die Menschen gaffend, mit offenen Mäulern zusammen, um die Verurteilte auf ihrem letzten Weg vom Kerker zum Richtplatz auf dem Schutzrain zu begleiten.

Gespannt warteten die Leute das Aufstöhnen der Gemarterten ab, um dann in lautes Grölen auszubrechen. Kaum einer der Zuschauer verspürte Mitleid, schließlich war diese Frau in einem ordentlichen Prozess überführt und verurteilt worden. Auf Geheiß ihres teuflischen Buhlen hatte sie auf der Gemarkung Kirchzarten in einem riesigen Kessel Hagel gesiedet und damit die frische Saat vernichtet, etliche Stück Vieh gelähmt und sich nächtens auf dem Kandel zum Sabbat eingefunden. Hinzu kam, dass sie eine Fremde war, eine ‹Reingeschmeckte› aus Basel. Hatte man sie dort nicht letztes Jahr wegen Zauberei aus der Stadt gejagt?

Die Hebamme schloss das Fenster, und das Geschrei des Pöbels wurde leiser. Im Hause des Marienmalers Hieronymus Stadellmen interessierte sich ohnehin niemand für dieses unerhörte Ereignis. Stadellmens junge Frau Anna lag in den Wehen, seit zwanzig Stunden schon, und verlor zusehends an Kraft. Das offene pechschwarze Haar klebte um ihr kalkweißes Gesicht, und die feinen wie von Künstlerhand modellierten Züge waren von Schmerz verzerrt. Es war ihre erste Geburt.

Verzweifelt ging Hieronymus neben dem Bett auf und ab, bis ihn seine Schwester Marthe hinausschickte.

«Du machst uns alle verrückt mit deiner Lauferei! Geh runter in deine Werkstatt und versuche zu arbeiten oder zu schlafen. Wir holen dich schon rechtzeitig.»

Die Hebamme warf ihr einen dankbaren Blick zu, als Stadellmen widerstrebend die kleine Kammer verließ, und massierte weiter mit der rechten Hand Annas riesigen gewölbten Bauch, während die linke vorsichtig zwischen den Schenkeln tastete.

«Der Kopf kommt. Ihr habt es gleich geschafft, Stadellmenin. Nehmt alle Kraft zusammen und presst!»

Im selben Moment, als draußen vor der Stadt über Anna Schweizerin die tödlichen Flammen zusammenschlugen, kam Catharina Stadellmenin endlich auf die Welt. Marthe kümmerte sich um ihre Schwägerin, die vor Schmerzen und Erschöpfung fast ohnmächtig war, während die Hebamme versuchte, dem veilchenfarbenen reglosen Säugling ein Lebenszeichen zu entlocken. Es war das längste Mädchen, das sie je auf die Welt gebracht hatte, dabei jedoch spindeldürr.

«Nun hol schon Luft», murmelte sie und klopfte mit der flachen Hand den verklebten Körper ab, mal stärker, mal schwächer. Schließlich hob sie das Kind an den Beinen in die Luft. Ein Krächzen entrang sich dem Neugeborenen, dann folgte ein markerschütternder Schrei, und die winzigen Fäuste ballten sich.

«Es atmet! Es lebt!» Marthe küsste ihre Schwägerin. Hieronymus stürzte herein und starrte erst den zappelnden Säugling, dann seine Frau an. Tränen der Erleichterung liefen über sein schmales, bartloses Gesicht.

«Es ist ein Mädchen, eine Catharina», flüsterte Anna und richtete sich vorsichtig ein wenig auf. Sie lächelte. «Hoffentlich bist du nicht enttäuscht.»

«Was für ein Unsinn», stammelte Hieronymus. «Mädchen oder Junge – das ist mir gleich. Außerdem werden wir noch viele Kinder haben. Sieh nur, es hat schon richtige Haare auf dem Kopf, so schwarz wie deine!»

Unterdessen hatte die Hebamme das Mädchen in ein wollenes Tuch gewickelt und seiner Mutter an die Brust gelegt. Sie bat Stadellmen, einen Bottich mit warmem Wasser aus der Küche zu holen. Aus Erfahrung wusste sie, dass Männer zwar die blutigsten Geburten durchhielten, beim Anblick der Nachgeburt jedoch die Fassung verloren. Ihrer Ansicht nach war die Geburt eines Kindes ohnehin Frauensache, Männer störten dabei nur. Während sie auf die Nachwehen wartete, sah sie wieder aus dem Fenster. Die Gassen der Schneckenvorstadt waren jetzt wie leer gefegt.

«Die Leute sind alle bei der Hinrichtung», sagte sie leise zu Marthe, die neben sie getreten war. «Ein solcher Geburtstag steht unter keinem guten Stern.»

«Seid still», fuhr Marthe sie an. «Wie könnt Ihr so etwas sagen!»


In den ersten Jahren ihres Lebens fehlte es Catharina an nichts, weder an Fürsorge noch an ausreichender Kost. Daran änderte zunächst auch die schreckliche Tatsache nichts, dass ihre Mutter zwei Jahre nach ihrer Geburt im Kindbett starb. Für ihren Vater bedeutete es einen Verlust, den er niemals überwand, doch Catharina war zu klein, um Trauer zu empfinden. Hinzu kam, dass sich Marthe ihrer annahm. Kaum, dass Catharina fünf Jahre alt war, machte sie sich allein auf den Weg zum Gasthof ihrer Tante, wann immer es ihr in den Kopf kam. Für Hieronymus Stadellmen, der tagsüber kaum Zeit für seine Tochter hatte, war es eine Beruhigung, sie in der Obhut seiner Schwester zu wissen.

Catharina liebte den weiten Weg hinaus zu ihrer Tante, besonders im Frühsommer. Durch die winkligen Gässchen und Gemüsegärten der Predigervorstadt, an der alten Peterskirche vorbei, in der ein Marienbild ihres Vaters hing, erreichte sie die Landstraße, die sich gemächlich durch Felder und Brachland nach Lehen schlängelte, einem kleinen Dorf von Viehzüchtern, Wein- und Obstbauern, auf das die Stadt Freiburg schon seit vielen Jahren ein Auge geworfen hatte. Oder sie nahm, wenn die Dreisam mit ihrem tosenden braunen Strom nicht gerade die Uferwiesen überschwemmt hatte, den schmalen Pfad am Fluss entlang, genoss den Blick auf die Berge, die im Morgenlicht ihre Düsternis verloren, und blickte den Flößern nach, die Tannen- und Fichtenholz vom Schwarzwald herunterbrachten. Sie kannte bald jeden Strauch und jede Wegbiegung und beobachtete gern das Spiel von Sonne und Wolken über der weiten Ebene. Die Stadt kam ihr dann jedes Mal noch schmutziger und düsterer vor. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem, weder vor Unwettern noch vor den Bauern und Händlern, denen sie unterwegs begegnete und die das Mädchen bald beim Namen kannten. Nur eine Stelle gab es, wo sich ihr Schritt verlangsamte und ihr Herz in einer Mischung aus Angst und gespannter Erwartung heftiger zu klopfen begann: das steinerne Kreuz unter der alten Linde.

Die Leute sagten, dass unter dem Kreuz ein Bischof begraben sei, der vor Jahrhunderten grausam hingemetzelt worden war. Zigmal sei das Kreuz auf den Kirchhof des Nachbardorfes Betzenhausen überführt worden, aber schon in der nächsten Nacht sei es wie auf Geisterbeinen wieder an seinen alten Platz zur Landstraße zurückgewandert. Catharina blieb jedes Mal eine Weile vor dem Bischofskreuz stehen und beobachtete mit leichtem Schaudern, ob es sich nicht bewegte. Einige Male war sie sich fast sicher. Oder waren es die Blätter der Linde, die im Wind rauschten und ihre Schatten auf den verwitterten Stein warfen?

Marthe Stadellmenin, genannt die Schillerin, hatte vier Kinder, zwei davon in Catharinas Alter. Nachdem ihr Mann vor einigen Jahren an Typhus gestorben war, führte sie den Gasthof in Lehen allein weiter, in der Hoffnung, ihr Ältester würde ihn eines Tages übernehmen. Catharina fühlte sich bei ihrer Tante jederzeit willkommen, sie wurde nicht anders behandelt als Marthes leibliche Kinder, was bedeutete, dass Catharina mit Hand anlegte, wo sie konnte, und sich ansonsten mit ihren Vettern, ihrer Base und den Nachbarskindern herumtrieb.

Als Kind erschien Catharina das Anwesen ihrer Tante riesig, herrschaftlich wie ein Schloss. Der mit Rheinkiesel gepflasterte Innenhof wurde an zwei Seiten vom Gasthaus begrenzt, an der dritten Seite von Stall und Scheune. Zur Straße hin stand eine mannshohe blendend weiß gekalkte Mauer, die einen im Sommer, wenn die Sonne hoch stand, blinzeln machte. Das Gasthaus selbst, das größte und stattlichste in der Gegend, war ganz aus Stein mit einem Dach aus verschiedenfarbig gebrannten Ziegeln. Alle Räume, selbst die winzigsten Kammern, hatten verglaste Fenster, die bei Sturm und Gewitter mit Holzläden verschlossen werden konnten. Im Frühjahr roch es nach frischem Gras und Blüten, im Spätsommer nach den Früchten des Obstgartens.

Wie düster und eng hingegen war das Haus ihres Vaters in der Stadt! Eingeklemmt zwischen zwei verwahrlosten Häusern stand es direkt am Gewerbekanal auf der Insel, einem kleinen Handwerkerviertel, wo sich auf engstem Raum Knochen- und Ölmühlen, Gerberhütten und die Schleifereien der Bohrer und Balierer drängten. Die baulichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte schienen an diesem Viertel spurlos vorübergegangen zu sein. Die Fachwerkhäuschen mit ihren lehmgefüllten Flechtwänden, Schindel- oder Strohdächern stellten eine ständige Brandgefahr dar, und die offenen Herdstellen in den Wohnstuben, die oft der ganzen Familie samt Federvieh als Schlafstätte dienten, taten ihr Übriges. Geflieste Böden, Kachelöfen oder gar Badestuben waren hier unbekannt, statt der teuren Kerzen und Öllampen spendeten rußende Kienspäne im Winter ihr spärliches Licht.

So oft schon hatten die Winterstürme die Schindeln vom Dachstuhl gerissen, und gerade im obersten Stockwerk, wo Catharina ihre Kammer hatte, pfiff dann der Wind durch die Ritzen. Aber sie besaßen einen Aborterker! Wie ein dicker Käfer klebte er ganz oben an der Außenwand, mit einem Türchen zum Hausinneren. Die meisten Nachbarn hatten nur eine Grube im Hof. Im Sommer vermischte sich dann der Gestank der Fäkalien und der Küchenabfälle auf der Gasse mit dem der geschabten trocknenden Häute der Gerber. Als Catharina ihrer Tante einmal neidvoll gestand, wie viel schöner sie es bei ihr fand, lächelte Marthe: «Wir sind nur Pächter, während das Haus deines Vaters euer eigen Grund und Gut ist. Du wirst eines Tages froh darum sein.»

Sonntags, nach dem Kirchgang, nahm ihr Vater sie bei der Hand, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg nach Lehen. An den Wochentagen führte Catharina ihrem Vater den Haushalt und setzte sich anschließend zu ihm in die Werkstatt, um ihn beim Malen zu beobachten. Die schönsten Momente kamen, wenn ihr Vater Pinsel und Spachtel beiseite legte und ihr Geschichten erzählte. Darüber vergaßen sie manchmal sogar das Nachtessen, und nicht selten musste Hieronymus seine Tochter ins Bett tragen, wenn sie an seiner Schulter eingeschlafen war.

Ihr Vater wusste über sämtliche Länder der Welt zu berichten. Lange Zeit hatte sie geglaubt, dass er all diese Länder bereist hatte, dabei war Hieronymus Stadellmen nie aus dem Breisgau herausgekommen. Am liebsten hörte Catharina von der Neuen Welt, wie die Spanier und Portugiesen auf diesen fremden Kontinent vorgedrungen waren, der durch einen unendlichen Ozean von ihrer Heimat getrennt war.

«Die Menschen dort», berichtete er, «leben ganz anders als wir. Sie sind von dunkler Hautfarbe, und es scheint immer die Sonne, sodass sie keine Kleidung tragen müssen. Du darfst sie dir nicht als wilde Tiere vorstellen, vielmehr sind sie sanft und friedlich und sehr religiös, denn sie haben gleich mehrere Götter, die sie anbeten.» Dass es dort auch Völker gab, die ihren Göttern Menschenopfer brachten, bestürzte Catharina, und sie war froh, in ihrem ruhigen Städtchen geboren zu sein.

Von ihrem Vater erfuhr sie auch, dass die Erde keine vom Ozean umspülte Scheibe sei, sondern rund. Schon vor vielen, vielen Jahren habe ein Nürnberger namens Behaim die Welt als eine Kugel nachgebildet, auf der er neben den Erdteilen Europa, Asien und Afrika auch die Neue Welt eingezeichnet hatte. Catharina hätte alles darum gegeben, solch eine Weltkugel einmal zu sehen.

«Wie kommt es, dass die Menschen auf der unteren Seite der Kugel nicht herunterfallen? Und außerdem leben sie ja dann mit dem Kopf nach unten?»

Hieronymus Stadellmen zögerte. «Es muss wohl daran liegen, dass der Erdball so riesig groß ist und die Menschen es gar nicht merken, dass sie auf der unteren Seite leben.» Aber so richtig befriedigt hatte diese Antwort Catharina nicht.

Nach ihrem Dafürhalten hätte das Leben an der Seite ihres Vaters immer so weitergehen können. Doch von einem Tag auf den anderen änderte sich alles. Ihr Vater heiratete Hiltrud Gellert, und am Hochzeitstag zog diese Frau bei ihnen ein. Hiltrud war die Tochter eines Steinmetzmeisters und somit wohl eine gute Partie. Sie war früh Witwe geworden. Der alte Steinmetz hatte sie und ihre beiden Söhne noch eine gute Weile unterstützen können, aber dann wurde er zu alt, und die Zunftversammlung drängte ihn, seine Tochter noch einmal zu verheiraten.

Ihr Vater hatte Catharina später erzählt, dass er lange Zeit geglaubt hatte, es sei Schicksal oder Vorbestimmung gewesen, weil er in jenen Wochen der jungen Witwe so häufig begegnet war. Doch habe der alte Steinmetz dahinter gesteckt, den Hieronymus von einem gemeinsamen Auftrag her kannte. Geschickt hatte er bis zum Hochzeitstag die Fäden in der Hand gehalten.

Catharina war überzeugt davon, dass ihr Vater mit dieser Frau betrogen worden war. Vielleicht war Hiltrud keine schlechte Ehefrau, ihr gegenüber jedoch zeigte sie sich kalt und gleichgültig. Hiltrud kümmerte sich keinen Deut um sie, übersah mitunter einfach, dass sie eine Stieftochter hatte, sodass es vorkommen konnte, dass beim Morgenmahl für Catharina kein Gedeck vorgesehen war.

Manchmal stritten Hiltrud und Hieronymus wegen Catharina.

«Du tust so, als sei das Mädchen etwas Besonderes», hörte Catharina sie keifen. «Sie soll lernen, den Haushalt zu führen und zu nähen und flicken, was weiß ich. Du aber bringst ihr Firlefanz wie Schreiben und Rechnen bei und stopfst ihr den Kopf voll mit Dingen, die ein kleines Mädchen nichts angehen!»

In solchen Momenten warf der Vater ihr ein verlegenes Lächeln zu, ohne diesen Vorwürfen etwas entgegenzusetzen.

«Hiltrud hat Recht», sagte er ihr eines Abends, als er sie zu Bett brachte. «Du bist etwas Besonderes.» Er seufzte. «Weißt du, dass du deiner Mutter immer mehr gleichst? Nicht nur äußerlich, auch im Wesen.»

Dass er die Nörgeleien seiner neuen Frau mit gesenktem Kopf über sich ergehen ließ, fand Catharina schlimm genug, doch weit heftiger traf es sie, dass er ihr immer weniger Zeit widmete. Er sprach nicht mehr mit ihr über ihre Mutter, und die abendliche Zeremonie der Gutenachtgeschichten fand ein Ende.

Dabei blieb es nicht. Das Bild der Mutter, das über dem Esstisch gehangen hatte, wanderte auf den Dachboden. In Catharinas kleines Zimmer, das sie wegen seiner Aussicht auf den sanft plätschernden Gewerbekanal so liebte, zogen die beiden Stiefbrüder Claudius und Johann, und sie musste auf eine alte Strohmatte im Wohnraum ausweichen.

Als Nächstes wurde Catharina der Unterricht bei Othilia Molerin gestrichen. Die Molerin war eine Schulmeisterswitwe, die Bürgerskindern in einer so genannten Winkelschule Rechnen, Schreiben und Lesen beibrachte. Ihr Vater hatte beobachtet, wie neugierig Catharina war und wie leicht ihr das Lernen fiel. Offiziell waren die Winkelschulen vom Rat der Stadt verboten, da sich die Schulmeister der städtischen Lateinschule immer wieder über diese lästige Konkurrenz beschwerten. Aber im Grunde drückte der Magistrat beide Augen zu, war es doch allgemein bekannt, dass die meisten Kaufleute und Handwerker das Studium von Latein und Rhetorik für ihre Kinder als Zeitverschwendung betrachteten und inzwischen mit Nachdruck eine Deutsche Schule forderten. Selbstredend waren die städtischen Schulen nur für Knaben vorgesehen, den Mädchen blieb also ohnehin nur der Unterricht bei den heimlichen Schulmeistern oder den Klosterfrauen der Beginen.

Catharina war völlig vor den Kopf geschlagen, als Hiltrud nur wenige Wochen nach ihrem Einzug eröffnete, für diesen Unfug, Mädchen zu unterrichten, sei ihr jeder Pfennig zu schade. Als sich Catharina von der dicken, gemütlichen Schulmeisterin verabschieden ging, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, und die Molerin schalt fürchterlich über die Borniertheit und Hartherzigkeit der Stiefmutter.

Hiltrud kümmerte sich ansonsten nicht weiter um Catharina. Dabei konnte man nicht behaupten, dass sie boshaft zu ihr war, auch wenn ihr Catharina gegenüber weitaus öfter die Hand ausrutschte als bei ihren eigenen Söhnen. Vielmehr sorgte sie dafür, dass Catharina angemessen gekleidet war, und wenn sie die Werkstatt aufräumte oder Besorgungen erledigte, steckte sie ihr auch mal einen Kuchenrest als Belohnung zu. Nur manchmal, wenn Hiltrud mit den Söhnen zu ihrer Verwandtschaft nach Emmendingen fuhr, war es fast wie früher.

Dann saß Catharina beim Vater in der Werkstatt, oder sie übten zusammen in der Küche Rechnen und Schreiben. Catharina schickte dann jedes Mal ein Stoßgebet zur Jungfrau Maria, damit das Wetter schlecht würde, denn dann kämen ihre Stiefmutter und die Stiefbrüder erst am nächsten Tag zurück.

Überhaupt die Stiefbrüder! Sie machten sich im ganzen Haus breit, benutzten ihre Sachen, lungerten in Vaters Werkstatt herum. Wobei Claudius, der Dreizehnjährige, noch erträglich war: Er neckte sie ständig, wusste aber, wann der Zeitpunkt gekommen war, sie in Ruhe zu lassen.

Johann hingegen, den Sechzehnjährigen mit seinem teigigen Gesicht und den großen Pratzen, fürchtete sie. Er war hochmütig. Er ließ sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass er sie für ein dummes kleines Mädchen hielt. Und er beobachtete sie immerfort, schweigend und mit halb geschlossenen Augen. Wenn er in ihrer Nähe war, schauderte sie, doch hätte sie damals nicht genau sagen können, warum sie sich von ihm bedroht fühlte. Einmal hatte er ihr, grinsend und mit flackerndem Blick, auf ihre noch flache Brust gefasst, und sie bekam eine vage Ahnung, was hinter seinen ständigen Andeutungen stecken mochte.

Sie ging ihm aus dem Weg, und so wurde es ihr zur Gewohnheit, morgens das Haus zu verlassen, um erst zur Abenddämmerung heimzukehren.


Der Marsch von ihrem Elternhaus dauerte nach Lehen hinaus eine gute Stunde, vorausgesetzt, das Wetter spielte mit. An jenem Tag, Mitte März, eine Woche vor ihrem zwölften Geburtstag, hatte es jedoch in der Nacht noch einmal heftig zu schneien begonnen. Als ihr Vater sie bei Sonnenaufgang weckte und sagte, sie solle ein Bündel mit Wäsche zusammenpacken, sie müssten zu Tante Marthe, da erschrak sie. Was hatte das zu bedeuten? Was sollten sie bei diesem Hundewetter in Lehen? War ihre Tante krank? Hieronymus wich ihrem Blick und ihren Fragen aus und drängte sie zum Aufbruch.

Draußen wehte ihnen ein scharfer Wind die nassen Flocken in den Kragen. Catharina fror, und den ganzen Weg sprach der Vater kein Wort, was sonst nicht seine Art war. Verunsichert klammerte sie sich an seine Hand. Als sie nach fast zwei Stunden endlich ankamen, brannte im Nebenraum der Gaststube ein Feuer, und die Hausmagd stellte einen Topf heiße Suppe auf den Tisch. Bei der Ankunft hatte Marthe Stadellmenin sie herzlich in den Arm genommen. Jetzt, beim Essen, lächelte sie ihr zwar aufmunternd zu, blieb aber ansonsten ebenso schweigsam wie ihr Bruder. Die Stille wurde nur hin und wieder vom Kichern der beiden Jüngsten, der Zwillinge Wilhelm und Carl, unterbrochen. Lene, die in Catharinas Alter war, rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her, und Christoph, Tante Marthes ältester Sohn aus ihrer ersten Ehe, schaute sie mit seinen tiefblauen Augen neugierig an. Ihr fiel auf, dass er den gleichen sanften Blick wie ihre Tante hatte. Da räusperte sich der Vater und legte bedächtig den Löffel neben den Holzteller.

«Catharina, wie du weißt, hat Tante Marthe viel Arbeit, seitdem der Schillerwirt tot ist. Christoph muss den Hof versorgen, Lene den Haushalt und die Kleinen. Da braucht deine Tante noch eine Hilfe in der Gaststube, und du bist alt genug, um eine Stellung anzutreten.» Er nahm noch einen Löffel Suppe. Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden. «Nun ja, bei uns ist es inzwischen recht eng geworden, und da dachte ich mir, du wohnst sicher gern bei deiner Tante.»

Catharina starrte ihn an. Sie sollte abgeschoben werden. Jetzt verstand sie, was dieser unerwartete Ausflug zu bedeuten hatte. In diesem Moment hasste sie ihren Vater, hasste die neue Frau mit ihren ekelhaften Söhnen, die ohne Vorankündigung in ihr Leben eingedrungen waren und sie aus ihrem Elternhaus vertrieben. Sie stieß polternd den Stuhl zurück und stürzte hinaus. Ihr Vater lief ihr nach.

«Ich bin doch nicht aus der Welt. Du kannst mich jederzeit besuchen, und sonntags komme ich wie früher nach Lehen. Marthe braucht deine Hilfe, verstehst du das denn nicht?» Dann schwieg er. Sie drehte sich um und sah, dass er Tränen in den Augen hatte. Wie konnte er weinen und sie gleichzeitig wegschicken von zu Hause? Sie wollte ihn nie wieder sehen. Sie rannte los, hinein in den heulenden Sturm, doch jemand packte sie am Arm. Es war ihr Vetter Christoph.

«Komm jetzt ins Haus. Wir freuen uns alle auf dich.»


So ganz die Wahrheit war das nicht. Mochten Christoph und Mutter sich freuen – ich fand es zunächst schrecklich, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Catharina in unserer Familie breit machte. Ich hatte Mutter versprechen müssen, meine Kammer mit ihr zu teilen und sie freundlich aufzunehmen. Weißt du, Marthe-Marie, was ich stattdessen getan habe? Jeden Abend, wenn sie zu mir ins Bett kam, nahm ich wortlos meine Decken und zog trotz der eisigen Kälte auf den Dachboden um. Ich strafte sie mit Missachtung, wo ich konnte, denn ich wollte nicht, dass sie bei uns blieb. Sie war anders, immer so nachdenklich und verschlossen. Ich war mir sicher, dass sie sich als etwas Besseres fühlte. Das glaubten wir damals von allen Kindern aus der Stadt. Und bei Catharina kam hinzu, dass sie das einzige Mädchen war, das ich kannte, das lesen und schreiben konnte.

Heute weiß ich, dass meine anfängliche Abneigung nichts als Eifersucht war, denn ich hatte Angst, Catharina könne meine Stellung als einzige Haustochter bedrohen. Zudem war mir nicht entgangen, mit welchen Blicken mein Bruder Catharina von Anfang an bedachte. So habe ich mich in den ersten Wochen wohl recht ekelhaft benommen. Mich wundert heute noch, wie schnell sich Catharina trotz allem bei uns einlebte. Sie teilte sich mit mir die Hausarbeit, und an den Tagen, an denen die Fuhrleute aus Breisach kamen oder die Gemeindeobrigkeit tagte, half sie in der Gaststube mit. Diese Arbeit schien ihr zu gefallen, denn sie stellte sich so geschickt an, dass sie oft gelobt wurde von den Gästen. Es machte mich wütend zu sehen, wie Christoph gleich zur Stelle war, wenn sie mit einer Arbeit Schwierigkeiten hatte, oder dass Mutter sie anfangs umsorgte wie eine Glucke. Wir müssen ihr die Familie ersetzen, waren ihre ständigen Worte. Ich hingegen sagte meiner Base, wie dankbar sie uns sein sollte:

«Du hast Glück, dass du nicht zu fremden Leuten geschickt worden bist. Oder dass dein Vater dich nicht im Wald ausgesetzt hat.»

Mein Gott, was schäme ich mich heute noch für diese Worte. Sie wehrte sich nie gegen meine Gemeinheiten, schaute mich immer nur erschrocken und traurig aus ihren dunklen Augen an, was mich nur noch mehr reizte. Bis ich eines Tages auf den Gedanken kam, meine Freunde gegen sie aufzustacheln.

Gelegentlich ließ ich es zu, dass Catharina mit mir und meinen Freunden nach der Arbeit durchs Dorf zog. Sie schien mich zu bewundern, vielleicht, weil ich unter den Kindern das Sagen hatte, vielleicht auch, weil ich schon ein wenig fraulich aussah, während sie so knochig und staksig wie ein Fohlen daherkam. Wären nicht das dichte schwarze Haar und das schmale Gesicht gewesen, hätte man sie damals für einen Jungen halten können.

Mit Unmut hatte ich bemerkt, wie die anderen begannen, Catharina nett zu finden. So versprach ich den beiden einzigen Jungen, die mit uns herumzogen, dass derjenige mich küssen dürfe, der es schaffe, Catharina der Länge nach in eine Pfütze zu werfen.

Wie sehr hatte ich meine Base unterschätzt. Im Handumdrehen hatte sie erst dem einen Burschen eine blutige Nase geschlagen, dann den anderen in den Schwitzkasten genommen, bis der nur noch jammerte und wimmerte.

An diesem Abend wanderte ich zum Schlafen nicht auf den Dachboden, denn ich wollte erfahren, wo Catharina das Raufen gelernt hatte. Bis spät in die Nacht hinein erzählte sie mir von früher, von ihren Kämpfen mit den Freiburger Gassenbuben, von ihrem Vater und seiner wunderbaren Werkstatt, und von dieser grässlichen Frau mit ihren beiden Söhnen, die Catharina alles, was ihr wichtig war, weggenommen hatte.

Die Hexe von Freiburg
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