15

Im Herbst des Jahres 1570, zwei Jahre nach Catharinas Hochzeit, begann die große Teuerung. Vorangegangen war ein außergewöhnlich nasser Sommer mit heftigen Wolkenbrüchen im Juli und August, die fast die gesamte Getreideernte in der Freiburger Gegend zerstört hatten. Die Ähren lagen platt gedrückt auf den überschwemmten Feldern, die tobende Dreisam hatte ihr Bett verlassen, die angrenzenden Weidegründe überflutet und dabei manche Fischer- und Schäferhütte mitgerissen. Das Getreide musste aus dem Sundgau und dem Elsass herangeschafft werden. Ein Sester Korn war nirgends mehr unter 10 Gulden zu bekommen, und die Preise für Brot stiegen kurzzeitig um das Dreibis Vierfache. Der Freiburger Rat war gezwungen, an die Armen verbilligtes Korn aus den Beständen des Spitals auszugeben.

Michael stöhnte: «Wenn die Getreidepreise nicht bald wieder fallen, wird in der Folge alles teurer werden.»

Doch nach und nach stabilisierte sich der Markt ein wenig, auch wenn die Preise spürbar höher lagen als im Vorjahr, und die Obsternte fiel zwar mäßig, aber besser als erwartet aus. Dann kam es Anfang Dezember von einem Tag zum anderen erneut zu Überschwemmungen. Das Wasser der Gewerbekanäle in der Schneckenvorstadt und auf der Insel stieg bis vor die Haustüren, die Bewohner mussten ihre Eingänge mit Sandsäcken schützen. Wer seine Vorräte im Keller gelagert und nicht rechtzeitig nach oben geschafft hatte, konnte alles den Schweinen zum Fraß vorwerfen. Auf den Feldern verfaulte das Wintergemüse.

Es dauerte nicht lange, und Armut verbreitete sich in der Stadt wie ein Geschwür. Zuerst traf es die Feldarbeiter und Tagelöhner, die schon seit dem Sommer kaum noch Gelegenheit hatten, ihr Brot zu verdienen. Dann folgten Hausierer, Fuhrleute, Kleinkrämer, entlassene Dienstboten und allein stehende Frauen. Das Heer der Bitterarmen, die um Brot und Suppe bettelten und die Tore der städtischen Almosenstiftung im Kaufhaus, der Pfarrhäuser und Klöster stürmten, wurde jede Woche größer. Die Stadt verstärkte das Kontingent ihrer Wächter, um die Bürger vor Diebstahl und Einbrüchen besser zu schützen. Die Gefängnisse waren überfüllt, und es verging kaum ein Tag, an dem nicht jemand an den Pranger gestellt oder zu noch schlimmeren Strafen verurteilt wurde.

Catharina war entsetzt über das Bild, das sich ihr in den verschlammten Gassen bot. Überall saßen in Lumpen gehüllte Gestalten im Dreck, oft Frauen mit einer Horde Kinder, und streckten ihr die flehenden Hände entgegen. Sie ging nur noch in Begleitung einkaufen, da einem selbst am helllichten Tag Gefahr drohte, überfallen und ausgeraubt zu werden.

Zunächst war im Hause Bantzer von diesem wirtschaftlichen Niedergang wenig zu spüren. Das Geschäft lief weiterhin nicht schlecht, im Gegenteil: Die wichtigsten Auftraggeber waren die Stadt und reiche Kaufleute, die aus den steigenden Preisen Gewinn zogen, indem sie zu spekulieren begannen und ihre vollen Lager jetzt erst recht mit schweren Schlössern und Eisentüren schützen mussten. Doch mit der zweiten Teuerungswelle im Winter merkte Catharina, wie ihr das Haushaltsgeld zwischen den Fingern zerrann. Also kaufte sie noch umsichtiger ein als früher und verbrachte Stunden damit, Preise zu vergleichen oder das günstigste Angebot für eine bestimmte Ware ausfindig zu machen. Im Februar kürzte Michael ihr das Haushaltsgeld. Die meisten der kleineren Kunden hätten Zahlungsschwierigkeiten, begründete er die Sparmaßnahmen und sah dabei so zerknirscht aus, dass Catharina das Gefühl hatte, ihn beruhigen zu müssen.

«Mach dir keine Sorgen, damit kommen wir aus.»

Nun kam eben nur noch an Samstagen und Sonntagen Fleisch auf den Tisch, stattdessen gab es häufiger Fisch und Eierspeisen. Ohnehin würde bald die Fastenzeit beginnen. Catharina war froh um ihre Hühner und ihren Lehmofen, denn frisches Brot war in manchen Wochen fast unerschwinglich geworden. Für sich selbst gab sie nichts mehr aus, ihre Wünsche sparte sie sich für bessere Zeiten auf.

So lebten sie jetzt zwar bescheidener, aber sie hatten nicht an Mangel zu leiden wie so manch andere Handwerkerfamilie. Michael arbeitete von früh bis spätabends. Oft war er außer Haus, um bei seinen Schuldnern das Geld einzufordern. Dabei nahm er meist Hartmann Siferlin mit, und Catharina konnte sich lebhaft vorstellen, wie dieser hagere Mann auf seine verschlagene und hinterhältige Art bei den Kunden die Forderungen eintrieb. Wenn Michael an solchen Tagen erst sehr spät nach Hause kam, aß sie mit Barbara und Elsbeth in der Küche zu Abend und genoss die Harmonie zwischen den beiden Frauen, denn Michael war jetzt oft gereizt und schlechter Laune. Catharina machte ihm daraus keinen Vorwurf, wusste sie doch, wie viel Arbeit und Ärger er täglich um die Ohren hatte. Trotzdem ging sie ihm dann am liebsten aus dem Weg und war froh, dass er inzwischen regelmäßig in der Nachbarkammer schlief.

Im Grunde lebten sie friedlich nebeneinanderher, ohne Zank und Streit, aber auch ohne Liebe. Es gab keine Zärtlichkeiten zwischen ihnen, und auch von der geplanten Reise war nie wieder die Rede. Doch Catharina gewöhnte sich an diese Art der Ehe, und in den seltenen Momenten, wo sie über ihre Lebensweise nachdachte, konnte sie sich eine andere Art von Zusammenleben kaum noch vorstellen. Hatte nicht auch Christoph an ihrer Hochzeit darüber geklagt, dass er mit Sofie nicht glücklich sei? Wahrscheinlich wäre es selbst zwischen ihnen irgendwann fad geworden. Barbara hatte einmal zu ihr gesagt, einen Mann brauche man sowieso nur, um versorgt zu sein.

Angesichts der Not, die überall in der Gegend herrschte, war Catharina dankbar für ihr vergleichsweise sorgenfreies Leben. Mechtild und Berthold hatten bis auf die Köchin und eine Putzhilfe alle Angestellten entlassen müssen. Wo stünde sie jetzt, wenn sie nicht Michael kennen gelernt hätte? Nein, sie war zufrieden, und sie hätte sich kein anderes Leben gewünscht, wäre es nicht im März zu einem hässlichen Vorfall gekommen.

Alle Welt wartete auf einen trockenen, sonnigen Frühling. Stattdessen brach eine Kältewelle herein, als wollte der Winter ein letztes Mal seine eisige Macht beweisen. An jenem Abend saßen sie alle dicht beim Kachelofen, der aus voller Kraft heizte, obwohl Brennholz inzwischen knapp geworden war. Michael war außer sich vor Wut. Er hatte eben erfahren, dass der Auftrag für neue Gitter im Kornhaus wider Erwarten an die Konkurrenz gegangen war.

«Die haben uns einfach unterboten, mit einem Angebot, bei dem sie nicht mal das Material bezahlen können, geschweige denn ihre Arbeiter.»

Catharina wollte ihn beruhigen, aber er fuhr ihr über den Mund.

«Du verstehst davon nichts. Du hast keine Ahnung, wie hart das Geschäft inzwischen geworden ist.»

Sein Vater saß in der Ecke und schaute nicht einmal von seinem Buch auf. Er wurde immer gleichgültiger, was die Schlosserei betraf. Manchmal fragte sich Catharina, ob nicht sein Verstand langsam litt, denn er vergaß oder verlor unablässig wichtige Dinge. Catharina verabschiedete sich, um ins Bett zu gehen, denn sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich.

Als sie in ihrer eisigen Kammer die Bettdecke zurückschlug, musste sie lächeln: Elsbeth hatte ihr einen heißen Ziegel unter die Decke gelegt. Behaglich kuschelte sie sich in das vorgewärmte Bett. Sie fand Michaels Aufregung übertrieben. Wenn das Geschäft schlechter ging, würden sie eben noch mehr sparen müssen, sie hatten noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Außerdem besaßen sie genügend Rücklagen. Sie hörte, wie Michael mit schweren, wütenden Schritten unter ihr hin und her ging. Sie versuchte einzuschlafen, doch ein zunehmender Druck auf die Blase zwang sie, aufzustehen und den eisigen Abort aufzusuchen. Als sie wieder herauskam, stand Michael vor der Tür.

«Bist du endlich so weit», herrschte er sie an.

«Sei doch nicht so schlecht gelaunt, das ändert auch nichts. Komm lieber in mein Bett, Elsbeth hat es vorgewärmt.»

«Lass mich bloß damit in Ruhe. Das ist doch alles verlorene Liebesmüh.»

«Wie meinst du das?»

«Du wirst ja nicht einmal schwanger!»

Catharina starrte ihn an. «Was sagst du da? Vielleicht solltest du dich selbst einmal nach den Ursachen fragen. Wie soll ich schwanger werden, wenn du nicht mehr bei mir liegst?»

Er schob sie zur Seite und trat in den Abort. Dann drehte er sich nochmal um.

«Da kann ich ja gleich mit einer Strohpuppe ins Bett. Lass dir mal von anderen Frauen sagen, wie man richtig vögelt.»

«Wie gemein du sein kannst!» Catharinas dunkle Augen funkelten schwarz vor Zorn. «Du weißt ja selber nicht, wie man eine Frau befriedigt.»

Da holte Michael aus und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht, dass ihre Wange wie Feuer brannte. Sekundenlang blieb sie wie versteinert stehen, dann rannte sie in ihre Kammer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie bebte vor Wut. Dieser eingebildete, selbstsüchtige Hundsfott! Dabei war er ein Versager als Mann, alles nur leere Luft, dieses männliche Geprotze vor anderen!

Am nächsten Morgen war ihre Wange unterhalb des rechten Auges geschwollen, und sie blieb den ganzen Vormittag im Bett. Dieses Mal entschuldigte Michael sich nicht für sein Verhalten, sondern blieb tagelang mürrisch. In ihr erlosch der letzte Funken Liebe zu diesem Mann. Sie spürte eine Mauer zwischen sich und ihm, die er nie wieder würde einreißen können.


Statt des lang ersehnten Frühjahrs hielt gleich der Sommer Einzug. Ende April verwandelte sich das schmuddelige Winterwetter übergangslos in trockene Hitze. Die Bauern, die eben erst ihre Felder bestellt hatten, freuten sich zunächst über die Wärme, die die Saat schneller als sonst sprießen ließ. Die Gassen Freiburgs verloren ihren modrigen Geruch, und mit der warmen Sommersonne besserte sich die Stimmung der Bürger spürbar. Selbst die Preise für Nahrungsmittel sanken etwas, und ein Großteil der Stadtbewohner hielt ein Ende der Not für schon in Sicht.

Die Bauern aus dem Umland beobachteten die anhaltende trockene Witterung allerdings bald mit Stirnrunzeln. Sie sahen, dass die Dreisam Niedrigwasser führte, was völlig ungewöhnlich für diese Jahreszeit war. Sie fürchteten eine neue Missernte, diesmal wegen Wassermangels. Auch die Flugblätter des Bauernkalenders sagten eine lange Trockenheit voraus. Und es sollte sich bewahrheiten.

Als eine Mühle nach der anderen wegen des geringen Wasserstandes die Arbeit einstellen musste, hatte der Magistrat den glänzenden Einfall, die Dreisam an geeigneter Stelle zu sperren und das kostbare Wasser in den städtischen Mühlbach zu leiten. Das Ergebnis war, dass die Dörfer am unteren Flusslauf nun buchstäblich auf dem Trockenen saßen. Aufgebracht stürmten die Bewohner, mit Äxten und Mistgabeln bewaffnet, das Rathaus und drohten, alles kurz und klein zu schlagen. Zähneknirschend machten die Ratsherren ihre Maßnahme rückgängig.

Ungeachtet der Ängste vor einer erneuten Hungersnot genoss Catharina den plötzlichen Sommer. Um das Beste aus ihrer Situation zu machen, konzentrierte sie sich auf ihre täglichen Aufgaben und freute sich über Komplimente der Männer oder ihre Wortgeplänkel, die fast an keinem Tag ausblieben und ihr das Gefühl gaben, trotz allem eine begehrenswerte Frau zu sein. Im Innersten blieb sie unberührt von diesen Schmeicheleien, außer bei Benedikt. Je länger sie ihn kannte, desto eingenommener war sie von seinem strahlenden Blick, seinem offenen Wesen, seinem verschmitzten Humor. Da sie keine Dummheit begehen wollte, hielt sie sich ihm gegenüber mit Bedacht zurück.

Eines Morgens Ende Mai wachte sie auf und beschloss, nach Lehen zu wandern. Sie verspürte ganz plötzlich Lust, ihre alte Heimat wiederzusehen, und dieses Mal wollte sie Christoph nicht aus dem Weg gehen. Im Gegenteil, sie wollte mit ihm sprechen und erfahren, wie es ihm wirklich ging. Und vielleicht gab es auch Neuigkeiten von Lene.

Fast sechs Jahre war sie nicht mehr im Gasthaus ihrer Tante gewesen, und als sie beim Morgenmahl Michael von ihrem Plan erzählte, wurde sie immer aufgeregter.

«Du weißt, dass es zurzeit nicht ungefährlich ist, allein unterwegs zu sein», meinte er dazu.

Sie wehrte ab. «Wie oft bin ich diesen Weg schon gegangen! Außerdem hat man seit Wochen von keinen Überfällen mehr gehört.»

Er redete ihr nicht weiter drein, gab ihr aber einen kleinen Beutel mit ein paar Münzen darin, für den Fall, dass sie auf einen Wegelagerer stieß.

«Gib ihm den Beutel, dann wird er dich in Ruhe lassen.»

Catharina war erstaunt über die Fürsorge ihres Mannes, und jetzt erst fiel ihr auf, dass er seit ein paar Tagen ihr gegenüber sehr aufmerksam war. Ein bisschen spät für Reue, dachte sie, freute sich aber trotzdem.

Sie packte einen frisch gebackenen Gewürzkuchen ein und machte sich auf den Weg. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, die Sonne brannte zu dieser frühen Stunde wie sonst nur im Hochsommer. Auf den Feldern, deren trockener Boden schon Risse zeigte, standen überall gebückte Gestalten mit riesigen Strohhüten: Bauern und Landarbeiter, meist von Frau und Kindern unterstützt, hackten die harte Krume auf, um den Boden mühselig mit dem Wasser der Dreisam und kleinerer Bäche zu bewässern.

Um die staubige Landstraße zu meiden, schlug Catharina den schattigeren Pfad am Fluss entlang ein. Obwohl es ein Umweg war, ließ sie Betzenhausen rechts liegen und durchquerte den Buchenhain, in dem sie als Mädchen so oft Zuflucht gesucht hatte. Sie fand die Stelle wieder, wo sie mit Christoph ihre unbeholfenen Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte. Die Erinnerung an jene Zeit versetzte ihr einen Stich.

Mit einem Mal wusste sie, was sie nach Lehen trieb. Sie wollte Ordnung schaffen in ihrem Herzen und in ihrem Leben, endgültig und ohne Wehmut. Ihr war der Platz als Meistersfrau an der Seite von Michael Bantzer beschieden, Christoph musste seine Aufgaben als Familienoberhaupt erfüllen. Nie wieder wollte sie daran rütteln.

«Was für eine Überraschung!» Marthe kam ihr mit Moses im Obstgarten entgegen, in ihrem Gesicht stand die blanke Freude. «Wie schön, dass du endlich einmal zu uns herauskommst!»

Der Hund warf sich Catharina zu Füßen, und sie kraulte seinen zottigen Bauch. «Es ist viel zu trocken für die Jahreszeit, nicht wahr?», fragte sie mit einem Blick auf den Wassereimer in Marthes Hand.

Ihre Tante seufzte. «Ich hab kein gutes Gefühl. Seit letztem Herbst sitzt den Leuten das Geld nicht mehr so locker in der Tasche, und wir haben weniger Gäste. Aber ich fürchte, es wird noch viel schlimmer. Es gab bereits zwei Flurprozessionen, und letzte Woche ist hier der erste Wettermacher aufgetaucht und hat auf Hübners Acker sein Hexenmesser in die Luft geschleudert, obwohl die Gemeinde diesen Hokuspokus verboten hat.» Sie goss das Wasser an die Johannisbeersträucher. «Dort drüben in den Kräutern steht übrigens Sofie. Sag ihr doch eben guten Tag, und danach kannst du mir beim Vorbereiten des Mittagstischs helfen. Da haben wir dann genug Zeit zum Reden.»

«Ist Christoph auch da?»

«Ja, irgendwo im Haus.»

Sofie war dabei, mit ihrer Tochter Schnittlauch und Petersilie zu schneiden. Auf dem Rücken hatte sie ihren Säugling festgebunden. Fast zaghaft begrüßten sich die beiden Frauen. Catharina erkundigte sich nach der Geburt, und Sofie erzählte, wie schmerzhaft und langwierig sie gewesen sei.

«Ich scheine fürs Kinderkriegen nicht geschaffen», lächelte sie, «aber dafür war Andreas von Anfang an ein ganz schöner Brocken.»

Catharina betrachtete das schlafende Kind. Für seine sechs Monate war es tatsächlich ungewöhnlich kräftig. Es hatte dunkles Haar und zwei lustige Grübchen in den dicken Wangen. Angestrengt überlegte Catharina, worüber sie sich mit dieser zurückhaltenden Frau unterhalten könnte, als ihre Tante kam und sie bei der Hand nahm.

«Gehen wir ins Haus. Höchste Zeit, um mit dem Mittagessen anzufangen. Die Köchin muss ich immer ein bisschen antreiben, aber dafür macht sie den besten Braten in der ganzen Gegend.»

In der großen Stube stand Christoph und unterhielt sich mit einem Gast. Als seine Mutter ihm zurief, dass Besuch da sei, drehte er sich um und sah seine Base im Türrahmen stehen.

«Cathi», sagte er freudig, «bist du’s wirklich?»

Er zog sie an sich. Für Catharinas Empfinden hielt er sie viel zu lange in den Armen. Dann trat er einen Schritt zurück.

«Du bist schmaler geworden. Dabei habe ich gehört, dass das Bantzer’sche Geschäft immer noch ganz gut läuft.»

Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, doch es stand ihm gut. Was Catharina erst auf den zweiten Blick auffiel, waren die tiefen Falten, die sich um seine Mundwinkel eingegraben hatten. Er wirkte um einiges älter als an ihrem Hochzeitsfest.

«Tante Marthe hat erzählt, dass ihr jetzt weniger Gäste habt.»

«Das stimmt, aber sie sieht immer gleich alles so schwarz. Wir nehmen zwar weniger Geld ein, aber wir können uns immer noch satt essen. Hast du gesehen, wie dick unser kleiner Sohn ist?»

Catharina nickte. «Aber dafür wirkt Sofie ziemlich ausgezehrt.»

Christoph ging auf diese Bemerkung nicht ein. Mit einem Blick auf die eintretenden Gäste fragte er sie, ob sie über Mittag bleibe.

«Ja. Ich will am frühen Abend zurück sein.»

«Fein, dann bleibt uns ja nachher noch genug Zeit», sagte er und kehrte zurück in die Gaststube.

Nachdem die letzten Mittagsgäste gegangen waren, setzten sie sich alle zusammen zum Essen. Nur Lene fehlte, und Catharina vermisste sie wieder einmal schmerzlich. Wilhelm kam zu spät.

«Wie immer», sagte Christoph und gab seinem jüngeren Bruder eine Kopfnuss, als er sich setzte. «Er treibt sich überall herum, nur dort nicht, wo es Arbeit für ihn geben könnte. Dabei hat er Kraft für zwei.»

Wilhelm grinste und löffelte gierig seine Suppe, während Catharina von der schlechten Versorgungslage in der Stadt berichtete. Dieses Mal war ihr, als sei sie zu Hause angekommen. Wie herrlich könnte es sein, immer in einer so großen Familie zu leben. Dann erfuhr sie, dass Lene, wie jedermann erwartet hatte, schwanger war.

«Wie ich meine Schwester kenne, bekommt sie gleich Zwillinge», meinte Christoph.

«Und wann ist es bei dir so weit?», fragte Wilhelm.

Catharina zögerte. «Ich hab’s nicht so eilig.»

Christoph warf ihr einen prüfenden Blick zu, dem sie auswich.

Nach dem Essen machte sie mit ihrer Tante einen Rundgang durch Haus und Hof, Moses immer dicht auf den Fersen. Sie musste versprechen, bald wieder vorbeizukommen. Als sie sich von Christoph verabschieden wollte, eröffnete er ihr, dass er sie ein Stück begleiten würde. Sie schüttelte den Kopf. Nein, das wollte sie nicht, aber er ließ nicht locker.

«Mutter hat es befohlen, da gibt’s keinen Widerspruch.»

Ohne Eile schlenderten sie Seite an Seite über die heiße Landstraße. Christoph wollte mehr über ihre Ehe mit Michael erfahren, das spürte sie, aber sie lenkte ab. So redeten sie über dies und jenes, bis die Sprache auf Sofie kam.

«Du hast vorhin gesagt, sie würde ausgezehrt aussehen – ich mache mir auch langsam Sorgen um sie. Irgendwas stimmt nicht mit ihr, wir waren schon bei zwei Baderchirurgen und sogar bei einem Arzt. Aber keiner weiß so recht, was es ist. Mal heißt es, sie hätte zu dünnes Blut, dann wieder, sie leide an inwendigen Geschwüren. Aderlass hilft auch nicht, da verliert sie jedes Mal das Bewusstsein und erholt sich nur ganz schwer wieder. Jetzt soll sie, wenn die Hitze endlich nachlässt, eine Badekur machen.»

Er blieb stehen. «Hör mal, würdest du sie begleiten? Von uns kann niemand mit, wir haben zu viel Arbeit, und allein möchte ich sie nicht fahren lassen.»

Catharina schwieg. Das Angebot kam zu überraschend.

«Nun sag schon ja. Wo du doch so gern auf Reisen gehst!» Er boxte sie fast übermütig in die Seite.

«Ich werde es mir überlegen.»

Sie waren fast am Bischofskreuz angekommen. Catharina hielt an und kniff die Augen zusammen. Was, wenn hinter dem Stein der rote Zwerg auftauchen würde? Sie hatte plötzlich genau im Ohr, was er ihr damals prophezeit hatte. Ja, sie lebte neben einem stattlichen Mann und verwelkte dabei – wie Recht er gehabt hatte. Aber da war doch noch etwas anderes gewesen? Ein leichter Schauer lief ihr trotz der Hitze über den Rücken.

«Komm», sagte sie zu Christoph. «Lass uns hier zum Fluss abbiegen. Der Weg dort ist viel schöner.»

«Du hast wohl Angst vor dem toten Bischof!», stichelte er.

Sie schüttelte den Kopf und erzählte ihm, wie sie sich als Kind vor diesem Ort gefürchtet hatte, erst recht, nachdem der alte Bartholo hier aufgetaucht war.

Es tat gut, so offen mit Christoph zu reden, sie fühlte sich leicht und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Sie würden Freunde bleiben. Das Zusammensein mit ihm, mit Tante Marthe und den anderen war so viel heiterer, so viel ungezwungener als der Alltag in ihrem großen, vornehmen, kalten Haus am Fischmarkt. Ja, sie würde von nun an öfters nach Lehen kommen.

An der äußeren Stadtmauer verabschiedeten sie sich. Catharina tauchte in den Schatten des Torbogens ein, als Christoph sie zurückrief.

«Warte.» Er berührte sachte ihren Arm. «Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber – mein Herz gehört noch immer dir.»

Dann drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten davon.

Sein letzter Satz hallte noch lange in ihr nach. In der kühlen Hofeinfahrt ihres Hauses blieb sie stehen und holte tief Luft. Hätte er nur geschwiegen – anstatt alte Sehnsüchte und Wünsche in ihr anzufachen. Sehnsüchte und Wünsche, die sich niemals erfüllen konnten.

Aus der Küche drang lautes Gelächter. Die Tür öffnete sich, und Michael, immer noch lachend, kam heraus.

«Da bist du ja, mein Schatz. War’s schön bei deinen Verwandten?» Er küsste sie auf die Wange.

«Ja, es war sehr schön. Und hier? Mir scheint, ihr seid alle bester Stimmung.»

«Ach, diese Barbara – sie hat eben erzählt, wie der alte Fischhändler Streit mit einem Kunden hatte und wie sich die beiden schließlich vor lauter Wut die toten Fische um die Ohren geklatscht haben. Es war dermaßen komisch, wie sie das erzählt hat. Ich muss nochmal in die Werkstatt, wir sehen uns dann beim Abendessen.»

Nach dem Essen ging Catharina in die Küche, um die Ausgaben der beiden Frauen in ihr Buch einzutragen. Als Elsbeth ihr einen hohen Betrag für einen Kerzenleuchter nannte, sah Catharina erstaunt auf.

«Was soll das? Wozu brauchen wir einen Kerzenleuchter?»

Elsbeth deutete auf einen zierlichen dreiarmigen Leuchter aus Zinn, der auf dem Küchenbord stand.

«Euer Mann hatte mich beauftragt, den Leuchter aus der Zinngießerei abzuholen, er hatte ihn dort bestellt. Ich glaube, es ist ein Geschenk.»

Jetzt wurde Catharina misstrauisch. Ein Geschenk? Es kam zwar hin und wieder vor, dass bestimmte Kunden zu besonderen Anlässen ein Präsent erhielten, aber einen Zinnleuchter? Sie wurde ärgerlich. Da sparte und sparte sie, und ihr Mann warf das Geld zum Fenster hinaus, indem er kleine Kostbarkeiten an ohnehin reiche Leute verschenkte. Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke: Steckte vielleicht eine Frau dahinter? War Michael deshalb in letzter Zeit so gut gelaunt? Ach was, am besten fragte sie ihn, für wen der Leuchter gedacht war.

«Schau doch nicht so misstrauisch, der Leuchter ist für einen Kaufmann aus Waldkirch», sagte Michael und lächelte sie an. «Gerade in schlechten Zeiten muss man zu besonderen Mitteln greifen. Es ist ein ganz großer Auftrag, den ich da im Auge habe. Aber sag Vater nichts davon, du weißt doch, wie geizig er sein kann», fügte er hinzu und blinzelte ihr verschwörerisch zu.

Catharina wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte. Andererseits: Könnte Michael ihr so offen ins Gesicht lügen?

Die Hexe von Freiburg
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