20

Catharina krümmte sich vor Schmerzen. Bei jedem Krampf klammerte sie sich an die Holzbretter des Aborts und versuchte, nicht aufzuschreien. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich ein warmes Rinnsal an ihren Schenkeln spürte. Sie wusste nicht, was da unter ihrem Körper im Abfluss verschwand, wollte es auch nicht wissen. Ihr war schlecht und schwindlig, und sie betete, dass alles bald vorbei sein würde. Nachdem die Krämpfe und Blutungen spürbar nachgelassen hatten, legte sie sich eine Binde aus Leinen zwischen die Beine, reinigte den Abtritt und ging zu Bett, wo sie erschöpft den Rest des Tages verbrachte.

Ob die Leibesfrucht tatsächlich abgegangen war, würde sich nach den Worten der Seboltin erst in den nächsten Wochen herausstellen, aber Catharina war sich gar nicht mehr sicher, ob es das war, was sie wollte. Hatte sie tagelang ihre gesamte Willenskraft darauf verwandt, sich von dem Ungeborenen zu trennen, es aus ihrem Körper zu verbannen, ergriff sie mit einem Mal Angst, ihr Kind tatsächlich zu verlieren.

Noch am Tag ihres Besuchs in Lehen war sie bei Ursula Seboltin vorbeigegangen. Die heimliche Hebamme, eine ältere Witwe, lebte in einem windschiefen Hinterhaus in der Neuburger Vorstadt. Freundlich und ohne nach Catharinas Namen zu fragen, hatte sie ihr zugehört und sie anschließend untersucht.

«Nach allem, was ich sehe und was Ihr erzählt habt, schätze ich, dass Ihr schwanger seid, und zwar im Anfang des dritten Monats. Ihr müsst aber wissen, dass sich mit völliger Sicherheit eine Schwangerschaft erst im vierten Monat feststellen lässt. Da Ihr so frühzeitig zu mir gekommen seid, tut es jedoch nichts zur Sache, ob Ihr schwanger seid oder nicht, denn die Behandlung, die ich vorhabe, mit Bädern und Kräutern, wird Eurem Leib auf keinen Fall schaden. Manchmal allerdings hilft sie auch nicht, und dann müssen wir warten, bis die Schwangerschaft weiter fortgeschritten ist. Der Himmel möge das verhüten, denn dann wird der Eingriff schmerzhafter und auch gefährlicher für Euch.» Sie sah Catharina fest in die Augen. «Seid Ihr ganz sicher, dass Ihr das Kind nicht haben wollt?»

Als Catharina heftig nickte, fuhr die Hebamme fort: «Das ist wichtig, denn nur dann kann ich Euch helfen.»

Anschließend erklärte sie die Einzelheiten der Behandlung und bestellte sie für den nächsten Morgen zu sich.

Vor Angst tat Catharina in der Nacht kein Auge zu. Bereits das zweite Mal in ihrem Leben stand ihr der Abbruch einer möglichen Schwangerschaft bevor. Warum blieb ihr das nicht erspart? Ob es anderen Frauen auch so erging? Als sie bei der Hebamme eintraf, wartete schon ein dampfendes Kräuterbad auf sie. Catharina zog sich aus und setzte sich in das heiße Wasser.

«Die Hitze und die Kräutermischung lösen Blutungen aus, die die Leibesfrucht abführen. Außerdem massiere ich Euch jetzt den Unterleib. Schaut genau zu, Ihr müsst das nachher zu Hause wiederholen, wenn Ihr nochmals badet. Versucht, Eure ganze Kraft einzusetzen.»

Dabei drückte ihr die Seboltin so heftig auf den Bauch, dass Catharina aufstöhnte. Nach dem Bad musste sie sich mit angezogenen Knien auf eine Bank legen, und die Hebamme machte ihr einen Einlauf mit Kräuterextrakten.

«Gebt mir bitte Bescheid, wenn die Blutungen eingesetzt haben. Bei dieser Gelegenheit könnt Ihr mich dann auch auszahlen.»

Müde und auf schwankenden Beinen war Catharina nach Hause zurückgekehrt. Unter dem Vorwand, an Bauchschmerzen zu leiden, hatte sie Elsbeth gebeten, ein heißes Bad zu richten. Sie hielt sich genau an die Anweisungen der Hebamme: Sie schüttete die Kräuter ins Badewasser, legte sich hinein und massierte sich kräftig Bauch und Unterleib. Als das Wasser abkühlte, frottierte sie sich trocken, bis ihre Haut brannte. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt und geschlafen, tief und traumlos, aber sie sollte sich so lange bewegen, bis die Krämpfe einsetzten. Also machte sie Besorgungen in der Stadt und auf dem Markt und bemerkte kaum, wenn jemand sie grüßte.

Erst am Nachmittag setzten die Krämpfe ein, und jetzt, wo endlich alles vorüber war, fühlte sie sich zwar unendlich schwach, fand aber keinen Schlaf. Abwechselnd kamen Barbara und Elsbeth, um nach ihr zu sehen, und am Abend erschien sogar Michael.

«Soll ich nach einem Arzt schicken?»

«Um Gottes willen, nein. Du wirst sehen, morgen bin ich wieder auf den Beinen.»

Sie roch, dass er getrunken hatte, wie so häufig in letzter Zeit, doch sie fand nicht mehr die Kraft, um sich um ihren Mann Gedanken zu machen. Sollte er doch sein Leben führen, wie er wollte. Mit ihr hatte das nichts mehr zu tun. Plötzlich war ihr klar, dass sie das Kind auf die Welt bringen würde, dass sie einen Weg finden wollte, ihm ein Leben in Achtung und Würde zu ermöglichen.


Zwei Wochen später verabredete sie sich mit Benedikt, jetzt wieder wie früher in seiner kleinen Wohnung.

«Was war mit dir?» Er küsste sie. «Ich dachte schon, du willst mich nicht mehr sehen.»

Sanft schob er sie zu seiner Schlafstelle. Catharina fühlte, wie sich jeder ihrer Muskeln verspannte. Benedikt sah sie misstrauisch an.

«Wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein willst, dann sag es mir gleich. Hast du einen anderen Mann?»

Catharina starrte auf die feinen Risse in der Zimmerdecke, die sich wie ein Spinnennetz ausbreiteten. Sie hatte beschlossen, die Folgen ihrer Entscheidung allein zu tragen. Denn sie kannte Benedikt inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er vor aller Welt um seine Vaterschaft kämpfen würde. Und er würde damit alles zerstören: Nach ein paar Wochen Kerker würde man ihn des Landes verweisen, sie selbst würde man an den Pranger schleppen und ihr Kind ins Findelhaus stecken. Sie musste ihm sagen, dass es zu Ende war.

Benedikt stand auf.

«Catharina, ich weiß, dass wir in einer schwierigen Situation sind, aber in den letzten Monaten habe ich dich kaum zu Gesicht bekommen. Ohne Erklärung hast du dich zurückgezogen, und heute kommst du hier hereingeschneit und benimmst dich wie eine Klosterfrau.» Seine Stimme war laut geworden. «Was bedeutet das?»

Catharina brachte kein Wort heraus. Ihr war kalt, und sie begann am ganzen Körper zu zittern.

Kopfschüttelnd legte er ihr die Bettdecke um die Schultern und wärmte ihre eisigen Hände.

«Es tut mir Leid, wenn ich laut geworden bin. Egal, was es ist, bitte sag mir, was geschehen ist. Vielleicht kann ich dir helfen, und vielleicht betrifft es ja auch mich.»

«Du kannst mir nicht helfen», sagte sie leise. «Es ist vorbei. Wir dürfen uns nicht mehr sehen.»

Benedikt sah sie fassungslos an. Dann schlug er sich gegen die Stirn: «Du bist schwanger.»

«Nein!» Sie log ihm mit letzter Anstrengung offen ins Gesicht. «Ich will wieder ohne Versteckspiel leben können. Das ist alles.»

«Ist das dein letztes Wort?»

Sie nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn vermissen würde, seinen Humor, seine Wissbegier, seinen jungenhaften Gerechtigkeitssinn. Und den strahlenden Blick seiner verschiedenfarbenen Augen.


Es wurde ein Jahr des Todes. Im Mai starb Michaels Vater, ohne Vorankündigung und ganz allein in seinem Bett. Catharina brachte ihm an jenem Morgen seine heiße Milchsuppe ans Bett. Er schien zu schlafen, denn er rührte sich nicht, als sie eintrat. Als sie ihn bei der Schulter fasste, um ihn zu wecken, erschrak sie, denn sein Körper war bereits erkaltet. Hastig lief sie in die Werkstatt und holte Michael.

Catharina hätte nie gedacht, dass ihm der Tod seines Vaters so nahe gehen würde. Hemmungslos brach er am Totenbett in Tränen aus. Als sie tröstend seine Hand nehmen wollte, wehrte er ab. Er wollte mit seinem Schmerz allein sein. Erst nachdem der Pfarrer eingetroffen war, beruhigte er sich ein wenig.

Sie selbst fühlte außer Mitleid für Michael nichts. Zwar hatte sie Bantzer seinen plumpen Annäherungsversuch längst verziehen, andererseits hatte der alte Mann die kühle Zurückhaltung, die seither zwischen ihnen geherrscht hatte, nie zu durchbrechen versucht.

Zudem war sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie wusste nun mit Sicherheit, dass die Prozedur der Kräuterbäder, Massagen und Einläufe dem Wesen, das in ihr heranwuchs, nichts hatte anhaben können. Dazu war die morgendliche Übelkeit zu heftig, die sie mit allen Mitteln und eisernem Willen bekämpfte, um ihren Zustand nicht zu verraten. Fast hätte sie den plötzlichen Tod ihres Schwiegervaters als ein Glück bezeichnen mögen, denn der Haushalt war dadurch völlig durcheinander geraten, und niemand achtete auf sie.

Die Beerdigung wurde zu einer großen Feier mit viel Pomp und herzergreifenden Reden. Zum ersten Mal sah Catharina Michaels Schwester, die mit ihrem Mann aus Basel angereist kam. Zur Hochzeit ihres Bruders hatte sie sich wegen Krankheit entschuldigen lassen, doch das konnte auch eine Ausrede gewesen sein, denn es ging das Gerücht, dass sie ihren Vater hasste und nur um ihn zu kränken, einen Reformierten geheiratet hatte. Catharina versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen, um vielleicht etwas über Michaels Kindheit und seine Mutter zu erfahren, doch die Frau blieb abweisend und hochmütig. Dann eben nicht, dachte Catharina.

Nach den Feierlichkeiten kehrte der Alltag zurück. Dass der alte Bantzer nicht mehr lebte, fiel außer Michael wohl niemandem auf. Er stürzte sich in Arbeit, trank zu viel und kümmerte sich wenig um Catharina und deren Befinden. Benedikt ging ihr aus dem Weg, und wenn sie sich doch einmal begegneten, verriet sein Gesicht Unverständnis und Niedergeschlagenheit.

Sie beschloss, noch einmal die Hebamme aufzusuchen und um Rat zu fragen, wie sie in Zukunft ihren dicker werdenden Bauch geschickt verbergen könne. Noch war nichts zu sehen, doch sie wollte nicht Gefahr laufen, eines Tages durch Elsbeths oder Barbaras aufmerksame Blicke entlarvt zu werden.

«Wenn Ihr diese elastischen Binden zusammen mit luftiger Kleidung tragt, könnt Ihr eine Menge verbergen.» Ursula Seboltin zeigt ihr, wie sie die Bauchbinde anzulegen hatte. «Und Ihr solltet gehaltvoll essen. Denn bei hageren Frauen fällt eine Schwangerschaft viel eher auf als bei fülligen. Allerdings nützt spätestens in den letzten drei Wochen alles nichts mehr.» Sie blickte Catharina prüfend an. «Was wollt Ihr eigentlich unternehmen, wenn das Kind auf die Welt kommt? Es in ein Kloster geben?»

«Vielleicht.» Catharina zögerte. Daran hatte sie anfangs gedacht, inzwischen dachte sie noch an eine andere Möglichkeit, wenn auch vorerst vage und unausgereift.

Im Juni wurde Michael in den Stadtrat gewählt. Anders als bei seiner ersten Wahl zum Zunftmeister hielt sich seine Freude jetzt in Grenzen, denn er bedauerte zutiefst, dass sein Vater diesen Erfolg nicht mehr erleben durfte. Wenn er nicht gerade ins Wirtshaus ging, saß er abends mit Catharina im Esszimmer und schilderte die teilweise unsinnigen Verordnungen, über die im Magistrat dreimal die Woche heftig disputiert wurde. Es ging um Tierhaltung innerhalb der Stadtmauern: Wer durfte sich Esel, wer Geißen und Schweine halten? Oder um eine neue Badeordnung: Sollte das Baden von Mann und Weib in einem gemeinsamen Zuber verboten werden, nachdem in den Nachbarstädten Fälle von «morbus gallicus», auch Franzosenkrankheit genannt, aufgetreten waren? Zur stärkeren Kontrolle der Bürger sollten bei Kinds- und Tauffesten nur noch Kuchen, Obst, Käse, Brot und einfacher Wein gereicht werden. Bei einer anderen Sitzung musste ein neuer Strafkatalog für Rüpeleien und Beschimpfungen erstellt werden, und die Stadtwache bedurfte strengerer Vorschriften, denn sie ging zu nachlässig gegen abendliche Tänzer und Musikanten auf der Straße vor.

«Heute haben wir entschieden, dass in den Sommermonaten nach neun Uhr abends niemand mehr außerhalb seines eigenen Hauses tanzend, spielend oder trinkend angetroffen werden darf.»

Catharina musste wider Willen lachen. «Da hast du dir ja selbst den Zapfhahn zugedreht!»

Michael grinste breit. «Ich habe dir doch erklärt, wie das mit manchen Verordnungen ist: Sie sind nicht für jeden Bürger gleich auszulegen.»

Anfangs, als alles noch neu war, machte er sich oft lustig über seine Tätigkeit im Magistrat. So setzte er sich eines Abends mit einer langen Liste an den Tisch.

«Du glaubst nicht, Catharina, wie viel überflüssige Zeit und wie viel Stroh im Kopf manche Leute haben. Schau her: Unser Pfarrherr im Münster, ein gelehrter Mann und Doktor, schickt uns mindestens einmal die Woche eine Liste mit Beschwerden ins Rathaus. Beschwerden über Vorkommnisse, die wir gefälligst umgehend durch neue Verbote aus der Welt schaffen sollen. Zum Beispiel beschwert er sich, dass Bräute mit geschwängertem Leib zur Trauung gehen. Oder dass die Krämerläden an Sonn- und Feiertagen geöffnet sind. Dass die Leute ihre Hunde mit in den Gottesdienst nehmen. Dass die Mönche vom Antoniterorden überall ihre Schweine herumlaufen lassen. Oder hier: Die öffentlichen Tänze zu den Marktzeiten und das Gassenstehen der Dienstboten seien umgehend zu verbieten.»

Er ließ das Blatt sinken und lachte: «Du solltest Elsbeth und Barbara Anweisung geben, ihre Einkäufe im Laufschritt zu erledigen.»

Catharina gefielen seine Schilderungen der Ratssitzungen, und sie freute sich, dass sie über diese Gespräche wieder zueinander fanden. Endlich schien sich im Haus zum Kehrhaken so etwas wie ein Familienleben zu entwickeln. Doch schon wenige Wochen später merkte sie, wie er diese kleingeistigen Auseinandersetzungen immer ernster nahm.


Zur Zeit der Obsternte wollte Catharina ihrer Tante in Lehen beim Einkochen helfen. Sie war früh auf den Beinen. Da Christoph und die anderen alle Hände voll zu tun hatten, konnte niemand sie abholen, und so marschierte sie zusammen mit zwei Frauen und einem alten Bauern die Landstraße hinunter. Catharina war das recht, denn ihre Schwangerschaft näherte sich dem Ende. In der zweiten Oktoberhälfte sollte ihr Kind zur Welt kommen, und wer sie gut kannte, dem fielen die Veränderungen an ihrem Äußeren sofort auf. Zwar war ihr Bauch nicht übermäßig rund und unter viel Stoff verborgen, doch ihr Gesicht war voller geworden, ihr Gang schwerer, und sie geriet schnell außer Atem. Dazu trug auch die Bauchbinde bei, die sie außerhalb ihres Zimmers stets anlegte. All das würde Christoph, der sie schon einige Wochen nicht mehr gesehen hatte, sofort bemerken. Ihm gegenüber schmerzte sie das Lügen am meisten, doch war er der Letzte, dem sie hätte offenbaren können, dass sie ein Kind von Benedikt in sich trug.

So würde sie wieder Lügen und Ausflüchte erfinden müssen, wie schon so häufig in den letzten Wochen. Er hatte sie große Überwindung gekostet, dieser Marsch nach Lehen. Doch erstens konnte sie ihrer Tante und den anderen nicht ewig aus dem Weg gehen, und zweitens: Lene wollte am nächsten Tag mit ihrem kleinen Matthias zu Besuch kommen. In Lene setzte Catharina ihre ganze Hoffnung.

Am Himmel hingen regungslos schwere Wolken, die Vögel schwiegen, und außer der kleinen Gruppe von Reisenden war kein Mensch unterwegs. Catharina war diese Stille unheimlich. Da glaubte sie, in der Ferne einen lang gezogenen Schrei zu hören. Erschrocken sah sie sich um, doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Ihre Begleiter hatten wohl nichts gehört, schweigsam und müde trotteten sie vor sich hin. Wahrscheinlich hatte sie sich geirrt. Dann sah sie eine Staubwolke, wie von einem davongaloppierenden Pferd. Auf der Höhe des Bischofskreuzes musste das sein. Sie kniff die Augen zusammen: Irgendwas lag da am Straßenrand. Ein Holzstoß? Ein umgestürzter Karren? Da bewegte sich doch jemand.

Sie lief schneller. Als deutlich wurde, dass es eine menschliche Gestalt war, die vergeblich versuchte sich aufzurichten und immer wieder gegen den Karren sackte, rannte sie los. Sie bekam kaum noch Luft. Es traf sie wie ein Blitzschlag, als sie Marthe erkannte, ein Blitzschlag, der ihr fast die Besinnung raubte. Das musste ein Traum sein, ein schrecklicher Albtraum. Ihre Tante Marthe kauerte dort auf dem Boden, mit aufgerissenen Augen, das Kleid in Brusthöhe zerfetzt und durchnässt. Jetzt erst sah sie die Blutlache im Staub.

«Tante Marthe! Ich bin’s, Cathi. Erkennst du mich?»

Fast unmerklich nickte ihre Tante und schloss stöhnend die Augen.

«Es wird alles gut, liebste Tante, glaub mir. Hab keine Angst, hab keine Angst.»

Catharina konnte vor Entsetzen kaum sprechen. Da sah sie die anderen, die inzwischen herangekommen waren und im Abstand von einigen Schritten die Szene beobachteten.

«So helft mir doch, um Gottes willen, sie stirbt!», schrie Catharina, und ihre Stimme überschlug sich. Der alte Bauer hob ratlos die Achseln, die beiden Frauen drehten sich um und wollten weitergehen. Wie eine Furie sprang Catharina auf und packte beide mit eisernem Griff am Arm.

«Seid Ihr des Teufels?», brüllte sie. «Verflucht sollt Ihr sein, wenn Ihr mir nicht helft.» Unwillig näherten sich die beiden Frauen der Verletzten, und auch der Bauer wagte nicht mehr, sich davonzustehlen. Catharina riss ihr Schultertuch in Streifen und umwickelte damit den blutenden Brustkorb. Dann legte sie sich Marthes linken Arm um ihre Schultern, der Bauer nahm den rechten, und gemeinsam hievten sie die stöhnende Frau in die Höhe. Die beiden Frauen griffen jeweils ein Bein und stützten mit ihrer Schulter die Hüfte ab, sodass Marthe, die inzwischen bewusstlos war, rücklings und fast waagrecht in der Luft lag.

Behutsam und im Gleichschritt trugen sie die alte Frau nach Hause. Es war nicht mehr weit zum Gasthof, doch für Catharina schien die Zeit stillzustehen. Sie ging unter Marthes Gewicht gebückt, obwohl ihre Tante keine schwere Person war – es war die Last des Todes, die Catharina auf ihren Schultern trug. Ununterbrochen murmelte sie vor sich hin, erzählte der Schwerverletzten eine Geschichte nach der anderen aus ihrer Lehener Kinderzeit.

«Hörst du mich, Tante Marthe? Bei euch habe ich die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht. Du warst immer wie eine Mutter zu mir. Wie kann ich dir dafür nur danken? Du darfst jetzt nicht einfach sterben.» Tränen liefen ihr über das blutverschmierte Gesicht.

Sofies Tochter, die im Hof mit ihrem Bruder spielte, riss entsetzt Mund und Augen auf, als die schaurige Prozession durchs Tor trat.

«Schnell, meine Kleine, hol Christoph. Lauf schnell.» Sie legten Marthe auf eine Strohschütte an der Stallwand.

«Gott segne Euch für Eure Hilfe», sagte Catharina zu ihren Helfern und rang nach Atem. Ihre eigene Stimme kam ihr plötzlich fremd vor. «Holt bitte noch den Dorfchirurgen. Er wohnt am Kirchplatz.»

Sie kniete sich neben den Strohhaufen, hielt in der Linken Marthes kraftlose Hand und streichelte ihr Gesicht, das sich jetzt entspannt hatte. Sie blickte auf: Christoph stand vor ihr, kreidebleich trotz aller Sonnenbräune. Er sagte kein Wort. Sie erhob sich schwerfällig und überließ ihm ihren Platz an Marthes Seite. Als sie sah, wie er niederkniete und neben seiner Mutter auf das Stroh sank, ging sie in die Küche, um sich die Hände zu waschen, nahm den kleinen Andreas auf den Arm und dessen Schwester an der Hand und ging hinauf zu Christophs Frau.

Sofie stieß einen Schrei aus, als sie Catharina sah. «Was ist passiert? Bist du verletzt? Du bist ja voller Blut!»

Catharina sah an sich herunter. Ihr weites hellbraunes Leinenkleid hatte überall dunkle Flecken. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie begann zu schwanken. Sofie reichte ihr eine Wolldecke. Im warmen Schutz der Decke beruhigte sich Catharina allmählich und berichtete, wie sie ihre Tante neben dem umgestürzten Pferdekarren gefunden hatte.

«Es muss ein Überfall gewesen sein. Das Pferd ist weg.»

Sofie starrte vor sich hin. «Sie wollte dir entgegenfahren. Die Männer wollten sie nicht bei der Obsternte mithelfen lassen, weil sie in letzter Zeit nach schwerer Arbeit Herzschmerzen bekam. Durch das offene Fenster hab’ ich gehört, wie sie sagte: ‹Wenn es für mich nichts zu tun gibt, geh ich meine Cathi abholen.› Christoph wollte das nicht zulassen, wegen der vielen Überfälle in den letzten Jahren, aber Marthe lachte nur und meinte, sie würde die große Peitsche mitnehmen und jedem, der ihr zu nahe käme, eins über die Nase ziehen.»

Jetzt fing auch Sofie an zu weinen.

Catharina ergriff heftiger Schwindel. Wäre sie nicht nach Lehen gekommen, würde Tante Marthe jetzt in der Küche stehen und für ihre Familie und die Erntehelfer ein kräftiges Mahl zubereiten. Mühsam richtete sie sich auf und ging wieder in den Hof.

Eine Menschentraube stand um die Strohschütte. Catharina verschwamm alles vor Augen: Wie in einem dichten Nebel sah sie mal die Gestalt des Pfarrers und des Wundarztes, mal die von Christoph oder den Zwillingen auftauchen. Stand da nicht auch der alte Krämer aus Betzenhausen? Wieso lief ihm Blut über Stirn und Wange? Catharina trat näher.

«Es waren zwei kräftige Männer», hörte sie seine aufgeregten Worte, «beide mit langen Dolchen bewaffnet. Ich stand zufällig hinter einem Busch, um zu pinkeln. Die Stadellmenin schrie, sie sollten sich nehmen, was sie wollten, und sich dann zum Teufel scheren. Ich wollte schon weglaufen – na ja, der Kräftigste bin ich ja auch nicht mehr. Aber dann sah ich, wie der eine sie gegen den Karren stieß und auf sie einstach, nochmals und nochmals, bis das Blut spritzte. Dabei wehrte sich die arme Frau doch gar nicht! Da bin ich auf sie zugestürzt, um ihr zu helfen, aber ich bekam einen Schlag auf den Kopf und bin erst wieder in einem Graben zu mir gekommen. Ich schwöre euch, ich habe diese Kerle hier noch nie gesehen.»

Catharina wandte sich ab. Der Dorfchirurg hatte inzwischen die Wunden mit verdünntem Branntwein gereinigt und einen Druckverband angelegt. Marthe war wieder zu sich gekommen. Vorsichtig trugen die Männer sie hinauf in ihr Zimmer und legten sie ins Bett. Bis auf den Pfarrer verließen alle den Raum und warteten in der Diele.

«Sie hat mindestens fünf Stichwunden», sagte der Wundarzt. «Eine davon knapp unterhalb des Herzens. Sie hat viel Blut verloren, aber ein junger Mensch würde das überleben.» Dann schwieg er. Christoph sagte immer noch kein Wort, und so nahm Catharina alle Kraft zusammen und fragte: «Und Tante Marthe? Wird sie es überleben?»

«Sie hat ein schwaches Herz, und der Schreck war zu groß. Ich fürchte, der Herr Pfarrer muss jetzt seine Arbeit machen. Es tut mir sehr Leid.»

Christoph lehnte sich gegen die Wand, dann gaben seine Knie nach und er rutschte langsam zu Boden. Der Chirurg klopfte ihm ein paarmal mit dem Handrücken fest gegen die Wangen und flößte ihm Kräuterwein ein. Catharina nahm seine Hand.

«Christoph. Deine Mutter braucht dich jetzt.»

Er nickte. In diesem Moment ging die Tür auf, und der Pfarrer erschien. «Ihr könnt jetzt eintreten. Sie ist bei sich.»

Christoph ließ Catharinas Hand nicht los, als er sich auf den Bettrand setzte. Seine Brüder knieten sich auf die andere Seite. Marthe hatte jetzt wieder etwas Farbe im Gesicht und sah aus wie jemand, der nach harter Arbeit sehr erschöpft ist. Ihre Augen waren geschlossen.

«Sprich mit ihr, sie hört dich bestimmt», sagte Catharina. Da legte Christoph seine Wange an die seiner Mutter und redete leise auf sie ein. Der Pfarrer räumte seine Utensilien für die Letzte Ölung zusammen. Aus dem geöffneten Fenster hörte man schwere Regentropfen auf die Blätter der Obstbäume klatschen, ein kleiner Zeisig kam neugierig auf die Fensterbank geflogen und legte den Kopf schief, als ob er auf den Tod dieser Frau wartete.

Marthe bewegte die Lippen. «Kommt – Lene?»

«Bestimmt», sagte Christoph. «Sie muss jeden Moment hier sein.»

Noch vor Sonnenuntergang starb Tante Marthe. Catharina blieb über Nacht, um mit Christoph und seinen Brüdern Totenwache zu halten. Auch Sofie ließ es sich nicht nehmen, dabei zu sein. Man hatte sie in warme Decken gepackt und in einen Lehnstuhl gesetzt.

Marthes letzte Worte waren gewesen: «Bleibt zusammen.» Niemand wusste, wen sie damit gemeint hatte.

Die Hexe von Freiburg
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