Mit mahlenden Rädern, klappernden Hufen und hallenden Tritten rasselten sie durch das Stadttor in südöstlicher Richtung, der «Porte de Durance». Die Straße führte vom Tor schnurgerade zum großen Fluss und zum Flusshafen Saint Nicolas, aus dem die Stadt großen Gewinn zog. Man hatte dort ein natürliches Becken ausgebaut, eine Ausbuchtung des tiefsten der Flussarme, wo die Durance sich in den kalkigen Boden gefressen hatte. Die Anlegestelle war mit starken Eichenbalken befestigt worden, jeder aus einem hundertjährigen Baum gehauen. Da wurden kostbare Waren aus- und eingeladen und besteuert: Silber und Edelsteine aus den Bergen, Spezereien aus Venedig, die auf Mauleseln über die Alpen gebracht worden waren, ehe die Reise auf dem Fluss weiterging; Wollstoffe, Olivenöl und Wein aus Pertuis, Salz aus Marseille und dem Peccais. Nicht zu jeder Jahreszeit war die Durance schiffbar: Im Frühjahr schwoll sie vom Schmelzwasser mächtig an und überflutete Felder und Wiesen, im Sommer wurde sie mager und träge. Pertuis selbst lag auf einer kleinen Anhöhe, wo es vor den frühjährlichen Überschwemmungen sicher war.
Danielle blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen, so überwältigt war sie von der Weite, die sich vor ihr öffnete. Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie in den letzten Wochen vermisst hatte: das freie Land und darüber den unendlichen Himmel, nicht nur kleine Stückchen und Flicken davon, durch Lücken zwischen Mauern und an Ziegeln vorbei erhascht.
Die Beginen verließen den Konvent nur zum Kirchgang und in Geschäften – und dann auch nur mindestens zu zweit und immer eine jüngere in Begleitung einer älteren Schwester. ‹Als hätten alleinstehende Frauen nichts anderes im Sinn, als auf dem schnellsten Wege die nächste Gelegenheit zur Unzucht zu nutzen …›, dachte Danielle belustigt. ‹Wer käme denn da in Frage? Schau, schau, vielleicht der schmerbäuchige, glatzköpfige Gastwirt dort, der mit öligem Grinsen im Türrahmen steht? Oder der krummbeinige Alte, der unter seinem Bündel Brennholz daherkeucht? Oder das grüne Jüngelchen da, mit dem ausgestopften Hosenlatz und dem grindigen Kopf? Ja, wahrlich, die Welt ist voller Einladungen! Und sogar der junge Mann dort mit seiner glatten, gebräunten Haut und den festen Muskelpaketen an seinen Armen, warum sollte ich ihn begehren, nur weil er ansehnlich und greifbar ist? Es ist ja nicht so, als ob wir Tiere wären. Und nicht einmal die sind immer dazu aufgelegt.›
«Es geht nicht darum, was wir tun, sondern es geht darum, was andere denken, dass wir tun», hatte die Meisterin geseufzt.
«Oder was sie möchten, dass wir täten», hatte Danielle hinzugefügt. Doch in ihrer Probezeit war der Ausgang bis auf die Messen ohnehin verboten. Und je weniger die guten Bürger von Pertuis von der «Bettelbegine» zu sehen bekamen, desto besser war es für alle.
An diesem Tag aber durfte sie hinaus.
«Ohé! Heute ist Waschtag! Wir gehen waschen! Hinaus in die Natur, zum Fluss! Und wir machen ein gousteto, ein Pique-nique!», jubelte Magdalène und tanzte schon in der Dämmerung durch den Schlafsaal wie ein Kind. Dabei war der Waschtag an sich kein Spiel. Ein hölzernes Wägelchen war beladen worden mit allen Utensilien der Reinlichkeit, mit hölzernen Bottichen, Seifen, bacèou, den paddelartigen hölzernen Schlegeln zur Bearbeitung der Wäschestücke, einer Vorrichtung zum Wringen und vielem mehr. Sechs Maultiere trugen die gesammelte schmutzige Wäsche des Winterhalbjahrs und dazu noch eine Ladung Vliese, die zu schmutzig zum Verspinnen waren. Das alles versprach einen langen, harten Arbeitstag, aber auch einen Tag im Freien, im Grünen und in der Sonne, einen Tag, an dem sich die braven Beginen einmal aufführen durften wie junge Mädchen, scherzen und planschen und um die Mittagszeit im Schatten alter Bäume ein gutes Mahl genießen.
Danielle atmete tief durch und genoss den Rundblick. Der Himmel verfärbte sich eben von Zartrosafarben über Goldorange und Weizengelb in ein klares, hartes Meerblau. Es versprach, ein heißer Tag zu werden. So früh am Morgen war das Grün der Wiesen noch frisch. Oberhalb der Dunstschleier sah sie die Bergdrillinge «Die drei Brüder» schweben, als seien sie nicht mit der Erde verbunden, und weit in der Ferne, kaum von Wolkenbänken zu unterscheiden, die schneebedeckten Alpen nach dem Piemont zu. Nach Süden hin fiel das Land ab bis zu den hellen Bändern der Durance. Hinter sich wusste sie den langgezogenen blauen Bergrücken des Luberon-Gebirges, vor ihr schimmerte in einem hellen Grau der Mont Aventure, wo der römische Feldherr Marius die Teutonen geschlagen hatte, am Horizont die Spitzen der Meeralpen und nach Südosten das braune Sainte-Baume-Massiv, wo die heilige Maria Magdalena begraben lag, dahinter, nur zu ahnen im Dunst, das Meer …
Steile Felsen ragten auf über ein hellgrünes Meer, Gischt schäumte. Fischernetze waren am Strand zum Trocknen aufgespannt. Frauen in Schwarz suchten zwischen den Felsen nach Muscheln. Eine Stadt schmiegte sich an den Hang, bunte Häuser und steile Kopfsteingassen. Ganz oben auf der Kuppe ein weißes Gebäude, Säulen. Ein alter Mann in einem weißen Gewand kam über den Strand auf sie zu, er rief etwas und lächelte – sie strengte sich an, ihn über dem Tosen der Brandung zu verstehen …
«Komm schon! Was hältst du Maulaffen feil», rief Magdalène. Danielle riss sich aus ihrer Träumerei und rannte den Schwestern hinterher. Sie waren ausgezogen, in leichtem Sommerleinen, Sandalen an den Füßen und mit weitkrempigen Strohhüten über den Wimpeltüchern auf den Köpfen. Eine halbe Stunde Fußmarsch hatten sie wohl vor sich, durch Bohnen-, Korn-, Zwiebel- und Weinfelder, vorbei an hellblauen Olivenhainen, unter denen jetzt, Anfang Juni, weiße Milchsterne in großer Zahl blühten. Die schwarzen Fackeln der Zypressen ragten rechts und links der Straße auf.
In einiger Entfernung vor dem Hafen Saint Nicolas bog die kleine Karawane nach links auf einen Feldweg ab. Gewaschen werden musste flussaufwärts, da an den Anlegestellen viel Unrat ins Wasser geworfen wurde.
Eine Biegung oberhalb des Hafens kamen sie zu einer mit Weiden bestandenen Wiese. Der mächtige Fluss, der im Frühjahr so tobte und weit über die Ufer trat, hatte sich in sein Kiesbett zurückgezogen. Flach abgeschliffene Felsquader ragten aus dem Wasser, wie die Rücken riesiger grauer Tiere, zum Waschen wie gemacht. Etliche Frauen aus der Stadt waren bereits dort, meist Mägde aus den besseren Häusern. Sie begrüßten die frommen sorores ehrerbietig.
«Bonjour!»
«Olà!»
«Einen schönen guten Tag, Schwester Guilhelme! Ich dank dir auch nochmal für die gute Medizin, die du meinem alten Vater im Winter gebracht hast! Sein Husten ist ganz fort. Es geht ihm gut!»
«Dank euch für den Sack Linsen nach carnaval! Ohne das hätten wir nicht weitergewusst!» Sie hatten am Mardi Gras im Festrausch ihre letzten Vorräte aufgegessen. Die Zeit bis zur ersten Ernte wäre ihnen lang geworden ohne die Spende.
«Vergelt’s Gott!»
Die Beginen begannen die schmutzige Wäsche und die Gerätschaften abzuladen. Renata legte den Maultieren Fußstricke an, sodass sie weiden, aber sich nicht davonmachen konnten. Magdalène raffte quietschend und lachend ihre Röcke hoch, streifte im Laufen die Sandalen ab und rannte ins flache Wasser. Guilhelme und Danielle trugen zwischen sich einen Korb mit Kleidungsstücken zum Fluss, knieten auf einem flachen Stein nieder und begannen mit der Arbeit.
Geübt tauchte Guilhelme ein Wäschestück ins Wasser, schwenkte es, bis es sich vollgesogen hatte, seifte es von allen Seiten ein und warf es dann auf den flachen Stein, um es klatschend mit dem Wäscheklopfer zu bearbeiten.
Danielle tat es ihr nach. Binnen kurzem hatte auch sie ihren Rhythmus gefunden.
«Nicht zu stark, sonst zerreißt die Wäsche – nein, das ist zu schwach, so wird sie nicht sauber», kommentierte Guilhelme freundlich. «Also eine Wäscherin bist du auch nicht. Aber dafür machst du es schon ganz gut.»
Eine der anderen Frauen kicherte: «Du hättest sehen sollen, wie sie sich in der Küche angestellt hat! Annik hat ihr das Schälmesser aus der Hand gerissen und geschrien: ‹Nicht so viel abschneiden! Was für eine Verschwendung! Wenn du kochst, dann verhungern wir alle!›»
Die anderen Beginen lachten. «Und dann hat sie gesagt …», die Erzählerin stemmte die Hände in die Hüften und machte die energische kleine Küchenfrau mit ihren vogelartigen Bewegungen nach: «‹… die hat nie und nimmer für sich selbst gekocht! Nie und nimmer nicht!›»
Guilhelme stieß Danielle gutmütig den Ellbogen in die Seite: «Na, vielleicht bist du ja doch eine Prinzessin, wie Jeanne meint!»
«Ganz bestimmt nicht, das weiß ich.»
«Aber das ist es doch gerade, dass du nichts weißt! Wie kannst du dann so sicher sein? Wäre das nicht schön, wenn sie dich abholen kämen mit einer Sänfte, dich in ein Schloss trügen, und da lebtest du glücklich bis an dein Lebensende?»
«In einem Schloss habe ich nichts verloren», sagte Danielle. Und während sie es sagte, wusste sie, dass es stimmte.
Nach einer Stunde schmerzte Danielles Rücken, als müsse sie in zwei Teile brechen. Ihre Hände waren verkrampft und die Fingerspitzen vom Wasser runzlig und aufgequollen. Doch sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Ein Stück weiter flussaufwärts waren sich zwei Wäscherinnen in die Haare geraten. Immer lauter wurden die Stimmen, bis man verstand: «Du lässt die Finger von meinem Jean! Ich habe genau gesehen, wie du dir in seiner Gegenwart immer das Dekolleté herunterzerrst, bis dir bald die Äpfel rausfallen, und wie du ihn anlächelst, du Rabenaas, du Miststück, du schlampige, faule, freche, unanständige … du, du, du schmutzige …»
Jetzt war die andere beleidigt: «Ich bin nicht schmutzig», schrie sie und schubste ihre Gegnerin ins Wasser. Die zog sie am Rockzipfel hinterher. Die anderen Frauen standen auf und feuerten die beiden an, bis sich die Begine Philippa ihrer Christenpflicht erinnerte und eingriff: «Schämt euch, so zu streiten wegen eines Mannes! Du sollst nicht begehren …», fing sie an, doch die beiden nassen Katzen unterbrachen sie und riefen wie mit einer Stimme: «Halt du dich da raus!»
Mittags hatten sie die nasse, aber saubere Wäsche auf der Wiese zum Trocknen ausgebreitet. Jeder Busch und jeder erreichbare Ast im weiten Umkreis trug seine Last von Unterkleidern, Umhängen, Tüchern, Decken, Röcken, Miedern, Hemden und Beinkleidern. Die Frauen zogen sich in den Schatten der Bäume zurück und breiteten die mitgebrachten Leckereien aus. Annik hatte die halbe Nacht gebacken, um ihre Schwestern für die harte Arbeit zu belohnen.
«Fougasses – Brot mit eingebackenem Speck, Oliven, Wein, Schafskäse, Nüsse und sogar ein Kuchen! Hasenpastete! Kinder, geht’s uns gut heute!», seufzte die dicke Manon und ließ sich auf einen Stapel Wolle fallen. «Seid ihr sicher, dass ihr wirklich alle von dem Kuchen wollt?»
«Ganz sicher! Mein Stück kriegst du nicht!», lachten die anderen.
«Du kannst meins haben», sagte Danielle ruhig.
«Ah! Danke! Eine Heilige bist du», rief Manon.
Die Beginen sprachen ein rasches Dankgebet und fielen über das Essen her. Manon brach das Brot und reichte jeder ein Stück. Danielle roch daran. Es duftete nach Milch und süßem Korn. Die hellbraune Kruste des Brotes brach mit leisem Knacken unter ihren Zähnen, darunter gab es leicht und flaumig nach. Der Weinkrug, der den ganzen Vormittag im kühlen Flusswasser gestanden hatte, wurde herumgereicht. Danielle wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und nahm einen langen Zug. Die Wirkung setzte sofort ein, diese angenehme Unschärfe im Kopf. Sie schloss die Augen und lauschte auf die Stimmen ihrer neuen Schwestern, auf das Rauschen der Blätter in der Sommerbrise, das Murmeln der Kiesel im Fluss, und ein großer und wunderbarer Frieden überkam sie.
Magdalène rüttelte sie wach. «Komm, Danielle, ich habe dort hinten Walderdbeeren gesehen. Hilf mir, sie einzusammeln!»
Danielle blinzelte schläfrig ins Blätterdach, wo die Weidenzweige schwankten und hier und da blendend weiße Sonnensterne durch die Blätter blitzen ließen.
Aber Magdalène ließ sich nicht abweisen. Sie stieß sie sanft mit der Fußspitze an:
«Los, Faulenzerin! Auf!»
Seufzend folgte ihr Danielle. Die anderen Frauen hatten es sich unter Bäumen und auf zusammengerollten Stoffballen bequem gemacht. Vorsichtig suchten sie sich ihren Weg über die Wiese durch die Wäschestücke hindurch in einen lichten Wald aus wilden Pflaumenbäumen und Erlen.
«Hier» Magdalène hatte die Stelle wiedergefunden. Sie warf ihren Strohhut auf die Erde. «Wir tun sie da hinein! Sieh nur, wie viele es sind! Es ist alles voll davon!» Die breiten, dunkelgrün gezackten Blätter der wilden Erdbeeren hoben sich von den helleren Lanzen der Gräser ab. Unter ihnen schimmerten weiße Blüten und die winzigen roten Beeren. Sie hockten sich ins Gras, pflückten und naschten dabei, bis sich ihre Lippen und Fingerspitzen röteten.
«Wie bist du eigentlich zu den Beginen gekommen?», fragte Danielle.
«Calixtus hat mich gefunden und gerettet», lachte Magdalène. «Ich stand vor einer Wirtschaft und wartete auf Kundschaft. Ich wäre vielleicht nicht mit ihm gegangen, wenn mir der vorige Freier nicht ein blaues Auge verpasst hätte, aber so … es war einer dieser Momente, wo mein Beruf mir so gar keine Freude gemacht hat, verstehst du? Und da kam dieser gute Bruder und hat auf mich eingepredigt vom Leben in Sünde und Eitelkeit und vom verlorenen Sohn, dass Gott einen aufnimmt, wenn man wirklich bereut, und dass er einem ein neues Gewand schenkt und all das. Na! Es war ein regnerischer, kalter Tag, und mein Gesicht tat mir weh, und die Kerle waren mies. Da kam mir ein frommes Leben schon sehr verlockend vor!» Danielle schaute entsetzt. Magdalène steckte sich eine überreife Beere in den Mund, zerdrückte sie mit der Zunge am Gaumen und leckte sich genüsslich die Finger ab.
«Nun schau nicht so, du Lämmchen! Hast du gedacht, wir hätten alle eine persönliche Einladung von einem Engel bekommen? Oh, gewiss, einige von uns behaupten, sie hätten eine Vision gehabt – von mir aus! Mir hat sich einfach ein Weg eröffnet, an den ich vorher nicht gedacht hatte.»
«Aber wie bist du denn … hm … also …».
«Warum ich Hure geworden bin?», sagte Magdalène. «Mir ist nie etwas anderes eingefallen. Meine Mutter war eine, und ich sollte, sobald ich so weit war, auch eine werden.» Sie lachte unbekümmert. «Sie hat mir alles beigebracht, was man als Hure wissen muss. Wie man Männern Freude bereitet. Meine Jungfernschaft hat sie meistbietend versteigert. Es war gar nicht so übel das erste Mal.»
«Aber wie kannst du denn … so einfach mit jedem Mann …», Danielle schüttelte es bei dem Gedanken.
«Ich habe ja nur die genommen, die mir nicht zuwider waren. Mir hat es nichts ausgemacht. Im Gegenteil: Ich habe es als meine Kunst und Pflicht verstanden, die Männer so recht zufriedenzustellen. Die Liebe ist keine so leichte Sache, wie man es immer darstellt, vor allem für die Männer nicht. Immer sollen sie stark und immer potent sein. Was glaubst denn du? Mancher kam ängstlich und unsicher zu mir geschlichen, und ich hatte meine liebe Mühe mit ihm! Und wenn sie dann stolz und erleichtert wieder gegangen sind, dann war ich zufrieden mit mir. Manche Hure gibt einfach ihren Körper hin, liegt da und tut gar nichts. Und wird noch unwirsch, wenn die Kerle nicht zum Ende kommen. Das ist nichts wert. Es ist nachgerade Betrug! Liebe zu geben, sodass sie davon mehr haben als einen Augenblick der Lust, sodass sie sich nachher besser vorkommen, schöner, stärker, mutiger, verwegener – das ist eine Kunst»
Danielle schaute ungläubig.
«Aber ja! Wenn’s dir selbst nicht gefällt, dann kannst du den Beruf nicht ausüben. Na – aber es gibt auch gemeine Freier und schlechte Tage …»
«Und wenn du schwanger geworden wärst?»
«Dagegen gibt’s Kräuter, Hysop und Anis und Petersilienwurzel …»
«Das ist doch alles Unsinn», sagte Danielle. «Schwangerschaften kannst du mit keinem Kraut der Welt verhindern.»
«Und wenn schon. Aber ich hab Glück gehabt.»
«Hast du keine Angst gehabt, in die Hölle zu kommen?»
«Warum? Weil ich Freude gegeben habe? Nein. Ich glaube, das ist Pfaffengeschwätz. Wenn’s gute Pfaffen sind, so wie Calixtus, dann verstehen sie nichts davon, weil sie’s selber nicht tun – und wenn’s schlechte Pfaffen sind, dann kommen sie eher in die Hölle als ich, denn im Gegensatz zu ihnen habe ich nie geschworen, es bleiben zu lassen!»
Danielle musste lachen über diese Logik: «Du hast wahrscheinlich recht. Und die anderen aus unserem Konvent? Wie sind die dazu gekommen?»
«Also, die Anne, die Kopistin, das weiß ich: Die hat lernen wollen und Bücher lesen, das hat sie einfach mehr interessiert als Männer. Gebba ist Witwe geworden, und um an das Vermögen ihres Mannes ranzukommen, wollten ihre Kinder sie schnell wieder unter die Haube bringen. Da ist sie in den Konvent gegangen und hat ihr Vermögen mitgenommen. Da ist auch eine, die ist von ihrem Onkel missbraucht worden. Sie hat sich hierher geflüchtet, damit es nicht wieder passiert. Ich werde dir nicht sagen, wer es ist, das wäre ihr nicht recht. Sie wird es dir vielleicht einmal selber erzählen.»
«Oh», sagte Danielle. «Das arme Mädchen. Es ist schrecklich, wenn jemand, dem du vertraust und der dir Schutz bieten sollte, dich so misshandelt.» Sie pflückte eine Weile schweigend weiter, und Magdalène hatte das Gefühl, ihrer Freundin sei möglicherweise etwas Ähnliches passiert. Aber sie wagte nicht zu fragen. Da war eine Tür ins Schloss gefallen, das spürte sie. Also versuchte sie, wieder einen heiteren Ton anzuschlagen: «Wir haben auch eine ganz Gebenedeite unter uns!»
Danielle lachte: «Du meinst Justine?» Das war eine magere Blonde, die so fein und empfindsam tat, als schwebe sie ständig eine Handbreit über der Erde.
«Sie hat wohl wirklich eine Vision gehabt. Ihr ist die heilige Martha erschienen und hat ihr befohlen, ein keusches Leben zu führen und den Armen zu dienen. Aber wenn du mich fragst, für die meisten von uns ist das ein guter Weg, der Ehe zu entgehen, in der man jedes Jahr schwanger ist und mit dreißig Jahren alt und verbraucht, und der Kerl prügelt einen täglich durch»,
«Aber so ist es doch nicht immer.»
«Oft genug. Auf jeden Fall hast du selbst nichts zu melden. Du gehörst dem Vater oder dem Ehemann wie ein Stück Vieh. Dann schon lieber keusch und fromm.»
Obwohl Magdalène stets in rauem Ton über «Das-in-die-Kirche-Rennen» sprach, so hatte Danielle wohl beobachtet, dass ihre Freundin mit der Inbrunst und dem Vertrauen eines Kindes betete.
Hand in Hand schlenderten sie zurück. Danielle schaute die andere verstohlen von der Seite an. Magdalènes Profil war dunkel gegen den gleißenden Sommerhimmel: die aufgeworfenen Lippen, die kurze Stupsnase, das gerundete Kinn, Haarsträhnen, die aus dem Wimpeltuch entwischt waren und sich am Hals entlangkräuselten, die großen weichen Brüste, die sich unter dem Gewand abzeichneten. ‹Sie ist wie ein Füllhorn. Sie gibt und gibt, und es ist nie ein Ende›, dachte Danielle. ‹Warum kann ich nicht so sein wie sie? Im Vergleich mit ihr bin ich wie eine kleine, bittere Frucht: eine Menge Kerne und wenig Fleisch. Ich bin misstrauisch und geizig mit meinen Gefühlen. Wann bin ich so geworden?›
Berge schmutziger Wäsche und Wolle türmten sich immer noch entmutigend hoch am Flussufer, doch als der Nachmittag kühler und das Licht matter geworden war, hatten sie schließlich alles geschafft.
Die Maultiere wurden beladen, das Wägelchen angeschirrt, und der Zug bewegte sich wieder heimwärts. Dort, wo der Feldweg in die Straße mündete, blieb Manon plötzlich stehen. «Halt, Kinder. Da kommt ein Haufen Kerle. Lasst uns lieber warten, bis sie vorüber sind.» Sie wollten sich in den Schutz einer Baumgruppe zurückziehen, aber es war zu spät. Sie waren schon entdeckt worden.
Es war eine Gruppe von Flussschiffern auf dem Weg zur Stadt. Ganz offenbar stand ihnen der Sinn nach Vergnügungen. «Nun schaut doch mal, was uns der gütige Himmel da schickt!», rief der Anführer.
«Ein ganzer Haufen Weiber, für jeden zwei!», johlte ein anderer.
«Das sind doch keine richtigen Weiber, das sind bloß Kirchenkrähen», schimpfte ein Dritter.
«Ach, sind die Kleider erstmal runter, dann sind es ganz normale Weiber, genau wie andere auch.»
«Lasst uns nachschauen!»
Die Beginen drängten sich ängstlich aneinander.
«Ihr guten Männer, lasst uns in Frieden. Wir sind fromme Frauen und tun keiner Seele etwas!», rief Justine. «Geht weiter und sucht euer sündiges Vergnügen anderswo!»
Doch die Kerle ließen sich nicht abweisen. Angetrunken, wie sie waren, kamen sie direkt auf sie zugewankt.
«Da sind doch ein paar ganz junge, hübsche dabei. Her mit euch, Mädchen!», schrie der Anführer.
«Die alten Schachteln sollen ruhig beten, während wir sündigen!» Röhrendes Gelächter begleitete seine zotige Geste. Einer von den Männern hatte Magdalène ausgemacht:
«He! Du da, Hübsche, du bist doch eine richtige Frau! Komm her! Ich hab hier was, was dir gefallen wird!» Selbstgefällig grinsend legte er die Hand auf seinen Schambeutel.
Die Männer waren jetzt herangekommen, sie stießen die älteren grob beiseite und begannen die jüngeren Beginen zu behelligen. Philippa schlug sich die Hände vors Gesicht, und Justine begann zu weinen.
«Warum denn so zimperlich? Ihr seid doch gar keine Nonnen. Ihr treibt’s doch allenthalben unter dem Vorwand der Frömmigkeit, das weiß doch jeder!»
Eine Brise vom Hafen her trug den Geruch von Teer heran.
Harte Hände greifen nach ihr und zerren sie aus dem modrigen Dunkel ans Tageslicht. Sie ist nackt bis aufs Hemd, hält die Hände vor die Brüste, vor die Scham, krümmt sich. Eine johlende Menge empfängt sie, grell verzerrte Flecken die Gesichter, klaffende Mäuler, aus denen sich Unflat ergießt. ‹Freunde, Mitbürger! Ihr kennt mich doch! Ich habe nichts getan! Ich bin unschuldig! Unschuldig!› Niemand hört sie. Gelächter gellt in ihren Ohren, böses Gewieher und Geschrei. Sie wird auf die Knie in den Straßendreck gedrückt. Einer greift in ihr Haar und zerrt es hoch – die Menge grölt: ‹Runter damit!› Metallisches Schnappen. Kalt ratscht die Klinge über ihre Kopfhaut, reißt mehr, denn dass sie schneidet. Hüftlange braune Locken fallen. Der Kopf ist so leicht plötzlich und so entblößt. Auf einem offenen Feuer ein Kessel mit Teer, ölig und scharf. Man zerrt sie wieder auf die Füße, hält sie an den Armen, rechts und links, ihre Knie werden weich. ‹Nein, bitte, nicht.› Ungehört verstummt sie, schließt die Lippen und presst die Augen zu, um nicht zu erblinden. Ein Eimer mit heißem, zähem Teer ergießt sich über ihren kahlen Kopf. Es brennt, es schmerzt. Sie schreit, windet sich. Ihre Haut rötet sich, schrumpft und zischt; ätzender, heißer Brei verklebt ihre Lider, ihre Ohren, die Nase, den Mund. ‹Feee-dern! Feee-dern! Feee-dern!› Der Schlachtruf eines Tieres mit hundert Kehlen. Etwas Weiches, Weißes rieselt auf sie herab und bleibt an ihr kleben. Man lässt sie abrupt los. ‹Fliiiieg, Vogel, fliiieg!›
Der Wäscheklopfer traf auf berstende Knochen. Der Mann fiel hintenüber wie ein gefällter Baum – zu überrascht, um zu schreien. Blut spritzte aus seiner Nase. Die anderen Männer waren erschrocken zurückgewichen. «Die ist ja wahnsinnig!», rief einer. Ein anderer hielt sich den rechten Arm, der dritte presste beide Hände auf seinen Brustkorb.
«Verdammt, Weib! Wir wollen doch nur ein bisschen Spaß! – Und ihr wollt fromme Frauen sein? Haltet bloß das Bärenweib zurück.»
«Was für eine Furie! Kommt, wir holen uns unser Vergnügen da, wo man unser Geld zu schätzen weiß!» Sie hoben ihren verletzten Kameraden auf und machten sich fluchend davon.
«Danielle!»
Sie schaute an sich herunter und bemerkte erst jetzt, dass sie mit beiden Händen einen der hölzernen Wäscheklopfer hielt. An der einen Kante klebten Blut und schwarzes Haar. Angeekelt ließ sie ihn fallen. Sie hörte sich selbst keuchen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. Und wieder war es Magdalène, die sie in die Arme nahm und wortlos tröstete, sie festhielt, bis ihr Atem wieder ruhiger ging. Justines Haar war zerzaust, ihr Gesicht gerötet vom Weinen und vor Scham. Ein wenig ängstlich blickte sie auf Danielle. «Du hättest sie nicht schlagen sollen», bemerkte sie in zimperlichem Ton.
«Quatsch!» Manon rappelte sich aus dem Gras auf: «Helft mir hoch, Kinder!» Philippa und Guilhelme zogen sie auf die Beine. «Ouf! Das geschah ihnen nur recht! Ich wünschte nur, ich hätte noch solche Kräfte wie Danielle. Du meine Güte! Ich hab gedacht, sie schlägt sie alle zu Brei, eine einzige Frau gegen so viele!»
«Es muss der Geruch gewesen sein», berichtete am Abend Renata. «Ich hatte mal einen Esel, der war schwer misshandelt worden, und sein Besitzer war ständig betrunken. Also, wenn der Wein zu riechen bekam, dann spielte er verrückt – der Esel.»
«Was war denn da für ein Geruch?», fragte Juliana.
«Es roch plötzlich nach Teer – vielleicht haben sie eines der Boote unten im Hafen frisch kalfatert. Das muss es gewesen sein. Das hat sie erinnert an … an das, was ihr passiert ist, oder?»
«Gewiss. Und sie hat sich tatsächlich geprügelt?» Die Meisterin schaute streng, doch sie konnte ein gewisses heiteres Zucken um die Mundwinkel nicht unterdrücken.
«O ja, und wie! Die Kerle sind gelaufen wie die Hasen!»
«Hmm. Ist sie also doch nicht so sanft und so gleichmütig, wie sie immer tut – und sicher selbst auch glauben möchte. Nein, lammfromm ist sie nicht.»
«Glaubst du, sie verstellt sich?», fragte Renata.
«Verstellen – nein. Falsch ist sie nicht. Das hätten wir schon bemerkt. Ich denke, sie weiß selbst nicht, was in ihr steckt. Aber eines Tages wird es sich seine Bahn brechen. Alles kommt einmal zutage, du wirst sehen.»
«Was für ein Schlag!», erzählte Manon im Speisesaal bewundernd und demonstrierte auch gleich noch mit der Suppenkelle, wie Danielle sie verteidigt hatte.
«Wie bitte? Sie hat sich geprügelt? Na, ich hab’s euch ja gleich gesagt!» Gebba rümpfte die Nase: «Wie ordinär! Und was wirft das für ein Licht auf uns alle?»
«Ein gutes, nämlich dass wir unsere Tugend zu verteidigen wissen.»
«Hättet ihr euch lieber gleich von den Männern ferngehalten!»
«Na, hör mal! Die haben uns belästigt und nicht wir sie!»
«Sie werden schon provoziert worden sein», sagte Gebba mit einem bedeutungsvollen Blick, da Magdalène gerade den Speisesaal betrat. Die hatte die Bemerkung gehört und ließ sich nichts schenken: «Das nächste Mal gehst du besser mit, Schwester. Dann machen sie einen Bogen um uns.»
Manon kicherte und hielt sich rasch eine Hand vor das Gesicht. Gebba zog die Lippen zusammen, sodass ihr Mund aussah wie ein zusammengenähter Socken.
Doch zur guten Nacht bot sie Danielle die Hand und einen schwesterlichen Kuss – unter den wachsamen Augen der Meisterin. Es stand in den Hausregeln, dass keine Begine zu Bett gehen sollte, ohne sich vorher mit all jenen zu versöhnen, mit denen sie sich während des Tages gestritten hatte.
«Ich heiße nicht gut, was du getan hast. Auch wenn euch die Männer mit ihrem Verhalten gereizt haben, so steht es doch einer Frau nicht an, gewalttätig zu werden. Und hat nicht unser lieber Herr Jesus die andere Wange hingehalten?»
«Mit einer Wange wären die kaum zufrieden gewesen, da hättest du schon was anderes hinhalten müssen», murrte Magdalène.
«Ich wollte das nicht, es tut mir leid. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist», sagte Danielle beschämt. «Ich hoffe, ich habe der Gemeinschaft nicht geschadet mit meinem Verhalten.»
«Und ich hätte dich nicht so hart tadeln sollen», gab Gebba zurück. «Ich habe es nur gut gemeint, verzeih. Wir wollen einander liebhaben wie Schwestern.» Sie umarmte Danielle.
«Oh, mach dir nur keine Sorgen, dass die Kerle etwa davon in der Stadt erzählen», kicherte Magdalène. «Die werden sich hüten. Da stünden sie ja schön da vor ihren Saufkumpanen!» Und so war es auch.