Wellen über Wellen von Ockertönen von hellstem Lehmgelb, lichtem Ocker, grünlichem Ocker, rosigem Fleischocker, Neapelgelb, Zimt- und Zinnoberrot bis zu gebrannter Erde breiteten sich vor ihm aus. Salpeter, Kalk und Flechten bildeten unregelmäßige Muster in Weiß und Grau. Die Schatten unter den zwei- und dreifach geziegelten Dachkanten schimmerten in einem ungewissen Blauviolett. Schwalben und Tauben waren die Bürger dieser Oberstadt, wie Calixtus die Dächer von Pertuis für sich getauft hatte, Eidechsen, Hornissen und Wespen. Dicht an dicht schlossen sich die Dächer aneinander. Nur die Türme der beiden Kirchen ragten heraus, die Wehrtürme und das Schloss. Die Gassen bildeten Schluchten, die sich von seinem luftigen Aussichtsplatz dem Blick entzogen. Die Oberstadt erschien als ungebrochene Ebene in lichten Orange- und Gelbtönen aus diesem Blickwinkel.
Calixtus hatte einen Teil des Schlafsaals abgedeckt und reparierte den Dachstuhl, der von Ameisen angefressen und morsch geworden war. Unter sich sah er den Hof des Konvents, den Herbularius und den Hortulus. Er sah Alix, die sich bei ihren Kohlköpfen zu schaffen machte, Garsende, die vor der Weberei stand und eifersüchtig zu den beiden auf der Bank herüberlugte, Magdalène, die mit einer irdenen Schüssel auf dem Schoß auf der Küchentreppe hockte und Gemüse putzte. Aus der Küche hörte man Annik ihre Helferin schelten, die etwas umgeworfen hatte. Aus der Weberei klang das gleichmäßige Klappern und Rattern der Webstühle herauf.
Nur von Carolus und der Begine Danielle sah und hörte man keinen Ton, obwohl sie doch dort unten auf der Bank am Brunnen saßen. Calixtus reckte den Hals. Dort blitzte ein wenig brauner Stoff durch von Danielles Rock. Carolus war ganz und gar hinter dichtem Lorbeer verborgen. Calixtus zuckte die Achseln und hämmerte weiter. Was konnten die zwei schon tun, so im Freien und unter Beobachtung?
Sie konnten sich tief in die Augen schauen.
‹Es ist doch eigenartig. Ich habe mich nie besonders für Frauen interessiert›, dachte Carolus. ‹Es ist zwar abgemacht, dass ich heiraten soll, und sie ist auch hübsch, die Verlobte, die sie mir gegeben haben, aber noch niemals habe ich mehr als eine körperliche Regung empfunden, wenn ich an Frauen dachte. Dennoch: Diese hier – wenn ich in ihre bernsteinfarbenen Augen sehe, dann möchte ich diese Frau lesen wie ein Buch. Ich will wissen, was sie denkt und fühlt. Ich bin eifersüchtig auf die Geheimnisse, die sie mir vorenthält, auf das Leben, das sie ohne mich geführt hat, ja sogar auf ihre Schwestern. Carolus, Carolus! Denk an deine ärztliche Pflicht!›
Danielle sah in seine grauen Augen und fühlte sich, als versinke sie in tiefem Wasser. Keinem von beiden fiel es auf, dass sie seit einer guten Viertelstunde kein Wort gesprochen hatten. Die Geräusche aus der Küche, das Hämmern und Klopfen vom Dach, das Schwatzen und Lachen aus der Weberei, das Summen der Bienen in den Blüten – das alles hatte sich von ihnen entfernt und hatte einer samtigen, weichen Taubheit Platz gemacht.
Carolus kam jetzt alle zwei oder drei Tage. Sein Ehrgeiz sei geweckt, hatte er zur Infirmaria gesagt; er mache gewisse Fortschritte, zu Juliana. Doch es waren nur winzige Bruchstücke, die Danielle ihm hinwarf wie die Scherben einer in feinste Teile zerschlagenen Vase, die niemand mehr zusammensetzen kann.
«Wovor fürchtet Ihr Euch am meisten?», hatte er sie gefragt.
«Ich fürchte mich nicht.»
«Das ist nicht wahr. Jeder fürchtet sich vor etwas: Vor Wasser? Nein? Vor Feuer? Vor Spinnen? Vor Schmerzen?»
«Jeder fürchtet sich vor Schmerzen. Aber jetzt, in diesem Augenblick – welchen Grund hätte ich dazu?»
«Und wenn Ihr wieder auf die Straße müsstet? Fürchtet Ihr die Unsicherheit, den Hunger?»
Sie dachte nach. «Nein», erwiderte sie dann. «Ich wünsche es mir nicht. Aber Hunger ist nicht zum Fürchten. Und an die Unsicherheit kann man sich schnell gewöhnen. Man wird wie ein Blatt, das auf einem Fluss dahingetrieben wird. Man hört auf, vorauszuplanen, und setzt einfach einen Fuß vor den anderen.» Ihr Blick ging jetzt durch ihn hindurch. «Man glaubt immer, man brauche dieses und jenes und macht sich Sorgen um tausend kleine Dinge. Aber am Ende braucht man so wenig. Es genügt, einfach zu laufen und zu schauen.»
Sie war so kühl, so gelassen. Er konnte es nicht glauben und bohrte weiter.
«Aber es muss doch etwas geben, wovor Ihr Angst habt!»
Eine gesichtslose Menge stand ihr vor Augen.
«Vor Menschen», sagte sie.
«Vor welchen Menschen? Doch nicht vor mir? Vor Euren Mitschwestern hier, den guten Beginen?»
«Vor vielen Menschen zusammen fürchte ich mich, vor der vielköpfigen Bestie. Wer die nicht fürchtet, ist ein Narr.»
«Das bringt mich nicht weiter», verzweifelte Carolus. ‹Es muss damit zusammenhängen, was ihr zugestoßen ist. Aber immer wenn ich daran rühre, steht sie einfach auf und geht fort.› Wenn sie nicht sprach, dann redete er über sich selbst, nur damit sie bei ihm blieb.
«Ich bin in Pertuis geboren. Ich habe drei Schwestern, alle älter als ich», erzählte er.
«Die haben Euch sicher nach Strich und Faden verwöhnt», sagte Danielle.
Carolus lachte, gar nicht verlegen. «Ja, ein wenig verzogen war ich sicher, als einziger Sohn und als Nesthäkchen. Mein Vater war Arzt und wollte, dass ich ihm in seinem Handwerk folge. Darum und um mich von den Schürzenzipfeln loszumachen, hat er mich zum Studium in den Norden geschickt. Ich wäre lieber nach Bologna gegangen. Aber es musste Paris sein, weil er dort einen Kollegen hatte, bei dem er mich unterbringen konnte.» Wieder dieses Zusammenzucken, dieses kurze Aufleuchten in ihren Augen. Paris. Da musste etwas gewesen sein. Er würde seinem Studienfreund schreiben.
«Ich habe mich dort nie recht wohl gefühlt. Mein Vater hoffte, ich könnte als Hausarzt in einem reichen Hause unterkommen, aber ich hätte nicht dort im Norden leben mögen.»
«Die Sommer dort können sehr angenehm sein. Nicht so unbarmherzig wie hier. Alles bleibt grün und verbrennt nicht so wie bei uns. Die Sonne dort ist heiter, nicht grausam. Die Nächte sind lau. Es gibt so viele Ablenkungen, und die Stadt ist wunderschön, wenn nachts die Öllampen in den Fenstern brennen. Aber die Winter in Paris sind grausam. Die Seine friert vom Rand her zu. Am Ufer und an den Pfeilern der Brücken bilden sich Zähne aus Eis. Der Stein ist so kalt. Überall ist Stein», sagte sie und verstummte dann.
«Ihr wart also dort, wo habt Ihr gelebt, was habt Ihr dort getan?»
Danielle zuckte die Achseln. Immer versuchte er sie auszuhorchen. Paris lag so weit hinter ihr. Sie war nicht mehr dieselbe Person, die in Paris gelebt hatte. Es hatte keine Bedeutung mehr.
»Bitte tut mir einen Gefallen, ja?», versuchte er es erneut.
«Was soll ich machen?» Wachsam. Immer wachsam und misstrauisch.
«Nichts, wovor Ihr Euch fürchten müsstet! Schließt die Augen.» Sie tat es und blinzelte dabei.
«Nein, schließt sie ganz und lasst sie geschlossen. Ich verspreche, ich werde Euch nicht berühren. Wenn Ihr wollt, werde ich Euch nicht einmal anschauen dabei. So ist es gut. Atmet ganz ruhig und tief!» Wenn die Vernunftseele in der Lunge wohnt, so dachte er sich, dann wird sie wohl besser arbeiten, wenn man ihr Luft und Ruhe gibt. «Und jetzt denkt ‹Paris›. Denkt an einen Raum, wie sieht er aus?»
Ein heller Raum, ein gemalter Fries, kostbare Teppiche, Regale voller Pergamentrollen an den Wänden, ein Schreibpult, ein großer, langer Tisch auf niedrigen Beinen. Instrumente liegen darauf und ein menschlicher Knochen. Nein, halt! Das ist nicht wahr, ein Trug, es ist vorbei. Ich will das nicht sehen. Sie riss die Augen auf.
«Was habt Ihr gesehen? Beschreibt mir den Raum!»
«Hell, groß, zwei Stühle, ein Tisch.»
Carolus seufzte. Es war zum Verzweifeln. «Wie sieht der Tisch aus? Liegen Gegenstände darauf?»
«Da liegt nichts.» Zum ersten Mal glaubte er ihr nicht. Er begann von Paris zu erzählen, um ihre Erinnerung in Gang zu bringen, von der Universität, doch da wurde ihr Blick kühl und gelangweilt. ‹Das kennt sie nicht›, dachte er, ‹woher auch.›
Er brachte ihr Dinge mit, einen Ritterroman, den er von einer seiner Schwestern entliehen hatte. Es war ein schönes Buch mit vielen Bildern, in hellblaues Leder gebunden und mit goldenen Initialen. Sie kannte es nicht, ebenso wenig wie die Stundenbücher, Heldensagen, den «Roman der Rose» oder irgend sonst etwas, das seine Schwestern mit so viel Begeisterung verschlangen.
‹Sie kann, mag aber nicht lesen›, sagte er sich und verspürte einen kleinen Stich der Enttäuschung. Er hatte sich immer eine kluge Frau gewünscht, eine, mit der er sich unterhalten könne. Seine Verlobte konnte lesen, schreiben und rechnen. Darauf hatte seine Mutter den größten Wert gelegt.
Er brachte ihr ein geflecktes Kätzchen mit und beobachtete entzückt, wie sie sich zu dem Tier in den Staub hockte. Ihr Ernst, ihre Gleichgültigkeit, ihre Härte waren für den Augenblick vergessen. Sie holte ein Ende Wolle aus der Weberei und ließ das Tierchen danach springen. Als es müde war, legte sie es in ihren Schoß und streichelte es selbstvergessen. Doch bei seinem nächsten Besuch hatte sie es nicht mehr bei sich.
«Wo ist das Katzentier?», fragte er.
«Ich habe es Annik gegeben. Es kann sich in der Küche und auf dem Speicher nützlich machen.» Das war nur vernünftig, sagte er sich. Aber ganz hinten in der unaufgeräumtesten Ecke seiner Gedanken regte sich etwas und sagte: ‹Warum kann sie nicht wie andere Frauen sein, weich und liebevoll, schnell gerührt von allen kindlichen Wesen? Warum ist sie so hart und widerspenstig?›
Er brachte ihr Dinge zu essen und zu trinken mit, auch destillierte Düfte und hoffte, damit eine Erinnerung hervorzulocken. Er verband ihr die Augen mit einem seidenen Tuch.
«Kostet!», sagte er.
«Ist es süß oder sauer?», fragte sie. «Ich mag es nicht, wenn ich das nicht vorher weiß.»
«Süß», sagte er und steckte einen Holzspatel mit Honig zwischen ihre vorsichtig geöffneten Lippen. Sie schmeckte, leckte sich die Lippen, volle Lippen, die noch mehr an reife Früchte erinnerten, wenn sie feucht waren. Er konnte den Blick nicht abwenden.
«Es ist Akazienhonig», stellte sie fest. «Ich erinnere mich, dass ich in meiner Kindheit einen anderen Honig gekostet habe. Er war bitterer, kräftiger. Honig aus der macchia.»
«Macchia?»
«Das wilde Land, wo Oleander wächst, Zyklamen, Myrten, Zistrosen, Korkeichen und Schirmpinien. Die Hirten flämmen es von Zeit zu Zeit, damit Gras wachsen kann. So wachsen nur wenige Bäume hoch. Meist ist es niedriges Gestrüpp.»
Ein Land aus Licht, knorrige Korkeichen, deren winzige, harte Blätter die Sonnenstrahlen durchlassen bis zum Boden. Graue Riesen mit dicker Borke, die an Brotkruste erinnert, auf den Wiesen kniehoch die Kräuter und wilden Blumen. Ein Schäfer sitzt im Gras bei seiner Herde, ebenso graubraun wie die Eiche, an die er sich gelehnt hat, wie das Gras, reglos, fast unsichtbar.
Zio Franco hält sie an der Hand und zeigt auf eine niedrige Trockensteinmauer. Lass dich nicht auf einer Mauer nieder, bevor du nicht weißt, was darin verborgen ist. Er dreht mit dem Stock einen flachen Stein um, und siehe: Darunter wimmelt ein Nest kleiner Schlangen.
«Ah! Bei uns heißt das garrigue. Aber hier gibt’s keine Schirmpinien und Korkeichen, davon habe ich nur gehört, aber nie eine gesehen. Hier gibt es Aleppopinien, Grüneichen, Ginster, Salbei und Thymian. Habt Ihr in so einer Heide gelebt? Wo war das? Wann? Waren Eure Eltern Bauern oder Landbesitzer?»
Wieder eine Sackgasse. Er sann auf einen neuen Reiz.
«Süß.» Er steckte ihr ein Stück Gebäck in den Mund.
«Susamelli. Aber mit einem Geschmack, den ich nicht kenne. So etwas habe ich noch nie gekostet.»
«Es ist Gewürzkuchen aus Belgien, mit Zimt, Muskat und Nelke.»
«Nein, so kenne ich das nicht.»
«Dieses ‹susamelli›, wie schmeckt das?»
«Nach Honig und Mandeln, nach Zitronenschale.»
«Und weiter? Denkt an diese … susamelli: Könnt Ihr sehen, wer sie gemacht hat, erinnern sie Euch an eine bestimmte Person? An eine Gelegenheit, zu der Ihr sie gegessen habt?»
La nonna Alba, Großmutter Alba. Dünn und länglich, als wäre sie aus Pastateig und man hätte eine dickere, kleinere Person in die Länge gezogen: Ein schmales Gesicht, eine lange Nase, lange, dünne Arme und lange, schmale Finger, die flink den Teig kneten, ihn rollen und wieder kneten. Es duftet nach gerösteten Mandelsplittern und nach Zitronenschale. Sie reicht knapp bis über den Tischrand und schaut der Nonna beim Backen zu. Großmutters Küche ist ein geschützter Ort voller Zauber. Es ist warm hier und riecht gut. Die älteren Brüder dürfen sie hier nicht ärgern. Niemand wird sie hier schelten, böse mit ihr sein, etwas von ihr verlangen. Hier muss sie keine Ansprüche erfüllen oder Regeln befolgen, um liebgehabt zu werden. Nonna Alba ist die Liebe und die Zuflucht selbst. Sie wünscht sich, sie könnte immer hier sein, an diesem Ort, in diesem Augenblick. Nonna Alba singt beim Teigausrollen und gibt ihr zwischendurch ein paar geröstete Mandeln. Sie wird eine Geschichte erzählen, während die Plätzchen backen, und dann werden sie die susamelli heiß essen, frisch aus dem Ofen. Nur sie beide, ohne die Brüder.
«Und? Ist Euch etwas eingefallen?»
«Nein.» Großmutter Alba gehörte ihr allein. Sie würde sie nicht herausgeben. Unmöglich, es auch nur zu denken. Die kostbare Erinnerung müsste verblassen und ihren Zauber verlieren, ein für alle Mal, wenn man sie ans Licht brächte, unter fremde Augen, die sie nicht riechen und schmecken und fühlen können. Was könnte denn dieser freundliche, schöne, aber doch fremde Mann damit anfangen? Nichts! Worte waren zu schal dafür.
«Susamelli werden überall im Süden gemacht, denke ich, und jede Frau hat ihr eigenes Rezept. Aber ich habe vergessen, wie das geht.»
Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.
«Etwas zu trinken. Süßsauer.» Er setzte einen Becher an ihre Lippen und gab ihr Apfelwein zu trinken. Er beobachtete ihre Kehle, die leicht gebräunte Haut, wie sich der zierliche, kaum sichtbare Kehlkopf bewegte, als der Schluck herunterrann.
«Es ist Cidre. Das wird im Norden viel getrunken, wo sie keine Trauben haben. Er wird aus Äpfeln gemacht – im Herbst.»
Herbst, kalte Morgen, nasse Tage, verrottendes Laub, die Sonne, die an Kraft verliert … «Wir haben Wein getrunken, keinen Cidre.»
Carolus seufzte und versuchte es wieder mit Düften. Er schaute sich um und griff das Naheliegende, bückte sich und zerrieb eine Kamillenblüte zwischen seinen Fingern.
Sie neigte den schlanken, langen Hals, sog das bittersüße Aroma ein – richtete sich auf und saß ganz still. Ihre Augen waren in die Ferne gerichtet.
Ein Mann sitzt am Straßenrand. Er sitzt auf einem Stein inmitten des verwelkten Grases im fahlen Winterlicht. Raureif weißelt die gezackten Ränder der Gräser, die braunen Samenkapseln, die Grannen des wilden Korns und die zusammengerollten, vertrockneten Blätter. Sie läuft gen Süden, folgt der Straße, ohne nachzudenken, ohne Ziel. Es geht sich besser jetzt, da die ersten Fröste den Schlamm gefestigt haben. In den Wagenspuren haben sich Eiskrusten gebildet, die sie meidet, weil sich darunter noch schlammiges Wasser befindet. Ihre Schuhe sind verschlissen. Das Oberleder ist rissig, die Sohlen haben Löcher.
Als sie näher kommt, erkennt sie, dass es ein alter Mann ist, ein Bettler, wie sie. Er hat sich auf diesem Stein zum Bleiben eingerichtet. Ruhig sitzt er da, die Hände auf dem knotigen Griff seines Wanderstocks gefaltet, und wartet.
Sie wechselt die Straßenseite, bleibt vor ihm stehen. «Kann ich dir helfen, Väterchen?» Er hebt die Augen, lächelt ein Winterlächeln, matt und wissend. So trübe seine Augen auch sein mögen, so ist doch ein Schleier fortgezogen worden. Er sieht mit völliger Klarheit, und sein Blick sagt ihr, dass sie ihn nicht trösten noch aufmuntern kann. Die Zeit der Wünsche und Hoffnungen ist vorüber.
«Niemand kann mir helfen. Aber Gott segne dich dafür, dass du angehalten hast meinetwegen.»
«Was ist mit dir?», beharrt sie. «Kannst du nicht weiter? Hast du Hunger? Willst du ein Stück Brot?» Sie nestelt aus ihrem zerschlissenen Umhang einen alten Kanten, den sie sich aufgehoben hat für den Moment, da der Hunger schmerzen wird.
«Behalt dein Brot. An mich ist es verschwendet. Ich sterbe ohnehin.»
Sie ist empört. «Aber doch nicht hier! Nicht so, am Straßenrand.»
Er lacht, stoßartig, kurz und pfeifend. «Warum nicht? Auf der Straße hab ich gelebt, auf der Straße werd ich sterben.»
«Einfach so?»
«Einfach so. Ich kann nicht weiter. Also bleibe ich hier hocken, bis ich umfalle. Lang wird’s nicht dauern.»
Damit gibt sie sich nicht zufrieden. Nicht eher gibt sie Ruhe, als bis sie einen besseren Platz für ihn gefunden hat.
«Warte!», sagt sie.
Er grinst schlau: «Ich geh nicht weg.»
Sie verschwindet, kommt wieder: «Ich habe eine leere Schäferhütte gefunden, nicht weit von hier. Da kannst du dich hinlegen. Das ist doch besser, oder nicht? Es wird bald regnen.»
Er schüttelt den Kopf, dass jemand sich so viel Mühe seinetwegen macht. Aber er lässt sich hochziehen, da es ihr wichtig zu sein scheint. Sie legt seinen Arm um ihre Schultern und schleppt ihn zu der Hütte. Mit Gras macht sie ein Lager für ihn, sucht Holz, macht ein Feuer.
«Tut das nicht gut? Ist das nicht besser?»
Ein angeschlagener Topf findet sich in einer Ecke. Sie reibt ihn mit Sand aus, schmilzt Schnee über dem Feuer, kocht ein paar verwelkte Kamillen darin.
Er trinkt in kleinen Schlucken. Sie taucht den Brotkanten ein, und sie essen ihn.
«Du bist keine von uns», stellt er fest.
«Wie – von uns?»
«Keine berufsmäßige Bettlerin. Dir fehlt es an Gelassenheit. Du wehrst dich gegen das Schicksal. Das ist nicht gut. Es macht es dir nur unnötig schwer.»
Sie schweigt, denkt, dass sie doch nichts anderes tun kann als laufen, laufen.
«Du glaubst noch, dir gebühre etwas Besseres.» Sein spöttisches Lachen geht in Husten über.
«Jedem gebührt etwas Besseres als das! Jedem Menschen!»
Er ist ein alter Bettler. Was weiß er schon? Doch er hat sie durchschaut. Am Morgen ist er tot. Sein Gesicht sieht friedlich aus. Die Erde ist gefroren, sie kann ihn nicht begraben, hat auch kein Werkzeug dazu. Sie geht weiter, gen Süden.
Tränen liefen über ihr Gesicht.
«Was habt Ihr gesehen? Ihr habt Euch an etwas erinnert, ich sehe es genau!»
«Ach, es war nichts. Nur ein alter Mann, der gestorben ist. Ich habe ihn nicht einmal gekannt.»
«Irgendwo an der Straße. Irgendwann im Winter. Ich weiß es doch nicht!»
Die Erinnerungen kamen häufiger jetzt. Sie bemühte sich darum, sie vor ihm zu verbergen. Ja, sie bemühte sich darum, sie vor sich selbst zu verbergen. In den Erinnerungen zu baden, das war wie eine üble Sucht, als ob man den Drang verspürt, an einem Schorf zu kratzen, auch wenn die Wunde darunter dann von neuem aufreißt und das Blut hervorschießt.
Carolus trocknete ihre Tränen und kam sich schlecht vor, weil er sie zum Weinen gebracht hatte.
Calixtus war inzwischen zu einem Punkt auf dem Dach vorgerückt, von dem aus er eine bessere Einsicht in den Garten hatte. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Carolus mit seinem Taschentuch Danielles Gesicht betupfte. Es lag etwas Zartes darin, ein wenig mehr, als es die Fürsorge des Arztes für die Patientin erforderte. War das noch anständig? Sollte er eingreifen, sich bemerkbar machen? Und saßen sie nicht ein wenig zu nahe beieinander? ‹Ach was›, sagte er sich. ‹Du wirst noch so verbiestert wie Abbé Grégoire, der Frauen nachgerade verabscheut.› Da kam auch die alte Alix um die Ecke der Weberei geschlurft. Calixtus griff nach der Axt an seinem Gürtel und begann das neue Balkenstück einzupassen.
Unten auf der Bank wechselte Carolus den Ton, erzählte von den Einbildungen seiner Patienten und von abstrusen Kuren. Von der Patientin etwa, deren Schwermut angeblich mit keinem anderen Mittel zu heilen war als mit dem Muschelkonfekt aus der Apotheke, das aus Zucker und gestampften Mandeln bestand. Von der Frau, die bei Vollmond zum Fluss gegangen war, um einer Trauerweide ihre Warzen anzuhexen, und sich dabei einen Dauerschnupfen geholt hatte. Von dem Alten, der sich von einem Quacksalber ein Haarwuchsmittel hatte bereiten lassen, das er aber vorsichtshalber erst seinem Hund auftrug, der davon prompt kahl und räudig wurde. Von der jungen Frau, die die Heilige Jungfrau um einen Mann gebeten hatte und später behauptete, die habe es falsch verstanden und ihr ein Kind geschickt.
Danielle! Wie sich ihr Gesicht veränderte, wenn sie lachte! Ihr Lachen kam ihm vor wie die ersten Sonnenstrahlen nach einem schweren Regen, wenn alles glänzt und funkelt, der erste richtige Frühlingstag nach dem Winter. Ihre Züge belebten sich. Sie vergaß ihr Misstrauen und rückte auf der Bank näher an ihn heran, so nah, dass er die feinen goldenen Härchen auf ihrer Oberlippe sah und durch ihr hässliches, formloses Kleid ihren Duft wahrnahm.
Alix schlappte heran. «Na, ihr junges Volk, was gibt es denn zu lachen?»
«Das wird dir gefallen, Alix», lachte Danielle. «Er hat gerade erzählt, wie er einem Patienten mit Husten aus Versehen ein Kraut gegen Verstopfung mitgegeben hat!»
«Und, was ist passiert?»
«Als ich den Mann das nächste Mal getroffen habe», erzählte Carolus grinsend, «da habe ich ihn gefragt, ob er noch so viel hustet. Nein, hat er gesagt. Ich trau mich nicht mehr.»
Alix brüllte los wie eine Waschfrau, laut und mit weitgeöffnetem Mund, sodass man ihre braunen Zahnstumpen sah.
«Haaaa-ha-ha!» Sie schlug sich auf die Schenkel. «Das ist gut! Das ist wirklich gut! Dann hat es ja gewirkt! Haaa-ha-ha!»
Sogar Calixtus auf dem Dach musste lächeln, obwohl er gar nichts verstanden hatte.
«Au, verflixt!», schrie in diesem Augenblick Magdalène.
«Das kommt davon, wenn man nicht hinschaut, was man tut!»
Danielle sprang auf und lief zu ihrer Freundin. Carolus folgte ihr. Magdalène hatte die Schüssel mit den geputzten und geschnittenen Pastinaken fallen lassen. Sie hielt sich den linken Arm und saugte daran.
«Lass sehen», befahl Carolus.
Es war nur ein winziger Schnitt, der kaum blutete. Das Küchenmesser lag auf der Erde, neben den verschütteten weißen Rübenstücken.
«Ich habe nach euch geschaut, warum ihr so schrecklich gelacht habt, und dabei weiter Rüben geschnitten. Da bin ich wohl abgerutscht und habe mich mit dem Messer geritzt. Es ist nichts. Nur ein winziger Pikser.»
«Ja, aber wasch ihn trotzdem gut aus», mahnte Danielle.
Annik kam aus der Küche gerannt und sah die Bescherung: «Ach herrje! Die schönen Rüben. Sieh nur, was du gemacht hast. Jetzt sind sie alle voller Sand! Wer soll denn das essen!»
«Nun hör schon auf zu zetern, Annik! Sie war doch nur einen Augenblick unaufmerksam», sagte Danielle.
«Man soll seiner Arbeit die ganze Aufmerksamkeit schenken und sonst an gar nichts denken! Unaufmerksamkeit hat das Schiff versenkt, hat meine Mutter selig immer gesagt. Die schönen Rüben!»
«Ich gehe sie waschen», sagte Danielle, las die Rüben wieder in die Schüssel und ging damit zum Brunnen.
Carolus betrachtete ihren Rücken und kam sich überflüssig vor. Er ärgerte sich. So kurz war er davor gewesen, da war er sich ganz sicher. Noch nie hatte sie ihre Vorsicht und Zurückhaltung so weit vergessen. Sie hatte geweint! Er hatte sie zum Lachen gebracht. Und – oh – was für ein Lachen das war! Wie schön sie war, wie warm, wie lebendig! Einen winzigen Augenblick lang hatte sie ihn durch einen Spalt blicken lassen, auf eine andere Danielle, eine, die leben und lieben konnte, auf die Frau, die er bei sich haben wollte, ja, bis ans Ende seiner Tage. Nur ein Traum. Hatte sie ihn überhaupt wahrgenommen? Jetzt schien er nicht mehr zu existieren für sie. Still drehte er sich um und ging.
«Worüber habt ihr denn heute geredet?», fragte Magdalène ganz harmlos am Abend beim Zu-Bett-Gehen.
«Über Honig. Über einen alten Mann. Über Paris», murmelte Danielle, wenig mitteilsam, selbst ein wenig erschrocken darüber, dass sie heute Nachmittag all ihre Vorsätze vergesen hatte – für eine kurze Weile.
«Über Paris?»
«Ja. Er hat dort studiert.»
«Ah! Er soll ja ein guter Arzt sein. Und er sieht so blendend aus, findest du nicht?»
«Ich bin nicht interessiert an Männern. Es ist mir ganz gleich, wie er aussieht. Wie oft muss ich es dir noch sagen?», wies Danielle sie ab.
«Man könnte den Eindruck bekommen, Magdalène, du wolltest Danielle mit diesem Mann verkuppeln», bemerkte Garsende spitz. «Und das hier, wo wir doch alle keusch leben wollen! Das gehört sich nicht!»
«Ich? Ich mache gar nichts. Ich frage doch nur.»
«Oh, hört schon auf zu schwatzen! Wir wollen einschlafen», murrten die anderen.
«Ich nicht! Ich will wissen, ob da etwas ist zwischen Schwester Danielle und Carolus!», kicherte eine.
«Gar nichts ist da!»
«Psst! Schlaf endlich!»