Die Flügel des Engels waren weiß. Die Tauben hatten sie ihm eingefärbt. An den Füßen trug er dicke, weiche Schuhe aus Moos. Wer ihn gemacht hatte, das wusste niemand mehr. Er war klobig und grobschlächtig, etwa eine Armlänge hoch und hatte im Ganzen eine Figur wie ein Baumstumpf. Da stand er auf einem Gefäß, das ein Pokal, aber auch eine Urne gewesen sein konnte, und wies mit seiner Rechten zum Erdreich hin. Der Sage nach war er es gewesen, der einem Hirten an dieser Stelle eine Quelle gezeigt hatte. Um diese ergiebige Quelle herum hatte sich die erste Siedlung auf dem Hügel oberhalb des Überschwemmungsgebietes der Durance gebildet. Um diese Quelle herum war Pertuis entstanden. Der Engel hatte dem Platz seinen Namen gegeben. Von seinem erhabenen Platz aus, mitten im Brunnenbecken, hatte er vieles gesehen und vieles gehört: friedliches Markttreiben und Feilschen, Streit, zerbrochene Krüge und Hoffnungen, Arbeit und Hast, Menschen, die andere Menschen in Ketten vorbeiführten. Der Anblick brennender Menschen und Katzen, der Anblick der Unglücklichen am Pranger blieb ihm erspart. Galgen und Scheiterhaufen wurden auf dem Marktplatz vor dem Schloss errichtet.
Es waren vor allem die Frauen, denen er zuhörte, Frauen, die Wasser holten, Mägde, einfache Bürgerinnen, arme Weiber. Und wenn er ihren Streitereien lauschte – dass dieser Vorrang gebührte, weil sie einem der bessergestellten Häuser diente, oder jener, weil sie wegen ihres Alters den Respekt der Jüngeren verdient hatte –, dann hätte er nachsichtig gelächelt, wenn es ihm seine steinernen Züge erlaubt hätten.
Vielleicht floss die Quelle reichlicher von seinen Tränen, wenn er die Bosheiten und Intrigen anhören musste, die Frauen dort am Brunnen ausheckten und spannen. Niemals hätte er der Aussage zugestimmt, die Weiber seien schwach und von Natur aus friedfertiger als der Mann. Aber natürlich: Niemand fragte ihn.
«Oh, liebe Catherine, du Gute! Wie duldsam und sanftmütig du bist. Das ist zu bewundern», sagte die Wollweberin Aneta, die mit den anderen Frauen nach Wasser anstand an diesem Morgen. Catherine oblag es, den Vidal’schen Haushalt zu überwachen, da Laura hochschwanger und unpässlich war. Sie hatte sich dazu entschlossen, mit den Mägden zum Brunnen des Engels zu gehen an diesem Morgen. Sie musste zwar das Wasser nicht selbst nach Hause tragen, doch sie nahm gern die Gelegenheit zu einem kleinen Spaziergang in der Morgenfrische wahr und traf Bekannte.
Catherine zog die Augenbrauen hoch.
«Ja, ist sie nicht verehrungswürdig, eine Heilige fast? Catherine, ach, arme Catherine, wie schmerzt es mich zu sehen, dass dein Vertrauen so schmählich hintergangen wird!», fuhr Aneta fort.
‹Oh, wie plump und doch immer wieder wirksam›, dachte der Engel. ‹Menschliche Schliche! Niemand wird gern auf diese Weise bemitleidet, denn eine jede versteht, was damit gemeint ist: Schau nur, wie dumm du bist, wie schwach. Man kann alles mit dir machen! Und wer es mit sich machen lässt, der hat es nicht anders verdient.› Das meinten sie doch, nicht wahr? Der Engel wäre gern beweglicher gewesen; ach, wie sehr wünschte er sich wenigstens eine Stimme. Er witterte den bösen Gestank seines alten Feindes.
«Catherine, du solltest vielleicht doch darauf dringen, dass aus dieser Verlobung endlich eine Hochzeit wird, sonst geht er dir durchs Netz», warnte Aneta.
Da hielt es Catherine nicht mehr aus. «Wovon redet Ihr, Frau Nachbarin?», fuhr sie die Wollweberin an.
«Nun, von Eurem Verlobten. Wisst Ihr es etwa nicht?» Allseits mitleidiges, entsetztes Zungenschnalzen und Kopfschütteln.
«Die Gute. Natürlich ist sie die Letzte, die es erfährt!», flüsterte eine Magd, die dabeistand.
«Was? Was ist vorgefallen?!» Catherine wurde ungeduldig.
«Ach, das sollte Euer Herr Verlobter Euch vielleicht doch besser selber sagen. Es steht uns nicht an, uns in Liebesdinge zu mischen.»
«Ihr habt Andeutungen gemacht, jetzt sprecht es auch aus!», forderte Catherine. Ihre Mägde wandten sich ab und kicherten heimlich. «Heraus damit oder seid still!», schrie sie.
«Dann wisst Ihr es tatsächlich nicht? Dass der Herr Carolus und diese Bettelbegine …», sagten die Mädchen.
«Dass sie was?!»
Die Frauen rückten näher zusammen. Diejenige, die gerade an der Reihe war, ihren Krug unter dem Speier zu füllen, vergaß ihn, das Wasser quoll über den Rand und floss ins Brunnenbecken zurück.
«Der Herr möge mir vergeben, aber es ist mir ganz unmöglich, diesem Treiben länger schweigend zuzusehen. Ich muss es Euch offenbaren: Der Medicus trifft sich beinahe täglich mit dieser Begine, dieser Danielle.»
«Nein!», rief es und: «Oh, doch, allerdings!», antwortete die Sprecherin. «Sie sitzen beieinander im Garten dieses sogenannten Konvents – Konvents! Als ob es ein Kloster wäre! – und halten Händchen! Ich habe es selbst gesehen!» Sie ließ vorsorglich unerwähnt, dass die Beobachtung sie erhebliche Mühe gekostet hatte. Man konnte nämlich nur aus einer Luke ihres Dachbodens in den Garten von Sainte Douceline einsehen, und dann auch nur, wenn man sich gefährlich weit aus dem Fenster beugte.
«Ja, es ist eine Schande! Mein kleiner Bertrand hat es auch gesehen!» Bertrand war der Rotzbengel, der regelmäßig auf die Mauerkrone hinter dem Stall kletterte, in der Hoffnung, eine dieser geheimnisvollen Frauen unbekleidet zu sehen.
‹Was versteckt ist, reizt die Menschen umso vieles mehr, als das, was offen unter ihren Augen vor sich geht›, dachte der Engel. ‹Seit der Vertreibung aus dem Paradies haben sie sich nicht sehr geändert.›
Catherine war ihnen auf den Leim gegangen und vergaß jegliche Würde. «Sie sitzen im Garten und halten Händchen? Ist das auch wirklich wahr?»
«Ja! Es ist wahr, bei meiner Seele!»
«Ich hab es auch gesehen – na ja, fast.»
«Beinahe jeden Tag sieht man den Herrn Medicus bei den Beginen ein und aus gehen!»
«Warum auch nicht. Er arbeitet ja aus Nächstenliebe in ihrem Hospital.» Catherine beruhigte sich wieder.
«Und dazu bringt er Musikanten mit? Ins Hospital?»
«Und bringt er den Kranken neuerdings Rosen?» Eine der Frauen kicherte boshaft.
«Rosen?!»
«Ach, so einen Arztbesuch wünsch ich mir auch mal!»
Catherine lief rot an im Gesicht, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte mit solch finsterer Miene durch die Gassen, dass man unwillkürlich vor ihr zurückwich. Die beiden Mägde mit den vollen Wasserkrügen folgten in gemächlicherem Tempo. Die eine genoss das Unglück ihrer Herrin, die andere war ehrlich empört: «Das kommt davon, wenn man diesen Frauen erlaubt, ohne jede Aufsicht zusammenzuleben! Es ist einfach nicht schicklich! Was wäre, wenn das jede täte?!»
«Ich werde ihn zur Rede stellen! Er macht mich zum Gespött der ganzen Stadt!», rief Catherine, als sie zu Hause angekommen war.
Laura lag auf einer gepolsterten Bank, eine mit Werg gestopfte Rolle unter den Knien. Tapfer bemühte sie sich zu sticken.
«Ach, Catherine! Nun mach doch nicht so ein Geschrei! Carolus tut nichts Unrechtes. Er behandelt diese arme Frau, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat. Weiter nichts.»
«Du weißt davon?»
«Ja, und ich dachte, du wüsstest es auch. Es ist doch gar nichts dabei. Er ist Arzt. Er behandelt eine Kranke, Catherine! Und jetzt sei doch so gut und massiere mir ein wenig die Füße, bitte, Liebes! Niemand kann das so gut wie du. Wenn es doch nur schon so weit wäre. Wenn ich gewusst hätte, dass Schwangerschaften so scheußlich sind, dann hätte ich mir das noch einmal überlegt mit dem Heiraten!»
«Das meinst du nicht wirklich.»
«Nein, natürlich nicht. Ich liebe Marius. Aber jedes Jahr schwanger sein und unförmig anschwellen und watscheln wie eine Ente, das möchte ich nicht.» Sie ließ den Stickrahmen sinken. «Ach, ich weiß gar nicht, wie ich die Stickerei halten soll über diesem Bauch! Ich habe gehört, dass manche Frauen geradezu aufblühen, wenn sie schwanger sind, und es gern haben, aber auf mich trifft das bestimmt nicht zu!»
«Dann überzeugst du ihn lieber davon, eine Josefs-Ehe zu führen.»
«Damit wird er wohl nicht einverstanden sein, fürchte ich. Es ist hart genug für ihn jetzt …», sie lächelte verschämt. «Ich muss mich ja glücklich schätzen, dass er sich in dieser Zeit keine andere nimmt.»
«Kinder zur Welt zu bringen, das ist nun einmal das Los der Frauen», sagte Catherine altklug. Sie selbst mochte sich das allerdings nicht vorstellen. Rasch verdrängte sie den unangenehmen Gedanken und brachte sich dazu, den Tratsch zu vergessen, doch als sie das nächste Mal zu den Beginen ging, um Spenden zu bringen, da konnte sie nicht umhin, Danielle argwöhnisch zu mustern.
Sie war nicht hübsch, oder doch? Ach nein, sie war viel zu gewöhnlich, wie sie dort im Garten arbeitete, die Hacke führte wie ein Bauer, Schweiß auf der Stirn, Dreck an den Händen. Aber sie war schlank und hochgewachsen. Ihr Profil war klar und ebenmäßig, die Lippen leicht aufgeworfen wie Rosenblätter. Aber der Mund war viel zu groß! Das Tuch war ihr in den Nacken geglitten und gab den Blick auf volles, glänzendes Haar frei – kurz, immer noch, aber von einem tiefen Schwarzbraun wie der Pelz eines Zobels. Nein! Es konnte nicht sein. Carolus und sie kannten sich schon so lange. Sie waren sich seit der Kindheit versprochen, stammten beide aus den besten Familien der Stadt.
Danielle blickte von ihrer Arbeit auf und sah Catherine dort stehen. Ihre Blicke trafen sich. Und rasch, ein wenig zu rasch, senkte Danielle die Lider. Hatte sie etwas zu verbergen? Was ging hier vor?
‹Wie kann ich Carolus nur danach fragen?›, überlegte Catherine. ‹Carolus, sag, ist etwas zwischen dir und dieser Italienerin, der Begine, du weißt schon?› – Nein! ‹Carolus, ich habe gehört, du behandelst eine der Beginen …› Ach nein. ‹Carolus, wollen wir nicht endlich heiraten?› Nein, den Vorschlag musste er schon machen. Er kam seltener dieser Tage, und wenn er kam, schien er geistesabwesend. Er unterhielt sich mehr mit Marius als mit ihr. Ja, mehr als einmal behandelte er sie wie eine Verpflichtung, derer er sich womöglich gern entledigt hätte. Etwas war falsch, ganz und gar falsch zwischen ihnen. Jetzt wurde ihr das klar.
‹Vielleicht habe ich ihn auch zu selbstverständlich genommen, mir zu wenig Mühe gegeben›, dachte Catherine. ‹Will ich ihn denn haben? – Aber ja! Er gehört mir. Ich lasse mir doch von so einer den Mann nicht ausspannen!› Und sie beschloss, die Dinge zu beschleunigen, die sie so lange hatte schleifen lassen. «Laura, Liebes, wie geht es dir heute? Besser?» Sie setzte sich zu ihrer Schwester aufs Bett und strich ihr eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. «Du Arme! Wie muss dir die Zeit lang werden. Meinst du, wir sollten uns Gesellschaft zum Essen einladen? Carolus vielleicht. Er ist ja kein Fremder, und es müsste dir nicht peinlich sein, wenn er dich so sieht.»
«Aber ja. Lade Carolus ein. Wie unaufmerksam von mir! Hast du ihn deshalb ferngehalten, um mich nicht anzustrengen? Oh, Catherine! Gleich schicken wir einen Diener zu ihm. Heute Abend noch soll er kommen und mit uns speisen!»
«Wird es dir auch nicht zu viel?»
«Nein, bestimmt nicht. Ich würde mich freuen, wieder etwas Abwechslung zu haben, da ich doch gar nicht mehr auf die Straße gehen kann.»
Die notwendigen Vorbereitungen wurden getroffen. Etliche Täubchen mussten es mit dem Leben büßen. Der Hals wurde ihnen umgedreht. Sie wurden gerupft, ausgenommen, mit Rosinen und Nüssen ausgestopft und auf Spieße gesteckt. Keller und Gemüsegarten wurden ausgeräubert und eine schöne Tafel gedeckt.
«Borg mir dein blaues Kleid, Laura, ja? Kann ich die Haarspange mit den Schwänen haben?»
«Aber sicher, Liebes. Das Kleid passt mir ohnehin nicht mehr. Du betreibst aber einen Aufwand heute», wunderte sich Laura. «Das machst du doch sonst nie.»
Catherine war wie im Fieber. Sie ließ sich die Haare bürsten und flechten und zog sich sorgfältig an.
«Bin ich hübsch?», fragte sie ihre Schwester, einen polierten Bronzespiegel in der Hand.
«Aber ja, ich habe es dir ja immer gesagt: Du könntest noch schöner aussehen, wenn du dir nur ein wenig mehr Mühe geben würdest. Was hast du vor, Catherine? Oh!» Laura glaubte zu verstehen. «Ist es endlich so weit? Ich habe schon gedacht, dass ihr nie heiraten wollt. Immer stand etwas im Wege: Erst hat Carolus so lange studiert, dann waren die Sterne nicht günstig, dann ist unser Vater gestorben, dann wolltest du noch Zeit haben …», plauderte Laura.
Ja, sie hatten es stillschweigend hinausgezögert. Zu lange?
«Ich erwarte, dass er mich heute fragt», sagte Catherine. Sie hoffte es. Ein schönes Mahl, dann ein Spaziergang im Garten und dann … Das würde allen Gerüchten ein Ende machen.
«Liebes, ich freue mich so!»
Carolus kam zu spät.
«Ein Patient! Ich wurde aufgehalten», entschuldigte er sich und pickte Catherine ein pflichtschuldiges Küsschen auf die Wange. Die gute alte Catherine. Sie war ihm so vertraut wie ein Paar bequemer Schuhe. Dass sie ein besonderes Kleid angezogen hatte ihm zuliebe, das fiel ihm gar nicht auf. Während des Essens sprach er mit Marius über lauter langweilige Dinge: über den Ausbau des Hafens, die Salzsteuer, ein geplantes neues Hospital. Beim Nachtisch ging es um ein neues Gesetz. Laura schützte schließlich Müdigkeit vor, nahm Marius bei der Hand und zog sich in den oberen Stock zurück.
«Wir müssen den beiden die Gelegenheit geben, ein wenig allein zu sein miteinander», lächelte sie.
Unten sah Catherine Carolus lange an. Er fühlte sich ganz unwohl unter ihrem Blick.
«Was ist?», fragte er.
«Das sollst du mir sagen. Habe ich etwas getan, das dich gekränkt hat? Ich sehe dich so selten», sagte Catherine.
«Ich hatte viel zu tun.»
«Ach ja? Im Beginenhof?», entfuhr es Catherine. Ihr Ton war schärfer, als sie es geplant hatte.
«Ist das ein Verhör?», antwortete Carolus, und dann: «Verzeih, Catherine. Du hast ja recht. Ich war oft dort.»
Catherine wusste: Auf diesem Wege konnte es nur zu Streit kommen. Das wollte sie auf keinen Fall. Stattdessen holte sie tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen: «Carolus, wir sind einander so lange schon versprochen. Sollten wir nicht allmählich etwas deswegen tun?»
Er missverstand es und sah sie überrascht an, überrascht und erleichtert: «Ach Catherine! Du empfindest es also auch? Dass wir nicht füreinander geschaffen sind? Ja, ich denke es auch. Ich habe es nur nicht sagen wollen, weil ich dich nicht als Freundin verlieren will. Ich schätze dich und …»
Die Schüsseln auf dem Tisch klirrten, ein Becher fiel um. Wein floss auf den gefliesten Boden. Catherine war aufgesprungen.
«So ist es also wahr? Du hast etwas mit dieser Begine, mit dieser Italienerin? Wie kannst du nur? Die ganze Stadt lacht über mich und mein blindes Vertrauen: arme Catherine, dumme Catherine!»
Carolus stand ebenfalls auf. «Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Du hast mir nichts vorzuwerfen. Sie ist nur eine Patientin. Es ist nichts zwischen ihr und mir!» Und im selben Augenblick, da er dies ausgesprochen hatte, da spürte er einen ziehenden Schmerz in der Brust – ‹dort sitzt also die Seele, nicht in der Lunge›, sagte ihm fachmännisch sein Verstand. Ja, es war tatsächlich nichts zwischen ihm und Danielle, und das schmerzte ihn mehr als irgendetwas.
«Catherine, sei vernünftig. Das ist deiner nicht würdig! Du liebst mich nicht und ich liebe dich auch nicht. Lass uns die Verlobung auflösen, dann bist du frei und kannst dir einen Mann nach deinem Geschmack suchen. Ich kenne Dutzende, die sich glücklich schätzen würden …»
«Aber nicht du! Du willst dich nicht binden, willst keine Verantwortung tragen. Du willst es lieber mit dieser schamlosen Papelarda treiben ohne Bindung und ohne Anstand, wie ein Tier auf dem Feld!»
«Catherine!», schrie Carolus. «Du vergisst dich! Was hast du nur mit diesen braven Beginen? Sie sind fromm und grundanständig. Ja, sie haben sogar Keuschheit geschworen.»
«Nichts haben sie geschworen! Das ist es ja eben. Sie halten sich alles offen!»
‹Ja, das ist wahr›, dachte er. ‹Eigentlich ist sie ja frei zu tun, was sie will. Ach, aber das ist es ja: Sie will mich nicht.›
«Catherine, ich gehe jetzt besser. Ich schwöre dir, du hast keinen Grund, die Beginen so zu schmähen! Danielle hat dir kein Unrecht getan, sie hat sich nie anders als sittsam und ehrenwert betragen. Über unsere Angelegenheit reden wir ein anderes Mal, wenn du dich beruhigt hast.»
Er verließ das Haus. Catherine trocknete ihre Augen und litt still vor sich hin. Vor ihrer Schwester und Marius ließ sie sich nichts anmerken. Dafür hatten die Mägde umso mehr unter ihr zu leiden. Sie ließ das Haus von oben bis unten putzen, als sei es Frühjahr, und fand immer noch ein Stäubchen. Im Keller ließ sie Bestand aufnehmen und beschuldigte den Koch, vom guten Wein aus dem Fass getrunken zu haben. Der Speck war versalzen, der Käse zu hart, das Obst zu weich. Die Wäsche roch nicht frisch genug. Alles war falsch. Überall sah sie nur Fehler und Betrug. Nichts konnte man ihr recht machen.
Carolus betrachtete das Verlöbnis als beendet. Es war für beide besser so, sagte er sich. Catherine hatte niemals sein Herz bewegt. Eigentlich war ihm das ganz recht gewesen. Aber plötzlich waren da Empfindungen, die er bei anderen immer belacht hatte: Er fühlte sich abwechselnd himmelhoch jauchzend und dann wieder betrübt. Sein Appetit schwand, er verlor an Gewicht. Wenn er aß, dann schmeckte er nichts, wenn er trank, dann nur, weil man einen Becher vor ihn hinstellte. Er ertappte sich beim Tagträumen und ging auf der Straße an Leuten vorbei, ohne sie zu bemerken. Ja, er bemerkte bei sich selbst einen erhöhten Pulsschlag, Herzrasen und einen fieberhaften Anstieg der Körpertemperatur.
Er ging zu Bruder Basilio. Der untersuchte ihn gründlich, nahm eine Harnschau vor, ließ ihn zur Ader und befand schließlich grinsend: «Mein lieber junger Medicus, Ihr leidet an einer weitverbreiteten Krankheit. Sie befällt meist junge Menschen, doch auch alte Narren können sich damit anstecken. Ja, es ist ganz klar, der große arabische Gelehrte Ibn Arabi hat die Symptome beschrieben und auch Avicenna: Auszehrung, Umherirren, Seufzer und Melancholie!»
«Was ist es? Was habe ich? Was kann ich dagegen tun?!», rief Carolus erschrocken.
Basilio grinste noch breiter im festen Vertrauen darauf, dass ihm so etwas nie zustoßen würde: «Man nennt es die Liebeskrankheit, mein armer Collega. Dagegen gibt es nur ein Mittel.»
«Welches? Oh, gebt es mir!», flehte Carolus.
«Die Erfüllung Eurer Sehnsucht», sagte Basilio schlicht.
Das war unmöglich. Traurig schlich Carolus davon.
Und Danielle, die Urheberin all dieser Sorgen? Der Engel sah auch sie, jeden Abend, wenn sie mit Alix zum Brunnen kam, um Wasser für den Klostergarten zu holen. Sie machte einen äußerlich ganz unbeteiligten Eindruck. Ruhig reihte sie sich in die Warteschlange ein. Die Frauen grüßten sie freundlich und tuschelten hinter ihrem Rücken.
«Oh, sie ist eine ganz Raffinierte, die da!»
«Ja, schaut nur, wie sie tut, als könne sie kein Wässerchen trüben.»
«Wisst ihr noch, wie sie hier angekommen ist mit nichts als den Fetzen, die sie auf dem Leibe trug?»
«Und nun angelt sie den jungen Medicus der guten Dame Catherine vor der Nase weg. Das ist nicht richtig!»
«Nein, es ist schlimm!» Und lauter dann: «Guten Abend, Alix! Gott zum Gruß, Danielle. Wie geht es immer? Ist Magdalène wieder gesund?»
«Ja, danke, allen geht es gut», sagte Danielle dann, und gelegentlich: «Das ist zu schwer für Euch, Nonna, lasst mich Euch helfen.»
«Ihr seid eine gute Seele», versicherte das Großmütterchen, um dann zu Hause bei sich zu räsonieren: «Verstehe einer diesen jungen Spund! Tauscht eine angesehene Frau aus gutem Hause und mit großer Mitgift gegen so eine Hergelaufene, von der man gar nichts weiß und die keinen Sou in der Tasche hat!»
Danielle jätete Unkraut, schleppte Wasser, half Anne beim Kopieren, kämmte Wolle, webte ihren Teppich weiter und ließ niemanden in ihr Herz sehen. ‹Sei still mein Herz!›, sagte sie sich. ‹Die Liebe ist nichts für dich. Nein, in diesen Sumpf begebe ich mich nicht noch einmal. Ich habe hier ein neues und gutes Leben angefangen, und das werfe ich wegen eines Mannes nicht fort.›
Sie hatte bei Juliana gebeten, die Gespräche nicht fortsetzen zu müssen.
«Es führt zu nichts, und es verstößt gegen die guten Sitten», hatte sie gesagt. Ab und zu ertappte sie sich dabei, dass sie zur Pforte sah und enttäuscht war, wenn es nicht Carolus war. Oder dass etwas in ihrer Brust stach, wie ein kleiner spitzer Dorn, wenn er dort stand, aber nicht in den Garten kam, sondern ohne Umwege sofort ins Hospital strebte. Eine Rose vertrocknete unter ihrem Kopfkissen.
«Wie? Kein Konzert heute? Womit wirst du uns als Nächstes überraschen?», fragte Gebba spitz, als Danielle in das Webhaus kam.
«Es wird keine Überraschungen mehr geben», antwortete Danielle kurz. Sie setzte sich an ihren Webstuhl in der hintersten Ecke des Raumes und begann, die Garnreste aus dem Abfallkorb nach Farben und Längen zu sortieren. Sie hätte noch ein wenig Rot gebrauchen können und sah zu Gebba hinüber, die gerade ein schönes Stück krapprot und gelb gestreiftes Tuch abgekettelt hatte.
«Ja, komm nur», sagte Gebba, die ihre spitze Bemerkung bereits bedauerte. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, sich freundlicher zu verhalten und das auch bislang leidlich durchgehalten.
«Da hast du.» Sie schnitt die Überlängen der Kettfäden ab und wickelte sie zu einem Knäuel auf. Danielle machte sich an die Arbeit. Die Tongewichte klickten leise gegeneinander. Ihr Teppich reichte nun vom oberen Warenbaum bis zu ihren Knien herab. Man sah eine Frau in weißer römischer Tracht, umgeben von einem Blumenkranz. Ihre Hände waren gefesselt.
Philippa, die Rohwolle kämmte, lehnte sich weit zu Danielle hinüber. «Ich möchte bloß wissen, was sie da zusammenwebt. Ist es etwa die Geschichte einer Heiligen? Guilhelme, hilf du uns, da unsere Schwester Danielle uns so im Ungewissen lässt. Du weißt doch solche Sachen immer: Welche Heilige ist das?»
«Die heilige Afra. Sie wird oft dargestellt, wie sie an einen Pfahl oder einen Baum gefesselt ist. Das könnte stimmen, denn die Frau auf Danielles Bild ist auch an einen Pfahl gefesselt, und sie trägt römische Kleider.»
«Weshalb nochmal ist sie zur Märtyrerin geworden?»
«Sie hat einen verurteilten Christen versteckt und sich geweigert, den römischen Kaiser anzubeten.»
«Aber die da trägt keine Märtyrerkrone. Sie hat nicht einmal einen Heiligenschein!»
«Sie ist keine Heilige», Danielle lächelte, «weiß der Himmel, das ist sie nicht.»
«Dann hast du also doch einen Plan. Du hast die ganze Zeit gewusst, was du darstellen willst, und es uns nicht gesagt!», rief Gebba erbost.
Danielle schwieg und knüpfte ein neues Stück Wolle an.
Manon betätigte die Trittbretter des großen Webstuhls vorne an der Tür. Klipp, klapp. «Streiten die beiden schon wieder?», fragte sie ihre Gehilfin.
Philippa war aufgestanden und hatte sich hinter Danielle aufgestellt, ohne das Kämmen zu unterbrechen.
«Das ist aber kein Pfahl, an den sie da gefesselt ist. Es sieht eher aus wie ein Stock, den sie hält, ein Hirtenstock, um den sich eine Ranke windet.»
Danielle lächelte, sagte aber nichts.
«Schwester, das ist wirklich gemein von dir, uns so auf die Folter zu spannen. Nun sag uns doch endlich, was es wird! Ist es die heilige Afra?»
«Eine Heilige ist es nicht.»
«Oh! Danielle!» Gebba warf ein Wollknäuel nach ihr.