23.

Danielle begann zu zweifeln. «Wäre es nicht besser, zu arbeiten und unser Brot selbst zu verdienen?», fragte sie Barbara. Sie hatten die Nacht bei einem Kleinbauern verbracht, ganz ähnlich denen, die sie bei ihrem Aufbruch getroffen hatte. Die ganze Familie, drei Erwachsene und fünf Kinder, lebten in einem einzigen Raum, der an den Schafsstall angrenzte. Zu essen gab es Fladen, die aus gemahlenen Kastanien gebacken waren, und selbst davon nicht reichlich. Vier Mäuler mehr mussten den Vorrat arg dezimiert haben, dachte sie. «Wir könnten wenigstens bleiben und ihnen helfen, das Korn auszudreschen. Es kann doch nicht richtig sein, den Ärmsten ihre Vorräte wegzufressen. Dann sind wir nicht besser als die Klosterbrüder, die von der Arbeit ihrer Leibeigenen zehren.»

«Das ist nicht richtig, was du sagst. Die Klosterleute haben mehr, als sie zum Leben brauchen. Wir aber haben gar nichts. Wir sind die Armen, von denen Jesus gesagt hat: ‹Was du diesen getan hast, das hast du mir getan.› Wir geben ihnen die Gelegenheit, ein gutes Werk zu tun», entgegnete Barbara.

«Aber sollten wir nicht lieber den anderen Menschen nützlich sein?», wandte Danielle ein.

«Was könnte nützlicher sein, als ihre Seelen zu erquicken? Wir erzählen ihnen vom rechten Glauben und vom Reich der Geisteskirche, die kommen wird. Das ist unsere Aufgabe.»

«Wenn ich wenigstens als Ärztin gebraucht worden wäre …» Danielle fühlte sich wohler, wenn sie etwas tun konnte für ihre Mahlzeit, etwas ausrichten, etwas zum Guten verändern, nicht nur reden.

«Du bildest dir zu viel ein auf dein Heilertum», sagte Maria zornig. «Aber das ist gar nicht wichtig. Du bist wie der König Asa, von dem die Bibel berichtet, der den Ärzten mehr traute als dem Herrn und der doch starb, trotz ihrer Künste, und seine Seele war verflucht. Es ist wichtiger, die Seele zu retten als den Körper!»

‹Das sagen die Inquisitoren auch›, dachte Danielle bei sich. ‹Und jeder meint, er habe recht. Was richtig ist, das werden wir alle miteinander erst nach dem Tod erfahren.› Aber sie hielt ihren Frieden.

Kurz vor Roquebrussanne kamen sie durch einen Zedernwald und trafen Holzfäller.

«Was tut ihr mit den großen Stämmen?», fragte Danielle.

«Wir verkaufen sie nach Toulon. Dort werden sie für die großen Schiffe gebraucht.»

«Dann seid ihr Leute gut betucht», sagte Barbara.

«Wo denkt ihr hin. Das Holz gehört unserem Seigneur, und für den Einschlag bezahlt er uns auch nichts», sagten die Männer.

Doch als sie in dem Dorf anlangten, sahen sie überall Zeichen von Wohlstand. Die Häuser waren größer und besser gebaut als anderswo, und auf dem Dorfplatz stand eine schöne große Kirche. Maria stellte sich davor auf und begann gleich mit ihrer Predigt:

«Ihr Leute, Jesus segne euch! Ich habe Neuigkeiten für euch, oh, solche Neuigkeiten! Befreit euch vom Joch der reichen Pfaffen. Befreit euch von eurem Eigentum, von euren Vorratskammern, von den Sorgen um den nächsten Tag. Ein neues Zeitalter ist angebrochen! Die babylonische Kirche wird hinweggefegt werden. Derjenige, der sich Papst nennt, hat sich als der Antichrist offenbart, dem kein Gläubiger mehr Gehorsam schuldet. Denn er hat Jesus und denen, die ihm nachfolgen, den Krieg angesagt. Wer die Fleischeskirche verteidigt, wird untergehen in Feuer und Blut, hört mir genau zu! Aber wir haben hier bei uns diejenige, die uns alle retten wird. So wie Maria Jesus gebar, so ist sie dazu bestimmt, den Heiligen Geist zu gebären, und dann wird ein gesegnetes Zeitalter anbrechen …»

Aber die Leute in diesem Dorf kamen nicht in Strömen, um ihr zuzuhören. Nur wenige standen und gafften. Andere liefen in ihre Häuser und verschlossen rasch die Türen hinter sich.

Maria predigte umso lauter: «Ihr misstraut uns und denkt, wir spiegeln euch hier etwas vor. Wie könnte eine dahergelaufene Bettelbegine das neue Zeitalter bringen? Aber ich sage euch: Als der Herr Jesus in Palästina umherging, da haben die Menschen auch nichts anderes gedacht: Ein Bettler, ein Habenichts und ein Aufrührer dazu …»

Danielle zog Maria am Ärmel. «Maria, etwas stimmt hier nicht! Lass uns gehen!» Auch Barbara sah sich ängstlich um, eingeschüchtert von der ungewöhnlichen Reaktion. Nicht einmal der Priester ließ sich blicken, um gegen sie zu wettern oder sie vom Kirchplatz zu vertreiben. Danielle machte zwei, drei rasche Schritte von der Kirche fort, doch da war es schon zu spät.

«Fasst sie!» Von beiden Seiten kamen Bewaffnete die Dorfstraße herangeritten. Sie kreisten die vier Frauen ein und trieben sie mit dem Rücken zur Kirchentür. Danielle wich zurück. Eine Lanzenspitze berührte ihre Kehle. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Aber Maria ließ sich nicht beirren. Mit wildem Blick wich sie zurück und griff nach der Waffe, die auf Prous gerichtet war. Prous, klein und flink, tauchte unter einem der Pferdebäuche weg und rannte.

«Rettet sie! Beschützt sie! Sie ist eure Hoffnung! Lauf, Prous! Lauf!», schrie Maria, bevor die Lanze sie durchbohrte.

«Mörder! Ihr habt sie einfach umgebracht! Ihr Mörder! Ihr Teufel!», schrie Barbara.

Die Dörfler erwachten aus ihrer Erstarrung. Einige bückten sich, und ein Regen von Kot und Steinen hagelte auf die Soldaten. Die Pferde scheuten. Prous rannte im Zickzack wie ein Hase. Frauen stellten sich den Söldnern in den Weg, die die Begine verfolgten. Immer mehr drängten hinzu, Bauern und Holzfäller, mit Äxten, Dreschflegeln und Hirtenstöcken bewaffnet. Drei der Söldner hielten noch immer Danielle und Barbara fest, die anderen hatten ihre Lanzen fallen lassen, da sie ihnen in dem Gedränge nichts nützten. Sie zogen ihre Kurzschwerter und hieben rechts und links in die Menge. Es dauerte nicht sehr lange, dann war es vorbei. Drei Bürger von Roquebrussanne waren tot, etliche von den Hufen der Pferde verletzt. Der Hauptmann der Söldner hielt sich den Arm, wo ihn der Zinken einer Mistgabel aufgeschlitzt hatte. Danielle kniete über Maria und versuchte, die Blutung mit ihrem zusammengeknüllten Schleier zu stillen, aber die Lanze hatte eine Hauptader zerrissen. Das Blut sprudelte und lief unter Marias Rücken zu einer dunklen Lache zusammen. Blut lief ihr aus Mund und Nase.

Sie versuchte etwas zu sagen. Danielle beugte sich über ihre Lippen.

«Ist sie entkommen?»

Danielle sah hoch und schaute um sich. «Ja, die kleine Teufelshure hat sich davongemacht», knurrte der Hauptmann wütend. «Aber wir werden sie schon wieder aufgabeln!»

Maria lachte lautlos. Schaumiges hellrotes Blut sprudelte hervor. «Ihr bekommt sie nicht», las Danielle von ihren Lippen ab. «Jesus schützt sie.»

Der Dorfpriester trat aus der Kirchentür, hinter der er sich versteckt gehalten hatte.

«Sie stirbt!», sagte Danielle. «Rasch! Gebt ihr die Letzte Ölung!»

«Nein! Sie ist eine Ketzerin!», sagte der Priester, und auch Maria wehrte ab. Hasserfüllt sahen die beiden sich an, der Priester und die Begine.

«Sie braucht eure entweihten Sakramente nicht!», schrie Barbara zornig.

«Fahr zur Hölle!», sagte der Priester.

«Nein, die ist solchen wie dir vorbehalten!», rief Barbara. Einer der Söldner gab ihr eine Ohrfeige. Sie lachte.

Maria starb kurz darauf.

«Was sollen wir mit ihr machen?», fragte einer der Männer.

«Nicht auf den Friedhof! Sie hat keinen Platz in geweihter Erde.»

«Dann verscharrt sie am Dorfrand oder macht mit ihr, was ihr wollt. Ihr da!» Der Hauptmann rief zu den Dörflern hinüber, die ihre Toten wegtrugen. «Nehmt die da mit. Euch lag ja so viel an ihnen.» Sie kamen und ergriffen Marias Leichnam an Händen und Füßen. Barbara betete.

Vergeblich suchten die Söldner die Gegend nach Prous Boneta ab. Sie war ihnen entwischt.

«Wir sind unwichtig», belehrte Barbara den Hauptmann. «Sie allein war von Gott gezeichnet. Dass sie euch entkommen ist, trotz all eurer Stärke und eurer Waffen, das zeigt, dass wir im Recht sind und ihr im Unrecht. Zittert vor Gottes Zorn!»

Dem Mann war nicht wohl in seiner Haut.

«Hör auf zu predigen, Weib. Davon verstehe ich nichts. Ich tue, was mir aufgetragen ist. Mit diesem religiösen Händel habe ich nichts zu schaffen», verteidigte er sich.

«Und doch dienst du dem Antichrist», beharrte Barbara. «Glaubst du etwa, du könntest dich beim Jüngsten Gericht mit Pflicht oder Gehorsam herausreden? Du sollst niemandem gehorchen außer Gott.» Er antwortete ihr nicht.

«Lass mich deine Wunde versorgen», sagte Danielle zu dem Hauptmann.

«Und wie weiß ich, dass du mich nicht vergiftest? Du bist doch eine von denen.»

«Ich bin dieser religiösen Streitigkeiten genauso leid wie du, Soldat. Ich bin Heilerin von Beruf und sehe es nicht gern, wenn Menschen zu Schaden kommen, aus welchem Grund auch immer», sagte sie leise.

«Dann bist du aber eine merkwürdige Begine», brummte er, ließ es sich aber gefallen, dass sie ihm die Wunde mit gekochtem Wein auswusch.

«Au! Teufel! Das brennt», rief er.

«Besser ein wenig brennen jetzt, als dass es sich infiziert und du den Arm verlierst.»

Sie öffnete ihre Gürteltasche und entnahm ihr ein Briefchen mit einem weißlichen Pulver, das sie auf die Wunde streute. «Lass mich das morgen noch einmal anschauen.»

«Danke», sagte er.

Danielle versorgte auch die Verletzten des Dorfes. Drei hatten Schwerthiebe, einige gebrochene Glieder und Prellungen davongetragen.

«War sie wirklich eine Gesegnete, diejenige, die entkommen ist?», fragten sie Danielle verunsichert.

«Möglich ist es schon», erwiderte sie. «Ihr Name ist Prous Boneta. Vielleicht werden wir eines Tages von ihr hören.»

Am Morgen darauf brachen sie auf. Der Dorfschmied musste die beiden Beginen in Ketten legen. Zu Fuß gingen sie neben den Pferden ihrer Bewacher her.

«Wohin bringt ihr uns?», fragte Barbara.

«Nach Toulon. Dort werdet ihr vor ein Kirchengericht gestellt. Wir suchen schon seit ein paar Wochen nach euch.»

Bei der Mittagsrast sah sich Danielle die Wunde des Hauptmanns noch einmal an. «Es heilt schon», sagte sie. «Am besten ist es, wenn es an der Luft verschorft. Die Wunde darf nicht zu fest abgeschlossen sein. Ich binde nur ein paar Wegerichblätter darüber, damit die Fliegen nicht darankommen.»

Er bewegte den Arm probeweise. «Du scheinst dein Handwerk zu verstehen», sagte er anerkennend.

Sie nickte nur. Nach und nach kamen auch die anderen Söldner zu ihr und ließen sich versorgen.

«Du scheinst ja ganz in Ordnung zu sein. Es ist eine Schande, dass wir dich abliefern müssen», sagte einer von ihnen. «Aber wir haben nun mal unsere Befehle. Mit gefangen, mit gehangen.»

«Lasst sie nur laufen. Sie war ohnehin nicht wirklich eine von uns», sagte Barbara verächtlich.

‹Nein›, dachte Danielle. ‹Wie es scheint, gehöre ich zu niemandem.› Aber sie blieb angekettet und musste weiter mit den Söldnern ziehen.

In Toulon sperrte man sie in einen Kerker, zusammen mit zwei Huren und einer Frau, die ihren Mann vergiftet hatte.

«Ihr Armen», sagten die Huren, «uns lassen sie in ein paar Tagen wieder frei.»

«Mich werden sie ersäufen», seufzte die Mörderin, «aber ihr zwei werdet brennen, und das ist viel schlimmer, habe ich gehört. Was habt ihr getan?»

«Wir haben den Menschen von Jesus erzählt», sagte Barbara.

«Ach, solche seid ihr? Ketzerinnen!», riefen die Huren, bekreuzigten sich und wollten nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

Schon nach zwei Tagen wurden sie vor einen Inquisitor geführt.

«Die haben es aber eilig mit euch!», murrte die Mörderin. «Mich lassen sie hier schon seit Wochen faulen!»

Man brachte sie in ein Amtszimmer im Bischofspalast. Die Büttel schoben sie durch eine Tür in einen Raum, dessen Wände mit dunklem Holz getäfelt waren. Da standen kostbare Möbel, Truhen, bemalt und mit Perlmutt eingelegt, und reichgeschnitzte Stühle, doch die waren nicht für sie bestimmt. Die beiden Frauen hatten stehen zu bleiben.

Danielle entdeckte ein Tryptichon an der Wand, ein Gemälde mit drei Bibelszenen von großer Eindringlichkeit: In der Mitte das Jüngste Gericht mit Gottvater, der Bischof Rostaing ähnlich sah, zur Linken ein umwölktes Himmelreich mit selig lächelnden Gläubigen, und zur Rechten sah man Jammergestalten in den Abgrund der Hölle fallen. Von unten schien das Höllenfeuer und tauchte die Gesichter, die schreckweit aufgerissenen Augen, die schreienden Münder in blutrotes Dämmerlicht. Unten warteten die Teufel mit aufgerichteten Spießen, Folterinstrumente in den Krallen.

«Eure Namen? Woher kommt ihr?», fragte man sie streng.

«Barbara Grandjean aus Toulouse.»

«Dan … Alessa di Ruggieri», gab Danielle an. «Ich stamme aus Neapel.»

Der Protokollant stand an einem Pult und schrieb alles säuberlich auf. Die Inquisition war ordentlich und gewissenhaft.

Der Inquisitor Eberhardus selbst war ein Mann von mittleren Jahren, ein wenig schwammig um die Körpermitte, wo eine breite seidene Schärpe saß. Er hatte ein freundliches, fast gütiges Gesicht.

«Und was haben wir denn da?», fragte er bekümmert. «Welcher von euch gehört das? Wo habt ihr es her?» Vor ihm lag ein Buch. Danielle erkannte es sofort, sie hatte es selbst kopiert. Es war ein Exemplar des «Spiegels der einfachen Seele» von Marguerite Porete, die Anne den Toulouser Schwestern gegeben hatte.

«Das haben eure Knechte Maria gestohlen, meiner Schwester im Herrn Jesu, die sie ermordet haben!», stieß Barbara hervor. «Diese Hunde, diese Mörder, Vergewaltiger, Schweine, die sich im Blut des Volkes suhlen, die friedliche unbewaffnete Religiosen überfallen und verschleppen für ein paar Silberlinge!»

«Na, na! Wir wollen doch nicht übertreiben.» Der Inquisitor schnalzte mit der Zunge und redete zu Barbara wie zu einem ungehorsamen Kind. «Niemand wurde ermordet. Wir morden nicht. Haben die Soldaten des Heiligen Vaters euch etwa verletzt oder unsittlich berührt? Nein. Und wenn eure Schwester zu Schaden kam, dann nur, weil sie sich ihrer rechtmäßigen Verhaftung widersetzte und einer Hochstaplerin und gefährlichen Lügnerin zur Flucht verhalf. Und was dieses ketzerische Buch betrifft …»

«Die Zunge soll Euch verfaulen! Es ist ein Buch, so heilig wie die Bibel!», unterbrach ihn Barbara.

«Eine Ketzerbibel! Die verworfen wurde! Wer sie besitzt, ist so gut wie exkommuniziert. Das wisst ihr doch», sagte der Inquisitor.

«Barbara …», versuchte Danielle sie zu beruhigen.

Doch diese schüttelte ungeduldig Danielles Hand ab. «Siehst du nicht, dass sie uns bereits verurteilt haben? Es ist ganz gleich, was wir sagen oder wie wir uns verhalten – sie werden uns auf den Scheiterhaufen schleppen! Aber das ändert gar nichts! Ihr werdet unseren Körper vernichten und die Seele befreien, eine weitaus reinere Seele als Eure eigene, Herr Inquisitor. Ihr seid es, der vor Angst erzittern muss! Und Euer Papst kann exkommunizieren, soviel er will! Er hat seine Macht über unsere Seelen verloren! Nichts, was er sagt und tut, hat eine Bedeutung für uns», rief Barbara und machte dem Inquisitor mit zwei gegabelten Fingern das Teufelszeichen. Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Dann bekennst du dich der Häresie schuldig. Das vereinfacht die Sache und erspart dir die Peinliche Befragung. Gut. Gibst du zu, auf öffentlichen Plätzen gepredigt zu haben, dass die Menschen dem Papst nicht gehorchen müssen, weil er der Antichrist sei?»

«Ja!»

«Und was ist deine Ansicht über die Apokalypse?»

«Sie steht bevor und wird kommen, und dann wird ein großer Brand die Ungläubigen hinwegfegen. Die Sarazenen werden bekehrt. Und der Heilige Geist wird über alle Armen und Rechtgläubigen ausgegossen. Ein Zeitalter der Vernunft und der Liebe wird kommen», rief Barbara.

«So? Das hat Petrus Olivi geschrieben und für das 13. Jahrhundert vorhergesagt. Aber das 13. Jahrhundert ist vorübergegangen, und nichts dergleichen ist geschehen!»

«Was sind schon hundert Jahre für den Herrn, der ewig ist?»

«Geschwätz! Halbwahrheiten, halb gelesen und zu einem Viertel verdaut! Aber du wirst keine Gelegenheit mehr bekommen, die einfachen Leute mit deinen Lügen zu verwirren. Dieses Buch stammt nicht aus Toulouse. Sag schnell: Wer hat es dir gegeben? Wer verbreitet dieses Machwerk im Land?»

«Ich habe es ihr gegeben. Ich habe dieses Buch unterwegs kopiert», sagte Danielle.

«Lächerlich! Hast du etwa auf dem Waldboden kniend geschrieben? Mit Tinte aus Gras und vielleicht einer Engelsfeder?», höhnte der Inquisitor.

«Ich habe abends in den Herbergen geschrieben, in denen wir genächtigt haben.»

«Du lügst. Sage mir, wo das Exemplar ist, aus dem du abgeschrieben hast. Und wer besitzt es? Wer hat dir seine Schreibstube zur Verfügung gestellt? Sage es lieber gleich. Wir bekommen es ohnehin aus dir heraus. Es stehen uns Mittel zur Verfügung, die noch jeden zum Sprechen gebracht haben. Nun?»

O nein, dieses Buch war nicht hastig in einer Herberge abgekritzelt beim Schein von Fackeln oder billigen Talglichten. Es war in einem Scriptorium entstanden, und so ein Scriptorium gab es in keiner simplen Herberge. Und Eberhardus bezweifelte, dass dies die einzige Kopie in Umlauf war. Doch es genügte nicht, einzelne Missetäter zu fangen, man musste auch ihre Helfer finden und bloßstellen. Kein Zweifler durfte im Verborgenen bleiben, keine Verfehlung ungestraft, wenn man den Glauben reinigen wollte. Ein Jahrhundert blutiger Aufstände hatte man hinter sich gebracht. Es war schmerzlich, aber notwendig, das Übel an der Wurzel zu packen und die Gemeinschaft der Gläubigen vor den Übereifrigen zu bewahren.

Seine Augen glitten zwischen den beiden Frauen hin und er. Er versuchte abzuschätzen, welche von beiden eher nachgeben würde. In Barbaras Augen sah er die Angst flackern. So, diese da gedachte also billig davonzukommen. Den Tod fürchtete sie nicht, aber die Folter wohl, Verstümmelung, langanhaltende Schmerzen. Er blätterte ein wenig in dem Buch.

«‹Ich bin ganz Schlechtigkeit, und er ist ganz Güte, und darum steht es mir zu, seine ganze Güte zu bekommen …› Steht mir zu? Ist das Demut, die daraus spricht?» Er fixierte Barbara. Seine Stimme wurde laut und voll. Er würde ihre Ohren mit der Gewissheit ihrer Verfehlungen füllen, so wie man ihre Glieder und ihre Gefäße mit Schmerz füllen würde. Von nun an gab es kein Entkommen mehr. Sie war ihm ganz und gar ausgeliefert: «Oh, ich kennen eure Methoden! Ihr kleidet das Gift des Teufels in fromme Worte und imitiert die Schule von Christus. Ihr tut tugendhaft und plappert Bibelsprüche und Gebote, borgt euch hier und da etwas, reißt es aus dem Zusammenhang und biegt es für eure satanischen Zwecke zurecht. Ihr gebt euch den Anschein von Propheten, um damit das einfache Volk zu verwirren und es euch zum Opfer zu machen. Aber wir, die wir geschult und gelehrt sind, wir fallen nicht darauf herein. Wir werden euch das Fleisch vom Leibe reißen, damit der Schmutz und der Schleim darunter hervortreten und alle sich mit Ekel und Entsetzen abwenden!» Genüsslich beschrieb er die Methoden und Stufen der Peinlichen Befragung. Er machte eine lange Atempause. Barbara zitterte. «Es sei denn …», er fixierte sie mit seinem Blick: «Es sei denn, ihr seid ganz und gar geständig und liefert auch eure Helfer und Helfershelfer aus. Dann mag Gott entscheiden, wer von uns recht hat …»

«Pertuis!», schrie Barbara in höchster Angst. «Es waren die Schwestern von Sainte Douceline, ein Beginenhaus in Pertuis! Die haben uns Porete-Bücher gegeben, damit wir sie verteilen sollten. Sie waren es!»

«Das ist nicht wahr», sagte Danielle müde. «Ich war es, ich ganz allein. Ich habe dort eine Weile gewohnt. Sie haben mich aus Güte aufgenommen, weil ich erschöpft und krank war von meinen Wanderungen. Ich habe es ihnen schlecht gelohnt. Ich habe das Buch in ihrer Bibliothek entdeckt, kopiert und weitergegeben ohne ihr Wissen. Die Meisterin von Sainte Douceline hat ihr Exemplar sogleich verbrannt, nachdem bekannt wurde, dass die Autorin als Ketzerin verurteilt wurde. Das kann Euch der Priester von Pertuis bestätigen. Er hat sie danach befragt.»

«Und dennoch hast du dieses geisteskranke Werk weiblicher Hoffart für dich behalten und es weiterverbreitet? Obgleich du wusstest, dass es sich um ein ketzerisches Buch handelt?», schrie der Inquisitor

«Ich habe es gelesen und konnte nichts Unrechtes darin finden. Sie spricht doch nur von Liebe und von Selbstaufgabe, nicht anders als der heilige Bernhard von Clairvaux», entgegnete Danielle gefasst.

Jede Spur von väterlicher Güte verschwand mit einem Schlag aus dem Gesicht des Inquisitors.

«Eine Unverschämtheit! Blasphemie! Was erdreistest du dich, den heiligen Bernhard mit diesem Porete-Weib in einem Atemzug zu nennen? Wie kommst du dazu, dich für klüger zu halten, als sämtliche hochweisen Theologen, die das Werk beurteilt, es sorgfältig abgewogen und für zu leicht befunden haben!? Anmaßung und Stolz, der nur noch von deiner Dummheit übertroffen wird!» Er war puterrot im Gesicht, Speichelfetzen flogen aus seinem Mund. «Warum wohl verbieten wir dem einfachen Volk, die Bibel zu besitzen und heilige Texte zu lesen? Und erst recht sollen Weiber sich des Lesens enthalten! Man sieht ja, was dabei herauskommt.»

«Ich bereue es», sagte Danielle demütig, aber unaufrichtig. «Ich wollte doch nur erkennen …»

«Die Ursünde!», unterbrach sie der Mann. «Das neugierige Weib greift nach dem Apfel der Erkenntnis!»

‹Und weil die Frauen zuerst nach Erkenntnis gestrebt haben, wollt ihr sie jetzt für alle Zeiten dumm halten›, dachte Danielle.

«Ich bekenne und bereue es», sagte sie laut.

«Wir werden sehen», sagte der Inquisitor. «Wir werden sehen.»

 

«Der Teufel hole dieses Maultier!», schrie im selben Augenblick, zwei Tagereisen vor Toulon, ein gewisser junger Medicus.

«Das mulet kann nichts dafür. Ehrlich gesagt, es ist schon viel weiter gekommen, als ich gedacht hatte, dass wir mit ihm kommen werden», beruhigte ihn Calixtus.

Methusalem lag auf der Seite und verdrehte die Augen. Seine Flanken hievten. Carolus zählte sein verbliebenes Kapital. «Da! Lass uns davon zwei Pferde kaufen. Wir werden sonst zu spät kommen!»

«Und wovon wirst du die Herberge bezahlen?», entgegnete der Mönch.

«Was brauche ich eine Herberge? Ich schlafe unter freiem Himmel!», rief Carolus.

«Und was wirst du essen?», fragte Calixtus.

«Das ist mir gleich! Ich brauche ein Pferd! Du da!» Carolus sprach einen verdutzten Bauern an, der gemütlich auf seinem Ackergaul daherkam. «Tausche mit uns. Ich gebe dir mein Maultier und fünf Silberstücke für dein Pferd.» Das Pferd hatte einen Tonnenbauch, einen Rücken wie ein umgedrehter Nachen und Hufe wie Butterfässer.

«Das Maultier da? Das ist ja schon halbtot», sagte der Bauer verächtlich.

«Ist es nicht. Es ruht sich nur aus.» Carolus gab seinem Reittier einen Tritt.

Methusalem schüttelte sich, stand auf und furzte lang anhaltend. Der Packsattel rutschte unter seinen Bauch.

«Da seht Ihr’s. Es ist noch ganz lebendig. Es ist nur ein wenig müde. Ich habe es furchtbar eilig, sonst würde ich es nie im Leben hergeben, so ein treues, zähes Tier. Kommt schon, Ihr macht einen guten Handel damit!», drängte Carolus.

Der Mann blieb auf seinem Pferd hocken, hielt aber immerhin an. «Das andere Maultier würde ich nehmen. Und dreißig Livres dazu.»

«Wie? Dafür bekomme ich einen jungen Andalusier!»

Grinsend erhob sich der Mann halb aus seinem Sattel und machte eine große Schau daraus, sich nach allen Seiten umzusehen. «Möglich. Aber nicht hier und jetzt!», lachte er.

«Das ist ein klumpiger Ackergaul, den Ihr da reitet. Er ist höchstens fünf Livres wert!», schimpfte Carolus.

«Seht Ihr, wie breit und hoch er ist? Er hat das Blut eines Streitrosses in sich!», erwiderte der Bauer, jetzt schon ein bisschen beleidigt.

«Aber nur, wenn er davon gesoffen hat!»

«Das andere Maultier und 25 Livres Tournois.» Der Mann war hartnäckig.

«Mein Maultier steht nicht zum Verkauf», wehrte Bruder Calixtus ab. Am Ende steckte der Landmann zwanzig Silberstücke ein, nahm seinen Sattel ab und wandte sich Methusalem zu. Der grunzte übellaunig und stemmte die Beine gegen den Boden. Doch der Bauer fackelte nicht lange: Er gab ihm einen kräftigen Fausthieb zwischen die Ohren. Und siehe da: Der alte Schlingel gab seinen Widerstand augenblicklich auf. Leichtfüßig wie ein Fohlen trabte er an, mit Mann, Sattel und allem!

Calixtus sah zweifelnd zu Carolus hoch, der versuchte, auf dem breiten, struppigen Pferderücken irgendwie Halt zu finden. «Pass nur auf, dass du nicht herunterfällst», rief er. Carolus schnaubte nur. Immerhin ging es jetzt ein wenig schneller voran, denn Calixtus’ Maultier zuckelte gutmütig neben dem Riesenross her.

Carolus’ Laune besserte sich zusehends. Die Berge kamen in Sicht, die das Hafenbecken und die Bucht von Toulon gegen das Inland abschirmten. Ein gewundener Weg führte aufwärts.

«Wenn wir so weitermachen, dann müssen wir nicht einmal mehr übernachten, sondern erreichen diesen Abend schon Toulon», sagte Carolus hoffnungsvoll.

Aber als sie den Pass bei Solliès überquerten, war die Straße blockiert.

«Es hat einen Unfall gegeben!», rief Bruder Calixtus, der vorausgeritten war.

Etwas weiter unten, in einer Kehre, sahen sie umgestürzte Karren liegen. Sie kamen näher, stiegen von ihren Reittieren und eilten zu der Unfallstelle.

«Braucht ihr Hilfe?», fragten sie.

Ein Reisender wies auf das Durcheinander. Zwei, nein drei Karren waren umgestürzt. Ein Ochse lag mit gebrochenen Beinen auf der Seite. Einer der Karren musste auf ihn gefallen sein. Er brüllte kläglich. Weiß ragten sein Knochen aus dem blutigen Fleisch. Die restlichen Zugtiere hatten sich losgerissen, oder man hatte sie aus dem Joch herausgeschnitten. Sie liefen aufgescheucht am Berghang herum und blökten. Endlich schnitt jemand dem verletzten Ochsen die Kehle durch. Hölzerne Wagenräder und Waren lagen verstreut am Wegrand.

«Helft uns! So glotzt doch nicht, um Gottes willen, helft uns!», schrie eine Frau. «Mein Mann ist verletzt!»

«Ich bin Arzt! Führt mich zu ihm!», rief Carolus. Man zerrte ihn zu einem Mann, der auf der Wiese gebettet lag. Ein zusammengerollter Mantel diente ihm als Kopfstütze. Er stöhnte und hatte offenbar große Schmerzen. Vorsichtig befühlte Carolus seine Knochen.

«Ihr habt drei Rippen gebrochen», sagte er schließlich. «Das wird wieder. Ich mache euch einen festen Verband um den Brustkorb. Der muss einige Tage dort bleiben, und du solltest dich schonen.»

«Schonen? Und wer soll das da aufräumen?»

«Das kann deine Frau tun und wer sonst noch dabei war. Und jetzt halt still!»

Calixtus war unterdessen um die Wagentrümmer herumgewandert und fand einen jungen Mann, der auf der Erde saß und verzweifelt den Kopf in die Hände gestützt hielt. Ein anderer war gerade dabei, die verstreuten Waren einzusammeln.

«Wie ist denn das passiert?», fragte Calixtus.

«Bei seinem Wagen ist die Bremse abgebrochen. Und da ist er in die anderen vor ihm hineingeschossen!», sagte jemand. «Sie haben ihn zum ersten Mal selbst einen Wagen lenken lassen, und dann passiert gleich so was!»

Calixtus klopfte dem jungen Mann beruhigend auf den Rücken. «Na, na, es war nicht deine Schuld. Niemand kann dir einen Vorwurf machen. Jetzt komm und pack mit an!»

Bis zum Anbruch der Dunkelheit hatten die Frauen und die Fuhrleute alle Trümmer von der Straße geschafft und ihre Waren zusammengesucht. Zwei Wagen konnten notdürftig repariert und wiederaufgerichtet werden, aber der dritte war nicht mehr zu gebrauchen.

Es war zwecklos und gefährlich, die Abfahrt nach Toulon in der Dunkelheit zu unternehmen. Also machten die Fuhrleute ein großes Feuer aus den Bruchstücken. Die Reisenden, die es an diesem Tag nicht weiterschafften, setzten sich zu ihnen. Man teilte, was man zu essen hatte, Brot und geräucherte Würste. Sogar ein Weinschlauch machte die Runde.

Carolus hatte keinen Appetit. ‹Wieder einen Tag verloren!›, dachte er und blickte sehnsüchtig auf die Stadt hinunter. Man erkannte bereits Häuser im ungewissen Schein der Fackeln und Öllampen, die in den Fenstern brannten. Auf den Wachtürmen unterhielten Soldaten ihre Feuer. Der Rest der Welt rund umher war in tiefes Dunkel gehüllt.