Es war die einzige Regel, an die sich Magdalène einfach nicht gewöhnen konnte: der morgendliche Kirchgang mit nüchternem Magen. Sonst fand sie sich mit allem ab – mit dem frühen Aufstehen, mit dem häufigen Beten zu festgelegten Zeiten, mit dem Mangel an Freiheit, der ständigen Aufsicht durch die Mitschwestern, dem verwässerten Wein, mit Gebbas Sticheleien, ja sogar mit dem Fehlen von Musik und Lustbarkeiten – aber zur Kirche ohne Frühstück, das war arg. Zum Glück ließ die Meisterin wenigstens im Anschluss daran eine gute und reichliche Mahlzeit auftischen.
Bei den einfachen Leuten gab es die Reste der Suppe vom Vorabend, wenn überhaupt etwas. Manche aßen ein Stück Brot, das sie vorher in verwässerten Wein getunkt hatten. Bei den reichen Leuten gab es kalten Braten oder Ei in Milch. In Marseille aß man angeblich eine ganze Knolle Knoblauch und trank den Wein dazu schon morgens unverwässert, das mochte Juliana aber nicht glauben. «Man soll sich nicht vollstopfen», pflegte sie zu sagen, «aber mit leerem Magen kann man kein ordentliches Tagewerk vollbringen. Und mit von Wein vernebeltem Kopf erst recht nicht.» Also hatte Annik während der Morgenandacht bereits eine große Kanne Fencheltee an der Glut warm gestellt. Es gab Brot, frischen weißen Ziegenkäse und gedämpfte Früchte. Jedermann wartete, bis Juliana fertig gegessen hatte. Sie sprach das Gebet für den Tag, rückte ihren Schemel zurück und ging hinaus, gefolgt von Anne. Magdalène stieg eilig aus der Bank und folgte ihnen. Im Hof holte sie die Meisterin ein.
«Juliana, auf ein Wort: Ich möchte einen Vorschlag machen, Danielle betreffend.»
«So?»
«Wir kommen nicht weiter mit ihr. Sie ist krank.»
«Mir scheint sie ganz gesund.»
«Äußerlich. Ja. Aber du weißt schon, was ich meine: Sie ist krank an der Seele. Da ist etwas, das unter der Oberfläche schwärt. Und dann, so wie neulich Abend, oder bei der Sache mit den Flussschiffern, da bricht es heraus, und es wird offenbar, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Es ist nicht gut, wenn man sich selbst nicht kennt, wenn man sich nicht erinnert, wer man war.»
«Und wenn diejenige sich nicht erinnern möchte?»
«Dann erst recht nicht», beharrte Magdalène. «Es ist nicht gesund. Man muss mit sich selbst und mit Gott ins Reine kommen.»
«Und wie möchtest du im Kopf deiner Schwester Ordnung schaffen?»
«Carolus könnte versuchen, sie zu heilen.»
«Der junge Medicus? Warum sollte ihm gelingen, was uns nicht gelungen ist?»
«Nun, er ist freundlich, ruhig und geduldig. Ich traue ihm zu, dass er nicht nur die Krankheiten des Körpers, sondern auch die der Seele zu heilen vermag. Fragen wir ihn doch, ob er es versuchen will.»
Juliana ließ sich nicht so leicht hinters Licht führen. «Du meinst, dass er auf sie die übliche Wirkung hat. Und dass sie ihn gewähren lässt, damit sie in seiner Nähe sein kann. Meine liebe Magdalène. Was soll ich nun davon wieder halten?!»
Magdalène legte eine Hand auf ihren Busen, ganz die missverstandene Unschuld.
«Ach, er soll doch nur Gespräche mit ihr führen, weiter nichts. Was kann das schon schaden?»
«Und wie und vor allem wo soll das geschehen? Im Hospital?»
«Nein, da nun gerade nicht. Danielle hasst das Hospital. Dort würde sie sich niemals öffnen. Ich dachte an etwas Stilleres, Angenehmeres.»
«Eine Kammer? Wir können doch nicht einen Mann mit einer Schwester allein lassen. Das schickt sich nicht und verstößt gegen unsere Regeln», sagte Juliana streng. «Das kommt gar nicht in Frage!» Sie wollte sich schon abwenden.
Doch Magdalène hatte sich schon alles genau zurechtgelegt.
«Ich dachte, er könnte im Garten mit ihr sprechen. Alix wäre in der Nähe oder ich. Uns vertraut sie und würde es nicht als Einmischung empfinden. So wäre dem Anstand Genüge getan. Sie wären unter aller Augen und doch ungestört.»
«Im Garten.» Juliana schürzte die Lippen. «Hm, das wäre annehmbar. Aber nur am hellen Tag. Vor der Abendandacht muss er gehen! Nach Sonnenuntergang darf sich kein Mann in unserem Hause aufhalten.» Sie dachte nach und sagte dann: «Nun gut, einverstanden. Ich werde ihn fragen. Du unternimmst erst einmal nichts weiter, verstehen wir uns?»
«O ja, natürlich. Am besten, du redest auch mit unserer Schwester.»
«Überredest sie – meinst du wohl. Ich werde es ihr freistellen, ob sie sich auf so etwas einlassen mag oder nicht. Ich werde es ihr nicht befehlen.»
«Danke, Meisterin.»
Als Magdalène sich umdrehte und zur Küche zurückging, erlaubte sie sich ein zufriedenes, kleines Lächeln.
Sie sah nicht, dass Juliana ebenfalls lächelte.
«Soso, sie meint also, sie könne mich für ihre Zwecke einspannen», sagte Juliana zu Anne. «Aber es mag tatsächlich ein guter Einfall sein. Weißt du, woran mich unsere Danielle oft erinnert?»
«Nun?»
«An eine Schmetterlingspuppe.»
«Weil sie so zurückhaltend ist?»
«Mehr noch. Sie kommt mir so vor, als schliefe sie halb. Schliefe in einem Kokon, der sie vor der Außenwelt schützt. Als sei da etwas verschlossen, das doch einmal hinausmuss.»
«Muss es denn? Sie hat sich doch gut eingelebt. Sie ist sehr anstellig und hilfsbereit – und auch fromm.»
«Ja, das ist alles wahr. Aber sie ist nicht recht sie selbst. Davon bin ich überzeugt.»
«Vielleicht wäre es wirklich besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.»
«Vielleicht bin ich nur eine neugierige alte Frau, die sich übermäßig in das Leben anderer einmischt. Aber ich möchte doch zu gern diesen Schmetterling noch einmal fliegen sehen.»
«Und was, wenn es gar kein Schmetterling ist, nichts Schönes und Gutes, sondern wenn etwas Schlimmes ans Licht kommt? Was, wenn sie doch eine Verbrecherin ist?»
Die Meisterin öffnete die Tür zum Scriptorium und drehte sich dabei zu Anne um.
«Was sagt dir dein Gefühl?»
«Ich glaube es nicht. Aber Gefühle können täuschen.»
«Wohl wahr. Und das ist ein Grund mehr, die Sache nicht so einfach auf sich beruhen zu lassen: Wenn sich doch herausstellte, dass unsere Danielle etwas Unverzeihliches getan hat, dann könnte sie uns allen hier gefährlich werden. Man würde es dann nur zu gern gegen uns verwenden.»
Es war aber nicht so leicht, Danielle zu überreden, wie Magdalène es sich vorgestellt hatte. Ein hübsches Männergesicht, eine sanfte Stimme – und schon würde sie ihr Herz ausschütten, hatte sie gedacht. Nein. Danielle weigerte sich rundheraus, mit Carolus zu reden.
«Was soll denn dabei herauskommen? Ich werde mich schon erinnern, wenn es an der Zeit ist. Und wenn nicht, dann eben nicht. Und im Übrigen muss ich mich schon sehr wundern, dass mir ausgerechnet hier zugemutet wird, mit einem Mann vertraulich zu werden!», hatte sich Danielle empört. Doch auf Drängen der Meisterin hatte sie schließlich nachgegeben.
Der gute Medicus dagegen war von dem Fall fasziniert gewesen und hatte sofort eingewilligt, sich eingehend damit zu beschäftigen.
«Ich habe schon öfter davon gelesen, wie Menschen durch einen großen Schrecken oder einen Schlag auf den Kopf das Gedächtnis verlieren. Aber ehrlich gesagt, getroffen habe ich nur Lügner, die hinter einem angeblichen Gedächtnisschwund irgendwelche Missetaten zu verbergen trachten.»
«Dass sie uns böswillig hinters Licht führt, das glaube ich nicht. Es bleibt allerdings die Frage, ob sie sich nicht erinnern kann oder sich nur nicht erinnern will.»
«Was auf dasselbe hinauslaufen kann!»
«Überdies erscheint sie mir ständig ein wenig gedämpft und traurig.»
«‹Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Traurigkeit am meisten Schaden für den Leib›, sagt Thomas von Aquin. Ich hege den Verdacht, dass manche Krankheit auf solche Art zustande kommt. Doch in welchem Zusammenhang steht ihre Traurigkeit und dass sie sich nicht erinnern kann? Handelt es sich um eine Krankheit des Körpers oder der Seele? Ein interessantes Problem.»
«Es ist nur leider so, dass unsere Schwester im Augenblick gar nicht geheilt werden will, sondern sich vielmehr ganz gesund wähnt.»
«Das ist oft so», entgegnete Carolus. «Wenn Ihr erlaubt, will ich gleich selbst mit ihr sprechen. Ich werde sie nicht bedrängen und will sie ganz gewiss nicht quälen. Ich darf mich ihr also nähern?»
«Das wird wohl notwendig sein, um mit ihr zu sprechen! Aber nur in den Grenzen des Anstands, junger Mann. Vergesst das niemals!»
«Was denkt Ihr von mir?», empörte sich Carolus.
«Fort mit Euch! Versucht Euer Glück», scheuchte ihn Juliana hinaus. Carolus trat auf den Hof und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Danielle hatte eine Hose unter einen alten, vielfach geflickten Rock angezogen, wie eine Bäuerin. Die kurzen Haare waren unter ein altes Tuch gebunden. Sie kniete im Garten und wühlte mit beiden Händen tief in der schwarzen Erde. Ein Teil des Heilgartens war bereits umgegraben und mit Stöcken und Stricken in Abschnitte eingeteilt. Sie hörte die Schritte des Doktors auf dem Kopfsteinpflaster und schaute sich um. Die Sonne stand hinter ihm und blendete sie. Als sie die Hand hob, um die Augen zu überschatten, beschmierte sie sich Nase und Stirn mit Erde. Carolus musste lachen.
«Ah, der Herr Medicus! Macht Euch ruhig über mich lustig», sagte Danielle ärgerlich. Sie versuchte, sich mit dem Rockzipfel den Schmutz fortzuwischen, und machte es nur noch schlimmer. Sie sah aus wie ein Mohr.
«Erlaubt bitte», sagte Carolus galant. Er zog ein Tuch aus dem Wams, tauchte es in einen Wassereimer und beugte sich über sie, um ihr Gesicht zu reinigen.
«Das scheint ja zur Gewohnheit zu werden», knurrte Danielle, doch sie lächelte dabei. Carolus fand ihr Lächeln bezaubernd. Sie übersah seine ausgestreckte Hand, richtete sich auf, ging zum Wassereimer und wusch sich die Hände. Sie brauchte erstaunlich lange dafür. Umständlich beklopfte sie sich die Kleidung. Endlich war sie so weit. Sie verschränkte die Arme und fragte:
«Nun also: Was muss ich tun?»
Carolus verspürte einen leichten Stich. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen seine Anwesenheit als unangenehm empfanden, im Gegenteil. Manche erfanden sogar alle möglichen Beschwerden, nur um ihn zu sich nach Hause rufen zu können. Ein wenig irritiert schaute er sich um und entdeckte die Steinbank, halb versteckt zwischen Lorbeer und Wildrosen. Es sollte ihm doch gelingen, sie sich gewogen zu machen! Er nahm seinen Hut ab und fegte damit ein paar welke Blätter von der Sitzfläche.
«Setz Euch hierher zu mir.»
Danielle setzte sich auf die Bank, aber so weit wie möglich von ihm entfernt. Alix kam aus dem Stall mit einem Korb Eselsdung, den sie auf der frisch umgegrabenen Fläche verteilte. Sie begann den Mist mit der Hacke einzuarbeiten.
Gebba, die für einen Augenblick vor die Türe der Weberei gegangen war, um ein paar Atemzüge frische Luft zu schnappen und ihren Rücken zu strecken, sah Danielle mit Carolus auf der Bank sitzen. «Oh! Das ist richtig! Man muss nur ein großes Geheimnis um sich selbst machen, und dann wird man verwöhnt, während andere den Buckel krumm machen müssen!» Vor sich hin brummelnd ging sie wieder hinein.
«Ich bekomme richtig Lust mitzumachen, wenn ich das so sehe, aber leider bin ich dazu nicht richtig angezogen», erklärte unterdessen Carolus.
«Ihr macht Gartenarbeit?», fragte Danielle überrascht.
«O ja, oft! Nach all den Krankenbesuchen bin ich gern in meinem Gärtchen. Es klärt die Gedanken und erfreut mein Gemüt. Riecht es nicht herrlich am Morgen, wenn die Erde taufeucht ist, oder am Abend, wenn die Luft schwer ist von Blütendüften, von Ginster, Rose und Geißbart?»
Der Küchen- und Heilgarten der Beginen hatte an Blütendüften wenig aufzuweisen. Hier roch es vorwiegend nach Kräutern, sandig und scharf nach dem blauen Salbei, der gerade blühte, würzig nach violettem Pfefferkraut, ein wenig bitter nach Wermut, beißend und grün nach Zwiebelschluppen in der Sonne, süß nach dicken Bohnen, scharf und rein nach Minze, warm und trocken nach Rosmarin, nelkenartig vom Benediktenkraut.
«Ihr besitzt einen Blumengarten?» Nicht viele Leute hatten Gärten, die nur dem Vergnügen dienten.
Carolus hatte ein Minzeblatt gepflückt, zerdrückte es zwischen seinen Fingern und roch daran. «Ja, ich weiß, es ist ein Luxus und eine Schwäche, aber: ja.»
«Was für Blumen habt Ihr denn?»
«Oh, Iris natürlich, gelbe und weiße Milchsterne, weiße Lilien, Akelei, Eisenhut und Rittersporn, und eine Damaszener Rose …»
Danielles Gesicht belebte sich. Sie war ein klein wenig näher gerückt und schaute Carolus zum ersten Mal während dieser Unterhaltung offen an.
‹Ihr Gesicht mag etwas herb sein und zu kantig für unsere Begriffe›, dachte er. ‹Vielleicht sehen sie in Neapel anders aus. Aber sie hat wundervolle Augen – braun, mit kleinen goldenen Sprenkeln darin, wie dunkler Bernstein. Und diese Wimpern!›
«Eine Damaszener Rose?», wiederholte Danielle. «Ich habe noch nie eine gesehen. Wie sieht sie aus? Wie seid Ihr darangekommen?»
«Sie ist dunkler als die Hundsrose und gefüllt, und sie duftet so köstlich, dass man trunken davon werden könnte. Ein Duft zwischen Honigwein und Muskat. Ich habe sie mir von einem Kaufmann mitbringen lassen, der Verbindungen in den Orient unterhält. Angeblich stammt sie aus dem Garten des Osman Bey.» Carolus lachte ein wenig verlegen. «Sie hat mich ein kleines Vermögen gekostet, diese Rose, und ich habe sie sogar malen lassen, damit ich mich auch im Winter in meinem Haus an ihr erfreuen kann. Das ist ein wenig verrückt, nicht wahr? Ich liebe meinen Garten …» – ‹Ich schwadroniere›, dachte Carolus. ‹Aber ich muss doch irgendwie ins Gespräch kommen mit ihr. Worüber redet man mit einer Frau, die man kennenlernen will? Über Gedichte, über ihre Kleidung? Sie trägt ja nur diesen Hausmutterkittel. Wie kann ich da ein Kompliment machen, ohne dass es spöttisch klänge. Man fragt sie nach ihren Interessen. Was fragt man aber jemanden, der sich an nichts erinnert?›
«… Meine alte Mutter kümmert sich darum, und sie macht mir beständig Vorwürfe über diese Verschwendung. Ich soll lieber Kohl und Zwiebeln anbauen, meint sie.»
«Da hat sie nicht unrecht. Aber auch die Schönheit hat ihren Nutzen.»
«Meine Mutter ist der Meinung, dass Schönheit vergänglich und unnütz sei.»
«Ihr könntet ihr entgegenhalten, dass sich in allem Schönen auf Erden Gott offenbart, in Blumen, Farben und im Licht, und also solche Dinge geeignet sind, die Gedanken zu reinigen und der Seele einen schwachen Abglanz des Paradieses zu vermitteln.»
«Bist du etwa in einem Kloster erzogen worden?»
«Nein», antwortete Danielle kurz. Sie beobachtete, wie sich Alix ächzend nach einem Stein bückte. «Ich fühle mich nicht wohl dabei, die alte Frau die ganze Arbeit tun zu lassen, während ich hier sitzen und schwatzen soll», sagte Danielle.
«Anschließend soll sie auf der Bank sitzen, und ich werde ihre Hände mit einer neuen Gichtsalbe behandeln, die ich für sie mitgebracht habe.»
«Also gut, dann vertändeln wir doch nicht unsere Zeit, indem wir über Rosen sprechen. Wie wollt Ihr es angehen?»
«Ich weiß nicht.»
Danielle lachte: «Das ist meine Zeile, Herr Medicus!»
«Ja», sagte der junge Arzt. «Von einem Arzt wird immer erwartet, dass er wichtig tut und alles weiß.»
«Wer wichtig tut, weiß meistens nichts. Allerdings wirkt eine Medizin besser, wenn der Arzt zumindest den Anschein erweckt, als ob er davon überzeugt sei. Aber Ihr habt nicht einmal eine Medizin.»
«Ich dachte, wenn wir miteinander sprechen …»
«Ich glaube nicht, dass das einen Zweck hat», sagte Danielle gleichmütig. «Was soll’s auch. Ich bin nicht krank. Ich fühle mich wohl, und ich arbeite gern hier im Garten. Sicher war ich Gärtnerin. Wahrscheinlich ist mir ein Apfel auf den Kopf gefallen!»
«Gärtnerin? Wo? Was für ein Garten? Schließt Eure Augen, stellt Euch einen Garten vor und beschreibt ihn mir!»
Danielle sprang auf. «Was soll ich denn da beschreiben? Wir haben doch einen Garten vor uns! Genug geredet. Ich muss nun wirklich Alix helfen!»
Er sah Danielle hinterher, die Alix die Hacke aus den Händen nahm und mit ihrer Arbeit fortfuhr, ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. Alix kam herangewackelt und nahm neben ihm Platz.
«Hast eine neue Arznei für mich, Medicus?» Sie streckte die Hände aus. Ihre Knöchel waren geschwollen. Carolus hob seine lederne Tragetasche auf, die er neben die Bank gestellt hatte. Er zog ein irdenes Tiegelchen hervor und nahm den Stopfen heraus.
«Und? Hast du etwas erreicht bei ihr?», fragte Alix, während er ihre knotigen Gelenke mit der wärmenden Salbe einrieb.
«Nicht viel», knurrte Carolus, ein wenig ärgerlich auf sich selbst «Sie ist ein schwieriger Fall.»
«Hehe! Du hast gedacht, du musst nur lächeln und ihr tief in die Augen sehen, und schon wird sie dir ihr kleines Herzchen ausschütten!», sagte Alix.
Tatsächlich hatte er etwas in der Art gedacht. Aber Carolus setzte sein würdevollstes Gesicht auf: «Ich bin Arzt!»
«Als ob das was erklären würde! Jung und hübsch und ein bisschen eitel bist du. Glaubst du etwa, bloß weil ich alt wäre, wüsste ich nicht mehr, wie junge Männer sind?»
«Was hat mein Aussehen damit zu tun? Meine Kunst verlangt Einfühlungsvermögen aber auch einen gewissen Abstand zum Patienten. Sachlichkeit vor allem. Systematisches Vorgehen!», verteidigte Carolus sich.
«Genau!», lachte die alte Begine. «Vielleicht solltest du erst einmal Ordnung in deinem eigenen Kopf schaffen. Was genau willst du denn behandeln? Welcher Teil von ihr ist krank, wenn überhaupt? Welche Methode ist angemessen?»
«Ach, Alix», seufzte der junge Medicus. «Ich gebe mich geschlagen. Du hast völlig recht. Was ich brauche, ist ein Fachmann für Seelen. Aber mit dem Abbé kann ich nicht sprechen. Ich habe schon gehört, was er mit eurer armen Danielle veranstaltet hat! Aberglauben! Reinste Barbarei!»
«Dann sprich doch mit Bruder Calixtus. Der hat das Herz am rechten Fleck.»
«Richtig! Ich danke dir.» Er fühlte sich plötzlich so erleichtert, fast hätte er die alte Begine geküsst.
Carolus suchte den Franziskanermönch in seinem Kloster auf, im ärmsten Viertel der Stadt, nahe der Porte du Chien, dem Hundetor.
«In der Tat: Eine verzwickte Frage. Da würde ich gerne den Infirmarius und unseren Bibliothekar hinzuziehen», sagte Calixtus nachdenklich, als er Carolus im Besucherraum empfing. Er eilte davon, seine Brüder zu holen. Der Medicus schaute sich um: Der Besucherraum gleich neben der Pforte, vom Klaustrum streng abgeteilt, war eine schlichte Zelle mit weißgekalkten Wänden. Ein Tisch stand darin und vier Schemel. An der Wand gegenüber dem hohen, winzigen Fenster hing ein geschnitztes und bemaltes Halbrelief von einem Mönch in brauner Kutte, der einem Wolf gegenüberstand.
Während er wartete, kam ein sehr junger Mönch herein, ein Kind noch mit rosigen haarlosen Wangen, und brachte einen Becher verwässerten Weins und ein kleines, mit Oliven gefülltes Brot. Schweigend stellte er die Gaben vor dem Gast auf die saubergeschrubbte Tischplatte aus Pinienholz und verschwand wieder.
Nach einiger Zeit hörte Carolus Stimmen auf dem Gang. Die Tür ging wieder auf, und Calixtus kam herein, gefolgt von zwei weiteren Mönchen. Er stellte sie ihm vor.
«Dies ist Basilio, unser Infirmarius.»
Der kam ohne Umschweife zum Thema: «Ich habe zwar noch nie mit Geisteskrankheiten zu tun gehabt, denn meine Brüder neigen eher dazu, sich bei der Feldarbeit in den Fuß zu hacken oder sich beim Knien in der kalten, feuchten Luft einen Schnupfen zu holen. Aber vielleicht fällt mir doch etwas Nützliches ein», sagte er, ein kräftiger, stämmiger Mann von etwa dreißig Jahren. Calixtus stellte den zweiten Mann vor: «Und das ist Athanasius, unser Bibliothekar.» Das war unschwer zu erkennen, da der so Bezeichnete etliche Pergamentrollen und Codices bei sich trug, die er auf dem Tisch verteilte. Athanasius’ Körper wirkte weich und blass, wie der eines Menschen, der selten das Sonnenlicht sieht.
Carolus nickte beiden freundlich zu.
«Offenbar hat Calixtus euch schon ungefähr gesagt, um was für eine Art von Patientin es sich handelt. Als geisteskrank würde ich sie übrigens nicht bezeichnen, da sie ansonsten von klarem Verstand und normalem Verhalten ist. Sie lacht – wenn auch selten –, sie weint, sie spricht, sie arbeitet und betet. Sie scheint sogar die Fähigkeit zur Zuneigung und Verantwortungsgefühl zu besitzen, was man von Wahnsinnigen eher nicht sagen kann. Ich frage mich Folgendes», hier unterbrach sich Carolus und versuchte, seine Gedanken zu ordnen: «Ist sie überhaupt krank? Wenn ja, welcher Natur ist ihre Krankheit? Wo sitzt sie, in welchem Organ? Kann man sie behandeln? Soll man sie überhaupt behandeln?»
«Halt! Halt!», rief Athanasius. «Nicht so rasch. Die letzte Frage kann ich dir sofort beantworten: Da die Erinnerung vonnöten ist, um Sünden zu bereuen, ist es schon zum Wohle der unsterblichen Seele dringend erforderlich, diese wiederzuerlangen!»
«Also betrachten wir sie als krank und müssen sie behandeln. Welcher Natur ist aber ihre Krankheit? Welcher Teil ihres Körpers ist betroffen? Wo sitzt die Erinnerung?»
Der Bibliothekar suchte in den Dokumenten, die er mitgebracht hatte. Er zog schließlich eines hervor und legte einen dicken Zeigefinger mit sehr kurz geschnittenem Fingernagel auf die betreffende Stelle: «Platon beschrieb epithymetikon, die Triebseele, sie steuert die elementaren Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrungsaufnahme, aber damit hat sie ja keine Schwierigkeiten, wie du sagst. Sodann: thymoeides, die Affektseele, zuständig für die Gefühle: Angst, Zuneigung, Wut und dergleichen. Auch dieser Teil der Seele scheint bei ihr funktionsfähig zu sein, wie ihr erwähnt habt. Es bleibt also das logistikon, die Vernunftseele, der das Denken, die Erkenntnis und das Gedächtnis unterliegt. Und da, wenn ihr mich fragt, sitzt das Problem! Und das ist umso schlimmer, als doch einige unserer Lehrer behaupten, dass nur die Vernunftseele unsterblich ist. Wie könnte also ein Mensch kränker sein als sie?» Er hob seine Hand in einer seltsam graziösen Gebärde, der Ellbogen leicht abgespreizt, die Hand mit dem gestreckten Zeigefinger halb geöffnet, als hätte er die Geste von einer Statue abgeschaut: «Wahrlich, ein schwerer Fall, Brüder! Eine fürchterliche Krankheit!»
«Und wo sitzt diese Vernunftseele, in welchem Organ?», fragte Carolus. «Ich habe an der Sorbonne gelernt, dass die Seele in den Eingeweiden beheimatet ist»
«Nein, nein! Das ist ganz falsch, Bruder! Sie sitzt in der Kehle!», rief Basilio. «In der Bibel steht vielfach zu lesen, dass der Geist, also die Vernunftseele, dem Menschen von Gott eingehaucht wurde, also auf demselben Weg wie der Odem.»
«Übrigens», warf Athanasius ein, «heißt das hebräische Wort ‹nafäsch› für Seele auch ursprünglich ‹Kehle›!»
«Andererseits, wenn ich es recht bedenke, müsste die Seele eher in der Lunge zu finden sein, denn das ist der Ort, an den der Lebensodem geht. Hebt und senkt sich die Brust nicht mehr, dann ist die Seele gewichen und der Körper ist nur mehr eine Hülle. Das habe ich oft gesehen. Behandelt die Lunge!»
«Was für eine simple Vorstellung! Sagt nicht Thomas von Aquin, dass die Seele Form ohne Materie ist und nur deshalb unsterblich?! Man kann doch etwas Göttliches wie die Seele nicht mit Pflastern behandeln oder mit einem Aufguss aus Salbei», ereiferte sich der Bibliothekar. «Das stellst du dir zu einfach vor, mein lieber Basilio! Nein, nein, so geht das nicht.»
«Aber wenn es eine Form der Traurigkeit ist, dann versucht es doch einmal mit Süßigkeiten. Ich habe beobachtet, dass die Traurigkeit, die meine Brüder im Winter befällt, mit Honigkuchen oder Mandelkonfekt gelindert werden kann», erwiderte Basilio.
«So einfach kann es nicht sein. Sie wird bei den Beginen gut genährt und bekommt auch süßes Kompott, Latwergen und Ingwerkuchen. Das hat aber alles nichts bewirkt», mischte Carolus sich ein. «Ich habe auch eine Menge gelesen von unangenehmen mechanischen Heilmethoden, die eigentlich nur auf den Körper zielen: Fesseln, Folter, plötzliches Untertauchen, Klistiere und Aderlässe.»
«Wie man hört, hat es unser tapferer Abbé Grégoire ja mit dem Untertauchen auch schon versucht!»
«Was ihren Zustand übrigens in keiner Weise gebessert hat», gab Carolus zu bedenken, «und auch Hippokrates hilft mir wenig, da er alle Störungen auf das Ungleichgewicht von Säften zurückführt. Ihr sagt mir aber, die Seele sei unkörperlich – und das denke ich auch. Übrigens leidet sie ja nicht an Traurigkeit, Melancholia, einem Übergewicht von schwarzer Galle. Nein, sie scheint meist ganz heiter und gelassen. Es ist allein ihr Gedächtnis, das betroffen ist.»
«Das Gedächtnis oder das Erinnerungsvermögen? Wir müssen genau sein», bemerkte Athanasius. «Ich habe hier eine Abhandlung des genialen, wenn auch leider heidnischen Aristoteles: ‹Über Gedächtnis und Erinnerung›. Wo war es noch gleich …» Er beugte sich tief über die Seiten des Codex und nahm wieder den Finger zu Hilfe: «Aha! Hier sagt er, das Gedächtnis sei nur indirekt eine Fähigkeit des Denkens, eher eine Funktion der allgemeinen Wahrnehmung, die wiederum auch Tiere besitzen.»
Er richtete sich auf und grinste Calixtus an: «Erinnerst du dich an den Köter, den du mal hattest, Calixtus?»
Calixtus lachte. «Ja, da war so ein wilder Hund, der sich immer in der Nähe der Kirche Saint Pierre herumtrieb. Nachdem ich ihm ein paarmal Futter gebracht hatte, verband er meinen Anblick so sehr mit Nahrungsaufnahme, dass ihm der Speichel immer schon herunterlief, wenn er meiner ansichtig wurde. Aber ist das nun Gedächtnis, oder handelt es sich um Erinnerung? Und was ist denn nun der Unterschied?»
«Hört zu!», rief Athanasius mit triumphierender Stimme: «Hier steht es nämlich: ‹Wenn man das Wissen oder die Wahrnehmung, die man früher hatte, wiedererlangt, dann ist dies Erinnerung … Weiter sagt er hier: ‹Erinnerung muss auf einem Prinzip gründen, das höher ist als das, von welchem ausgehend man sich zu erinnern lernt.›
Es ist also ein willentlicher Prozess. Der Gegenstand des Gedächtnisses ist eingeprägt als ein Abdruck des Seienden und daher immer noch vorhanden. Wie aber kann man darauf wieder zugreifen? Es ist Euch doch auch schon begegnet, dass ihr Euch an etwas zu erinnern wünscht, von dem Ihr genau wisst, dass es vorhanden ist, in Wirklichkeit und als Abbildung. Aber manchmal kann man es nicht aufspüren – so wie einen Gegenstand, den man verlegt hat. Man weiß, dass er vorhanden ist, aber man findet ihn nicht.»
«Aristoteles rät die Erinnerung in Form der Bewegung anzustoßen. Von einem Gegenstand zum anderen …», er vollzog mit den Fingern eine hüpfende Bewegung auf der Tischplatte. «Vom Korn zum Huhn zur Hühnersuppe zum Tag, an dem wir sie zum ersten Mal gegessen haben, an dem etwas Bestimmtes geschehen ist …»
«Dann muss ich nur noch das Korn finden, das die Assoziationsreihe in Gang setzt», rief Carolus. «Ja, das will ich versuchen!»
Er versuchte es mit einem einfachen Fragespiel, als er das nächste Mal bei Danielle im Garten saß. Oft genug war sie ihm ausgewichen, hatte angeblich zu viel Arbeit, versteckte sich im Stall, wenn sie ihn kommen sah, und war dann nicht aufzufinden – oder sie war schlicht «unpässlich», bis Juliana es satt hatte und einen festen Rhythmus für die Gespräche festlegte.
«Lilien?»
«Veilchen.»
«Salz?»
«Schinken.»
«Weiß?», fragte er.
«Wolken», antwortete sie. Und damit war das Spiel auch schon beendet. Er hatte gehofft, es würde zu einer Assoziationskette kommen: Weiß, Schnee, Alpen zum Beispiel – und dann zu einer Stadt, in der sie gewesen war. Oder: Weiß, Milch, Mutter … Aber das halsstarrige Weib gab immer Antworten, von denen aus man nicht weiterkam. Frustriert griff er in sein Wams und holte Walnüsse hervor. Er legte sie neben sich auf die Bank und begann zwei davon in seinen Händen gegeneinanderzudrücken, um sie zu knacken.
«Annik sagt, ich sollte Euch wenigstens füttern, während wir hier müßig herumsitzen.»
«Sie findet, ich sei immer noch so dürr wie eine alte Ziege.»
Das gab Carolus die Gelegenheit, ihre Figur genauer in Augenschein zu nehmen.
«Ich finde, Ihr seht genau richtig aus. – Ich spreche natürlich als Arzt», fügte er hastig hinzu und errötete.
Danielle errötete ebenfalls.
«Esst!» Er hielt ihr die Kerne der Nüsse in seiner offenen Hand hin.
‹Esst› – eine Männerhand, die ihr Nusskerne hinhält. Sie stehen unter einem alten Nussbaum. Nackte Zweige ragen in den Himmel. Eingerollte, fleckige Blätter bedecken den Boden, dazwischen die aufgeweichten braunen Außenschalen der Nüsse. Es ist Spätherbst, Regen tropft von den windgeschüttelten Zweigen. Nebelschwaden treiben über die Wiese, aus dem Wald, ringeln sich um ihre Füße, Füße in ehemals gutem, aber jetzt abgelaufenem Schuhwerk. Sie ist hungrig. Wann hat sie zuletzt gegessen? Sie ist in den Garten gekommen, um zu stehlen, ja, zu stehlen. Ein Kind hat sie entdeckt, hat nach seinem Großvater geschrien: ‹Pépé! Komm schnell, ein Dieb! Ein Dieb in unserem Garten!› – ‹Dem werd ich helfen!› – eine Männerstimme, tief und heiser. Er kommt auf krummen Beinen angerannt, ein alter Mann, und fuchtelt mit einer Sense, lässt sie dann sinken. ‹Ach je! Es ist doch nur eine Bettlerin. Armes Ding. Du musst hungrig sein. Nimm, da! Iss!› Sie klaubt die frischen Nüsse aus seiner Hand, steckt sie hastig in den Mund, ohne den Mann aus den Augen zu lassen: weiche, milchige Nüsse, noch voller Saft. Da ist auch eine junge Frau, sie betrachten einander mit großen Augen. Die junge Frau bringt eine hölzerne Schüssel mit dicker Graupensuppe heraus. ‹Da, setz dich auf die Bank.› Die Frau setzt sich neben sie, das Kind nimmt vor ihr Aufstellung und betrachtet sie neugierig. ‹Bist du ganz allein auf der Wanderschaft – als Frau?›, fragt die Häuslerin. ‹Es hat mich keiner gefragt, ob es mir recht ist›, antwortet die Bettlerin. ‹Lebst du allein hier mit den Kindern und nur dem Großvater?› – ‹Ja›, sagt die Häuslerin. ‹Mein Mann ist voriges Jahr zum Kriegsdienst eingezogen worden. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Es ist schwer für uns, die Felder zu bestellen, aber die Kinder helfen schon. Es muss eben gehen.› Die Bettlerin nickt höflich und mechanisch. Sie ist benommen, taub für alles seitdem … Diese Nacht darf sie in der Scheune schlafen, trocken und halbwegs warm im Heu. Am Morgen sind die Grashalme und die abgefallenen Blätter mit Reif überhaucht. Der Winter kommt. Sie wandert weiter, gen Süden, und isst Nüsse im Laufen.
Annik schaute aus der Küchentür und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Magdalène drängte sich an ihr vorbei und machte einen langen Hals: «Was machen sie da?»
«Sie schaut verträumt, und er beobachtet sie», flüsterte Annik. «So will er sie heilen? Indem er einfach neben ihr sitzt? Wie soll das gehen?»
«Er soll sie dazu bringen, sich zu erinnern. Und ich glaube, er mag sie!»
Annik kicherte: «Oh, bist du schon wieder bei deiner Lieblingsbeschäftigung? Du willst sie also verkuppeln!»
«Psst, nein, ich doch nicht! So was darfst du nicht einmal denken! Aber wenn seine Gegenwart ihr guttut und ihre Gegenwart ihm guttut – das kann doch nicht schaden, oder? Lassen wir sie in Ruhe!» Magdalène packte die kleine Küchenfrau bei den Schultern und schob sie wieder hinein.
«Sie waren aber ganz frisch», sagte gerade Danielle.
«Wie?»
«Die Nüsse. Sie waren frisch vom Baum.»
Carolus schaute sie von der Seite an.
«Ach nichts. Ich habe mich an andere Nüsse erinnert, die ich einmal gegessen habe.»
«Wo war das?», fragte Carolus plötzlich sehr interessiert.
Danielle machte eine Handbewegung: «Irgendwo im Norden.»
«Die Nüsse waren frisch, also wart Ihr im Herbst im Norden. Wie weit im Norden? Erinnert Ihr Euch an einen Namen, eine Stadt?» Er betete die Namen der großen Städte her, die an den Handelsstraßen lagen: «Lille inmitten von Weinfeldern, Cambrai – es ist dort alles voll mit Webereien und Tuchläden, vor den Türen sitzen die alten Frauen und klöppeln Spitzen –, die Kirchenstadt Arras; Rouen: Salzhandel, Austern und Fische? Nein?»
Danielle schüttelte den Kopf.
«Reims – eine gewaltige Kathedrale, erst vor zehn Jahren fertiggestellt, die dreischiffige Basilika, die Westfassade so reich mit Reliefs und Figuren verziert, mit Faltenwurf, sodass Ihr den Wind sehen könnt, der ihnen in die Kleider fährt da oben …» Er kam ins Schwärmen: «… über jeder Figur ein Baldachin aus Stein, und innen Netzgewölbe, die hoch in den Himmel streben, ja gleichsam den Himmel auf die Erde herunterbringen. Alle Formen und Verhältnisse sind perfekte Mathematik, die Musik des Göttlichen spricht dort zu einem … wenn Ihr dort gewesen wärt, könntet Ihr es nicht vergessen haben. Dijon, spezialisiert auf Senf? Nichts?»
Danielle war auf der Bank nach vorn gerutscht, saß nur noch halb, auf dem Sprung.
«Paris? Die Kathedrale Notre Dame, an der seit zweihundert Jahren gebaut wird, mit ihren beiden mächtigen Türmen und der Fensterrose, die das Tageslicht verwandelt in ein violettes und purpurnes Mysterium! Die Seineinseln, die Häuser auf den Brücken, die Mühlenräder unter der Mühlenbrücke? Und die Studenten in ihren bunten Kleidern auf dem linken Ufer, Saint Germain, die Buchläden und die Kopistenwerkstätten …»
Fast zornig schüttelte sie den Kopf und sprang auf. «Genug für heute!» Und verschwand in der Webstube.
«Paris», murmelte Carolus. Ob er wohl seinem Bekannten an der Sorbonne schreiben sollte? Unwahrscheinlich, dass der etwas wusste. Paris war eine so große Stadt! Aber in der Not griff man eben nach jedem Strohhalm.