Es dauerte nicht lange, da musste Carolus einsehen, dass er das Pferd unmöglich im Galopp bis nach Aix treiben konnte. Dem armen Vieh troff Schaum vom Maul. Er sah sich gezwungen, es im Schritt laufen zu lassen, obwohl sein Blick und seine Sehnsucht vorausflogen. Eine solche innere Hast verspürte er, dass er am liebsten abgesprungen und gerannt wäre.
Davorn hinter den Hügeln lag Aix, einstmals Aquae Sextae, mit seinen zahlreichen warmen und kühlen Quellen, wo Gaius Sextus Calvinus und seine Legionen ihre Wunden kuriert hatten. Der Feldherr Marius schlug die Teutonen und tat es dann Gaius Sextus nach. Caesar und Augustus hatten Thermen bauen lassen, die ein Wunder waren in der barbarischen keltoligurischen Welt. Die Römer brachten Kultur, Bürokratie und Sauberkeit. Wunderbare Eigenschaften sagte man dem Wasser von Aquae Sextae nach: Alte fühlten sich erfrischt und verjüngt, Schwache und Sieche wurden wieder kräftig, wenn sie von dem Wasser tranken, Hautkrankheiten verschwanden, unfruchtbare Frauen empfingen nach einem Bad. Böse Zungen machten dafür allerdings eher die losen Sitten in den Badehäusern verantwortlich.
Die Grafen der Provence verschönerten die Stadt nach ihrem Geschmack. Wer etwas auf sich hielt, besaß ein Haus in Aquae Sextae. Aix, die Schöne, die Reiche, zog aus weitem Umkreis alles Leben an sich. Wo anders, dachte Carolus, konnte die sein, die er suchte? Viele Reisende strömten dorthin, nur wenige von ihr fort. Die Straße entlang zogen Bauern mit Eseln, deren Tragekörbe überquollen von den Nahrungsmitteln, die in der Stadt benötigt wurden. Carolus überholte einen Alten, der einen Buckelkorb voller Porree schleppte und sich noch vier oder fünf Hühner um den Hals gehängt hatte. Da ging eine Gruppe Mönche zu Fuß und ein Korbflechter, hochbeladen mit seinen Produkten: Körbe in allen Größen und Formen standen von ihm ab wie das gesträubte Federkleid eines Vogel Roch. Zwei Jäger kamen zwischen den Zypressen heraus und reihten sich ein in den Zug. Sie hatten Fasane und Hasen geschossen, die sie in der Stadt verkaufen wollten. Ein Mann stand am Straßenrand und jammerte. Sein Karren war halb umgekippt, ein Rad hatte sich gelöst. Die Melonen, die er geladen hatte, waren von der Ladefläche gerollt, sie sahen aus wie hellgrüne Bälle, überzogen mit gelblichen Netzen. Ein paar von ihnen waren aufgeplatzt. Über dem hellen orangefarbenen Fleisch summten bereits die Fliegen.
Die wenigen, die ihm entgegenkamen, fragte Carolus: «Habt ihr eine einzelne Begine gesehen im weiten Rock und Kittel aus ungefärbter Wolle, mit einem Schleiertuch, wie eine Nonne?» Doch niemand konnte ihm die Auskunft geben, die er erhoffte.
Je näher er der Stadt kam, desto spärlicher wurde der Wald. Rundum erstreckten sich Felder, Weinberge und Obstgärten. Aix war so groß … wenn Pertuis ein Glas war, dann war Aix ein Fass. Wo sollte er zu suchen anfangen?
Er sah sich um und entdeckte nicht weit von der Straße eine einfache Herberge.
‹Sie hat kein Geld›, dachte er. ‹Wo wird sie also schlafen? Unter freiem Himmel? Lau genug ist es noch. Ob sie im Heuschober eines Bauern Unterschlupf gefunden hat?› Er konnte und mochte sich nicht vorstellen, dass sie mit anderen Bettlern nächtigte, unter einer Brücke, in einem unbewohnten, halbverfallenen Haus, auf einem Friedhof oder in einer Mauerecke.
Während er noch überlegte, entschied sein Pferd für ihn. Eigensinnig zerrte es am Halfter und schlug den Weg zum nächsten Stall ein, wo es seine Artgenossen witterte und Heu und Wasser im Trog.
«Ist gut, ist schon gut, du unverständiges Vieh. Bei dir wohnt die Seele im Magen, das steht fest», brummte er. Er beschloss, die Nacht hier zu verbringen und morgen frisch und bei Tageslicht mit seiner Suche zu beginnen.
Die Herberge war ein zweistöckiges Haus aus Feldsteinen, kompakt und vierschrötig wie ein alter Soldat und ebenso narbig und verwittert. Als Carolus abstieg, schoss von irgendwoher ein halbwüchsiges Kind heraus, dessen Geschlecht unter weiten Hosen und Kittel nicht zu erahnen war. Ohne Carolus anzusehen, griff es nach dem Halfter und wollte das Pferd wegführen.
«Halt! Ich weiß noch nicht, ob ich hierbleiben will», sagte Carolus.
Das Kind wies mit dem Kinn in Richtung der Stadt. «Alles voll», nuschelte es. «Es ist Weinfest.»
Es war ein Wunder, dass hier noch ein Mensch zum Arbeiten kam, bei all den Festen: Das Fest der «Belle Estelle», des schönen Sterns, die Sonnwendfeuer, das Frühlingsfest, die Feste der Schutzheiligen, die Prozessionen und die Stierkämpfe, Weinfeste, Käsefeste, Grands marchés, Grands Aiolis, Ölfeste und was nicht alles!
«Habt ihr denn noch Platz für mich?»
«Denk schon. Ihr müsst die Mutter fragen. Die ist da drin», antwortete das Kind
Carolus nahm die Satteltaschen ab und hängte sie sich über die Schulter. Den Gaul überließ er dem Kind und ging hinein. Drinnen umfing ihn augenblicklich ein Dämmerlicht und der Dunst von gerösteten Zwiebeln und Wein. Dichtgedrängt saßen die Gäste, meist Reisende wie er, ein paar Bauern dazwischen. Der eine lauste sich, nebenan spielten drei Kerle ein Würfelspiel, von Gepolter, ausholenden Gesten und Geschrei begleitet, andere daneben aßen oder unterhielten sich. Dazwischen rannten zwei junge Weiber geschäftig hin und her. Mit geübtem Hüftschwung wichen sie den Händen aus, die nach ihren Brüsten und Schenkeln grapschten, verteilten abwechselnd Kopfnüsse und Brot, füllten die Becher und trugen leere Schüsseln ab. Die jüngere von beiden, eine hübsche Kleine mit schwarzem Haar und einem Gesicht wie ein praller Pfirsich, bahnte sich einen Weg zu ihm durch und lachte ihn an.
«Nur trinken und essen, oder brauchst du einen Platz zum Schlafen?»
«Alles», antwortete Carolus.
«Du kannst ein Zimmer für dich allein haben, das kostet ein Silberstück, mit Essen und Wasser zum Waschen. Ein Strohsack im Gemeinschaftsraum kostet nur einen Denier, Essen inbegriffen. Zwiebelragout. Braten kostet extra», zählte sie auf.
Carolus hätte gern eine Kammer für sich gehabt, aber er war nicht allzu wohlhabend. Und wie lange seine Suche dauern würde, das wusste er nicht.
«Der Gemeinschaftsraum genügt mir», sagte er.
«Dann geh erst mal rauf und belege einen Schlafplatz. Es genügt, wenn du ein Kleidungsstück drauflegst, dann gehört er dir für die Nacht. Und dann komm herunter, und ich bring dir was Gutes.» Sie lächelte ihn an. Auf ihrer Wange entstanden Grübchen.
Er erklomm ein paar steile, enge Stiegen und fand oben den Schlafraum. Fast alle Plätze waren schon belegt. Er warf sein Barret auf ein Lager nah an dem winzigen Fenster, wo er etwas frische Luft haben würde, und ging wieder hinunter.
«Wo ist der Stall?», fragte er in die Runde.
«Hinten, auf der Rückseite!», rief ihm jemand zu. Er ging hinaus und um das Gebäude herum und vergewisserte sich, dass Marius’ Pferd auch gut versorgt war. Jemand hatte es abgerieben und ihm einen Futtersack umgehängt. Es sah zufrieden aus.
Als er wieder in die Gaststube kam, suchte er sich einen Platz in einer Ecke. Die junge Frau kam und stellte Becher und Krug vor ihn hin. «Also: Braten oder Zwiebelragout?», wiederholte sie. Sein Magen knurrte vernehmlich. Einen Augenblick kämpfte er mit sich. Der Duft des gebratenen Fleisches stach ihm in die Nase: «Zwiebeln», sagte er entschlossen. «Und Brot!»
«Brot ist dabei!» Sie glitt durch die Bänke davon. Er schaute sich um und beobachtete die anderen Gäste. Plötzlich versperrte ihm ein gewaltiger Wanst den Blick. Er schaute hoch und in das fleischige, rote Gesicht der Patronne.
«Der Schlafplatz, Essen, Wein und der Platz für Euren Gaul – macht acht Deniers. Im Voraus!», krächzte sie. Carolus kramte in seiner Geldkatze nach den passenden Münzen. Ihre Augen schätzten den verbliebenen Inhalt genau ab. Rasch ließ er den Beutel wieder unter dem Hemd verschwinden. Finger wie Würste schlossen sich um seine Münzen. Der Blick in den Raum wurde wieder freigegeben.
Die junge Frau kam zurück und legte eine dicke Scheibe Brot vor ihn auf den Tisch als Teller und gab eine reichliche Kelle gebratener Zwiebeln darauf. Es waren sogar ein paar halbverbrannte Stückchen Speck darunter.
«Guten Appetit!», wünschte sie ihm. «Wenn du mehr willst, wink mir zu!»
Carolus zog sein Messer aus dem Gürtel und spießte damit die Zwiebeln auf. Als er die Brotscheibe leer gegessen hatte, ließ er sich noch einmal aufgeben. Zum Schluss aß er das saftgetränkte Brot. Der Wein schmeckte schauderhaft, aber immerhin roch er so nach Essig, dass er vermutlich allen Schmutz im Fass unschädlich gemacht hatte. Carolus verspürte wenig Lust auf mehr. Inzwischen waren nur noch wenige Gäste im Raum. Die junge Frau kam zu ihm und ließ sich neben ihm auf die Bank fallen.
«Das war wieder ein Tag!», stöhnte sie, lächelte aber dabei. «Und woher kommst du? Was führt dich nach Aix?»
Er erzählte es ihr.
«Oh, das ist ja herrlich! Wie galant von dir, ihr nachzureiten! Ich wünschte, das würde einer mal für mich tun.»
«Dazu müsstest du erst fortlaufen», sagte Carolus.
Sie prustete los und schüttelte die schwarze Mähne. «Warum sollte ich vor meinem Schatz weglaufen? Ich liebe ihn ja und möchte ihn keinen Augenblick missen.» Ihre Augen wurden groß. «Entschuldige! Das hätte ich nicht sagen sollen. Aber du hast ja gesagt, dass sie in Pertuis eines Verbrechens beschuldigt wurde. Sie ist sicher aus Angst und nicht vor dir weggelaufen.»
«Aber hätte sie nur einen einzigen Tag gewartet, dann hätte sich ja alles aufgeklärt! Sie hatte es ja nicht getan! Wie konnte sie nur so unvernünftig handeln?», sagte Carolus verzweifelt.
«Na, weißt du, Vernunft und Angst, die vertragen sich nicht gut. Wenn man Angst hat, dann macht man dumme Sachen. Wusste sie denn, dass du dich für sie ins Zeug legst?»
«Nein», erwiderte Carolus traurig.
«Hast du vielleicht eine Idee, wo in Aix ich anfangen könnte zu suchen?»
Das Mädchen rieb sich nachdenklich das Kinn. «Das Kloster Saint Saveur vielleicht? Die haben ein großes Hospital, wo sie auch arme Reisende aufnehmen, für eine Nacht. Das wird aber auch vollbelegt sein. Du müsstest alle Klöster in der Stadt abklappern, das Hospital Saint Jacques, die Frauen-Klöster Sainte Claire und Saint Barthelemy am ehesten, oder? Dann die Carmeliter, die Augustiner …»
«Aber würden die auch eine Begine aufnehmen?», fragte Carolus.
«Das weiß ich wirklich nicht. Aber dahin würde ich gehen, wenn ich arm wäre und nicht wüsste, wohin. Ansonsten wäre ich jetzt während des Festes auf dem Schlossplatz. Da ist was los, da sitzt das Geld locker, da zieht es alle Bettler hin.»
«Louisa! Der Abwasch macht sich nicht von allein!», rief die Wirtin zu ihnen hinüber.
Die junge Frau sprang auf.
«Schlaf besser auf deiner Börse, pass gut auf!», flüsterte sie ihm zu, bevor sie zur Küche eilte.
Carolus schlief schlecht. Sobald es hell wurde, stand er auf und ging hinunter in die Schankstube, wo noch die Bänke auf den Tischen standen. Verschlafen und mit verquollenen Augen tauchte die Wirtin aus ihrer Kammer auf.
«Ich bleibe mindestens noch eine Nacht», sagte Carolus und zählte ihr das Geld in die Hand. Er holte sein Pferd aus dem Stall und ritt durch die Felder, vorbei an einer Ziegelei. Auf einem Hügel sah er Galgen stehen. Daran baumelte, was die Krähen übrig gelassen hatten. Schnell wandte er den Blick ab.
An der Porte des Augustins hieß man ihn absteigen.
«Ihr könnt nicht hineinreiten. Es ist zu voll da drinnen», sagten die Wachen am Tor. «Am besten lasst Ihr das Tier in einem Mietstall. Dort entlang, an der Innenseite der Stadtmauer in der Rue Sextius, da findet ihr den nächsten.» Carolus folgte ihrem Rat und stellte den Braunen dort ein.
«Eigentlich ist alles belegt», sagte der Patron. «Aber in den anderen Ställen und Herbergen ist es ebenso. Wie lange wollt Ihr bleiben?»
«Das weiß ich noch nicht. Aber ich habe ein Quartier draußen vor den Mauern. Kann ich mein Pferd den Tag über hier lassen?»
«Ja, das geht, wenn es keinen Platz im Stall braucht. Bindet es da drüben an den Baum, dort hat es den ganzen Tag Schatten. Ich kümmere mich darum, dass es zu saufen und Futter bekommt.»
Carolus zahlte eine geringe Summe im Voraus und ging zu Fuß in die Stadt. Er pfiff einem der größeren Straßenkinder, einem dicklichen Jungen mit wachen Augen. «Willst du dir einen Denier verdienen?»
«Klar, Chef!», antwortete der.
«Dann führe mich heute durch die Stadt.»
«Gemacht! Exzellenz finden keinen besseren Führer als mich!» Der Junge maß Carolus von oben bis unten: ein junger Mann, gut gekleidet, gut in Form, flacher Bauch. Er musste unverheiratet sein. «Ich kenne die hübschesten Mädchen in der Stadt und alle Orte, wo man Spaß haben kann, ohne dass einem die Büttel auf die Nerven gehen», sagte er listig, «Mädchen, Wein, Spiel, oder wollt ihr zuerst in die Thermen? Dort könnt ihr alles auf einmal finden. Nur die Mädchen sind etwas gewöhnlich.» Carolus schaute ihn erstaunt an. Der Kleine hatte noch nicht mal Haare am Kinn und hörte sich schon so abgebrüht an!
«Danke, nein», wehrte er ab, «nichts dergleichen. Ich möchte, dass du mich zu allen Hospitälern führst, wo man Arme schlafen lässt und verköstigt. Ich suche jemanden.»
«Eine Frau?» Der Junge ärgerte sich. Hatte er sich etwa getäuscht? Von der richtigen Einschätzung der Kundschaft hing sein Verdienst ab. «Eure Frau? Ist sie Euch weggelaufen?»
«Nein, nicht meine Frau. Ich bin unverheiratet», erklärte Carolus.
Der Junge war zufrieden. Hatte er doch recht gehabt.
Carolus beschrieb sie ihm. «Sie ist erst seit ein paar Tagen hier. Vielleicht bettelt sie.»
Ein Denier pro Tag, das war kein fetter Verdienst. Diebstahl war lohnender, aber so war es sicherer. Und wer wusste das schon, vielleicht würde er bald genug haben von seiner Suche und sich doch im Badehaus erquicken wollen. Dann wäre noch eine Kommission zu holen. Der Junge war gewieft und entschlossen, seinen Kunden möglichst lange am Haken zu halten. Auf verschlungenen Wegen führte er Carolus durch die Gassen, bis er ganz die Orientierung verlor.
Die Schönheit und die Pracht nahm er nicht wahr, nicht die hohen Giebel, die vielen Brunnen, die auf jedem Platz die Luft erfrischten, nicht die Wasserspeier, die Steinmetzarbeiten, die Bögen und Türme, den neuen Getreidespeicher, die Thermen. Die Basilika Saint Sauveur mit ihren Mysterien und Spolien ließ er links liegen. Nach unten war sein Blick gerichtet, dorthin, wo die Bettler saßen und den Vorübergehenden ihre Schalen entgegenhielten.
Er hockte sich zu ihnen hin und verhandelte, während der Bengel gelangweilt danebenstand. Was vertrödelte der Narr seine Zeit mit Krüppeln und Aussätzigen, da doch Aix jede erdenkliche Vergnügung und jeden Luxus bot? Und dieser Mann war nicht einmal ein Mönch!
«Hast du eine dunkelhaarige Frau gesehen, eine Bettlerin in Nonnengewändern?», fragte Carolus einen Einbeinigen. «Dunkle, kurze Locken, Narben hier und da, ungefähr so groß?»
Der Bettler machte eine reibende Geste mit Daumen und Zeigefinger.
«Was zahlste denn, wenn ich sie gesehen habe?», fragte er.
«Ich gebe dir ein Kupferstück für eine ehrliche Antwort», erwiderte Carolus.
«Erst das Geld!», feilschte der alte Krüppel.
Er gab es ihm.
«Hab keine gesehen, so eine wie du sagst. Aber meine Schwester, die ist auch nicht zu verachten! Ist noch Jungfrau. Hat auch braune Haare und solche Augen!»
«Von wegen! Die kenn ich: Dem seine Schwester ist jedes Mal von neuem Jungfrau!» Der Junge spuckte aus und zog Carolus weiter. Sie klopften an die Klostertore, fragten in den Hospitälern und sahen in den Gossen nach, in den ärmsten Vierteln, unter den Brücken.
Jeden Abend fragte die schwarzhaarige Louisa ihn, ob er sein Mädchen gefunden hätte.
«Nein, wieder nichts», musste er jedes Mal antworten. Mitleidig brachte sie ihm noch einen Krug von dem grässlichen Wein und schob ihm eine Leckerei zu, einen kleinen Kuchen oder ein paar Mandeln.
«Ach, was ist das traurig! Wie dumm ist nur diese Frau, so einem netten Mann davonzulaufen! So einen wie ihn findet man nicht jeden Tag», sagte sie zu der anderen Serviererin, während sie die Töpfe mit Sand auswischte.
«Ich hätte nicht übel Lust, auch mal ein paar Tage zu verschwinden, um zu sehen, was meiner dann unternimmt.»
«Probier das lieber nicht aus. Nachher kommst du wieder, und er hat eine Neue», entgegnete die andere.
Am dritten Tag seiner Suche schließlich bat Carolus den Jungen, ihn zum Gefängnis zu bringen. Der Wachhabende steckte einen Sou ein, um ihn zum Kerkermeister zu bringen, der ein Stück Silber verlangte, um ihn durch den Frauentrakt zu führen.
«Wir kriegen jeden Tag ein Dutzend neue Weiber herein. Wie sie aussehen, ist mir gleich. Nach ein paar Tagen hier unten sind sie ohnehin alle dürr und grau und kriegen die Krätze.»
In einem langen feuchten Gang lagen vier Zellen nebeneinander, vergitterte, fensterlose Höhlen, aus denen ein unglaublicher Gestank drang. Leuchtete man mit der Fackel hinein, sah man Gestalten, die auf fauligem Stroh lagen, einzeln oder beieinander. Die Jüngeren kamen zum Gitter und drückten sich dagegen, murmelten flehentliche Bitten, Verheißungen oder rüttelten an den Stäben, einige fluchten und spuckten den Kerkermeister an. Carolus sprach ein Gebet und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er wieder auf der Straße stand. Am Mittag hatten sie Danielle immer noch nicht gefunden.
«Ich glaube nicht, dass sie hier ist, Eure Braut», sagte der Junge, der allmählich ein gewisses Mitleid empfand für diesen Verrückten.
‹Niemals werde ich mich verlieben, wenn es das ist, was einem dann passiert. Er hätte schöne Tage hier verleben können, saufen und huren und speisen wie ein Bischof! Stattdessen kriecht er in Verliesen und Hospitälern herum. Nein, so was passiert mir nie›, dachte er.
Entmutigt kehrte Carolus zum Mietstall zurück, um dort feststellen zu müssen, dass sein Pferd, Marius’ Pferd, gestohlen war.
«Oh, da hol mich doch …! Das tut mir leid, mein Herr! Diese Halunken! Ich wette, das war diese Gruppe Söldner, die heute hier waren, um sich in den Badestuben zu amüsieren! Und in dem Durcheinander, das sie anschließend veranstaltet haben, da haben wir den Überblick verloren und nicht gemerkt, welche Pferde sie genommen haben. Wir waren nur froh, die Kerle wieder los zu sein!» Der Besitzer des Mietstalls war empört und offenbar eine ehrliche Haut. «Ich ersetze Euch den Schaden selbstverständlich. Hier, nehmt das Geld und meine aufrichtige Entschuldigung an. Das ist mir furchtbar unangenehm!»
«Aber ich habe es eilig. Ich will Euer Geld nicht! Gebt mir ein anderes Pferd!», forderte Carolus wütend.
«Ich habe keines. Ich versteh ja, dass Ihr ärgerlich seid, aber das bringt den Gaul nicht zurück, Moussou. Was Ihr hier seht, sind alles nicht meine Tiere. Ich kann Euch kein Pferd verkaufen, und ich glaube auch kaum, dass in der Stadt für Geld oder gute Worte eines zu haben ist.» Der Mann zuckte bedauernd mit der Schulter.
Carolus sank der Mut. «Aber ohne ein Reittier hole ich meine Braut nie ein! Versteht Ihr denn nicht? Ich muss diese Frau unbedingt finden. Ohne sie will ich nicht weiterleben!»
«Ho! Man stirbt doch nicht aus Liebesleid. Das glauben nur die ganz Jungen.» Der Patron kratzte sich den Nacken. «Mein guter Mann, Euer Kummer und Eure Treue zu dieser Frau gehen mir ans Herz! Ich will Euch ja gern helfen. Lasst mich überlegen … ja, das Einzige, was ich Euch anbieten kann, ist mein altes Maultier! Es ist nicht schnell und manchmal etwas widerspenstig, aber dafür geht es über Steine und durch die garrigue, durch raues Gelände, wohin Ihr auch wollt. Wer weiß, wenn das Mädchen zu Fuß unterwegs ist, dann hält sie sich vielleicht nicht an die Landstraße, und Ihr holt sie so viel besser ein.»
Das Ende vom Lied war: Carolus nahm den Maulesel und bekam noch etwas Silber obendrein, um den Wertverlust auszugleichen. Das Tier hatte weiße Haare im Bart, kahle Stellen dort, wo es sein Lebtag lang Sättel und Taschen getragen hatte, und war so knochig wie das Abbild von Gevatter Tod auf einem Grabstein. Doch es hatte einen schlauen Blick und viel Erfahrung im Vermeiden von übermäßigen Anstrengungen. Carolus taufte es Methusalem.
An der Porte des Augustins reihte sich Carolus in die Warteschlange ein, um hinauszukommen. Vor ihm stand ein Mönch in brauner Kutte. Auch er führte ein Maultier an einem Seil bei sich. Der Mönch wandte sich zur Seite und streichelte sein Tier.
«Calixtus!», rief Carolus. «Was machst du denn hier?»
«Ah! Der junge Medicus! Ich war beim Erzbischof in einer Angelegenheit, meinen Orden betreffend. Und du, was führt dich nach Aix?», sagte Calixtus sichtlich erfreut.
Carolus erzählte es ihm.
«Schlaft nicht ein! Weitergehen!», schrie es von hinten.
«Heilige Jungfrau!», rief Calixtus. «Das ist ja ein reizender Schlamassel! Und wie unglückselig, dass sie geflohen ist! Was macht das für einen Eindruck?!»
«Aber ich habe doch alles aufgeklärt. Sie hatte nichts damit zu tun. Im Gegenteil! Ohne sie wäre Laura gestorben. Marius hat sich sehr für Danielle ins Zeug gelegt», beteuerte Carolus.
«Warum ist sie dann weg, wenn sie kein schlechtes Gewissen hatte, das frage ich mich», wandte Calixtus ein.
«Sie wusste ja nicht, wie es ausgehen würde. Und die Beginen haben sich gestritten ihretwegen. Jeanne meint auch, dass sie deswegen fort ist.»
«Ja, das ist möglich. Das wäre ihr zuzutrauen. Übrigens hast du sie in Aix ganz vergeblich gesucht. Erzbischof de Noves lässt keine Beginen in seine Stadt», sagte Calixtus.
«Drei Tage verloren!», fluchte Carolus leise.
«Und was hast du nun vor?», fragte der Mönch, während er sein Tier durch das Tor zog.
«Ich werde in Richtung Toulon reiten – so schnell, wie dieser Klepper es vermag – und versuchen, sie einzuholen.»
«Ich komme mit», sagte Calixtus. Carolus starrte ihn entgeistert an.
«Warum?»
«Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwie für sie verantwortlich bin. Schließlich war ich es, der sie zu den Beginen gebracht hat! Und was habe ich da nur angerichtet? Die Beginen sind zerstritten, Abbé Grégoire würde am liebsten die Inquisition in die Stadt bringen, Mestra Catherine versündigt sich an ihrer Schwester, deine Verlobung ist aufgelöst …», zählte Calixtus auf.
«Das wäre ohnehin nie etwas geworden.»
«Wie dem auch sei. Ich komme mit. Sie ist jetzt als Bettelbegine unterwegs. Das könnte Schwierigkeiten geben. Papst Clemens hat vor, auf dem Konzil nächstes Jahr die Bettelbeginen ganz verbieten zu lassen. Am liebsten würde er sie alle exkommunizieren! Oh, du ahnst ja gar nicht, mein Freund, was sich da zusammenbraut! Um ehrlich zu sein, war ich auch wegen der Beginen von Sainte Douceline beim Erzbischof, nämlich um ihn über alles in Kenntnis zu setzen und ihn zu überzeugen, dass sie gute und christliche Frauen sind, die seines Schutzes bedürfen. Der Kirchenklerus im ganzen Land ist sehr schlecht auf Beginen zu sprechen, besonders auf solche, die herumwandern und betteln. Und da könnte es sich als sehr vorteilhaft erweisen, wenn ich dir helfe.»
«Aber gern! Ich bin froh, dass ich nicht allein suchen muss», gab der junge Arzt zu.
«So, habt Ihr Eure Braut gefunden? Über Geschmack lässt sich nicht streiten», spottete Louisa, als die beiden zusammen die Herberge betraten. «Sie hat zwar ein Kleid an, aber sie ist flach wie ein Brett und hat Stoppeln im Gesicht.»
Calixtus grinste gutmütig.
Später, nachdem der größte Ansturm auf Zwiebelragout und Wein vorüber war, setzte sich Louisa zu ihnen, wie es ihre Gewohnheit war.
«Was wollt ihr tun? Wo wollt ihr sie suchen?», fragte sie.
«Wir vermuten, dass sie zurück nach Neapel will. Aber sie hat kein Geld für die Passage. Also nehmen wir an, dass sie versuchen wird, es sich zusammenzubetteln auf dem Weg nach Toulon», erklärte Carolus.
«Und wenn sie gar nicht nach Toulon geht? Wenn sie es stattdessen in Nizza versucht? Oder gleich bis nach Genua läuft? Du sagst, sie sei Italienerin. Vielleicht trifft sie dort auf einen mitleidigen Landsmann», gab Louisa zu bedenken.
Carolus’ Miene verfinsterte sich. Dass sein uraltes Maultier es bis Genua schaffen könnte, hielt er für ausgeschlossen.
«Und welchen Weg wird sie nehmen?», fragte sich Calixtus laut. «Was, wenn sie die Landstraßen meidet?»
«Bist du verrückt?», rief Louisa. «Eine Frau allein in den Hügeln? Nein, sie muss die Landstraße nehmen. Vielleicht wird sie sich sogar einer Gruppe anschließen, wenn man sie lässt, Kaufleuten, wandernden Mönchen – so etwas in der Art. Wo viele Menschen sind, ist sie einigermaßen sicher.»
«Warum denn das?», fragte Carolus erstaunt.
«Na, du bist ja ein Unschuldslamm. Du weißt wohl nicht, wie die Männer sind. Aber du bist so ein netter Kerl, du hast ja noch nicht einmal versucht, mich anzufassen. Da sind wir aber anderes gewöhnt! Deine Begine wandert ganz gewiss nicht auf einsamen Wegen, wenn sie es vermeiden kann.»
«So hatte ich das noch gar nicht gesehen!» Carolus schöpfte wieder Hoffnung.
«Und wenn sie eine Begine ist, glaubst du, dass sie die Gelegenheit verstreichen lassen würde, das Grab der heiligen Magdalena zu besuchen, der Gefährtin Jesu?», überlegte die Wirtshausmagd.
«Sie ist nicht seine Gefährtin gewesen. Der Herr Jesus hat keusch gelebt!», ereiferte sich Calixtus.
«Ja, ja, ich weiß, das hättet ihr gern! Sie ist sehr wohl seine Gefährtin gewesen und hat ihm sogar ein Kind geboren!», beharrte Louisa.
«Das ist nicht wahr! Sie ist nur eine Sünderin gewesen, die ihm die Füße gesalbt hat», rief der Mönch.
«Seine Gefährtin ist sie gewesen! Sie wurde zusammen mit Martha und Lazarus von den Juden auf einem Schiff ohne Segel ausgesetzt und ist hier bei Marseille an Land gekommen. Sie war es, die das Christentum in die Provence gebracht hat!»
«Ja, sicher, sie und die schwarze Sarah! Lächerlich! Lass dir sagen: Die apostola apostolorum ist in Ephesus gestorben.» Calixtus hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die Becher tanzten, aber Louisa ließ sich nicht einschüchtern.
«Ist sie nicht. Sie ist hier!»
«Hört auf zu zanken! Aber die Idee ist gar nicht schlecht, Calixtus. Was meinst du? Sollen wir nach Saint Maximin? Es liegt fast auf dem Weg», schlug Carolus vor.
Der Mönch rührte geistesabwesend mit dem Finger Weinstein und schlammige Ablagerungen am Grund seines Bechers um.
«Vielleicht. Ja, möglich wäre es», murmelte er.
Er schrieb ein paar Zeilen an seinen Abt und gab das Zettelchen einem Reisenden nach Pertuis mit, der versprach, es getreulich abzuliefern.
«Ich danke dir, mein Sohn, Gott segne dich. Und wenn du den Zettel verlierst oder ihn nicht abgibst, dann soll er dich mit Warzen bedecken, du weißt schon wo: dort, wo es höchst unbequem wäre.»
Am nächsten Morgen brachen sie gemeinsam auf, um unterhalb der Montagne de Cengle die Straße nach Trets zu nehmen. Das dauerte seine Zeit. Der Maulesel Methusalem ließ sich nicht antreiben. Spürte er die Gerte, dann ließ er alle Muskeln unter seinem räudigen Fell zucken, blieb stehen und sah sich nach seinem Reiter um: ‹Wenn du mich schlägst, gehe ich noch langsamer. Willst du nun vorwärtskommen oder nicht? Dann lass mich gefälligst in Ruhe meinen Gang gehen.›
Als Calixtus und Carolus Le Tholonet passierten, da bekam Danielle Gesellschaft.