Carolus war zurück im Besucherzimmer des Franziskanerklosters.
«Und? Habt Ihr Fortschritte gemacht?», wollte Basilio wissen.
«Nun ja, es geht voran, vielleicht nicht so rasch und gründlich, wie ich es mir wünsche, aber wir führen tiefe Gespräche. Sie öffnet sich langsam. Ja, man könnte sagen, dass kleine Fortschritte am Horizont …»
Calixtus lächelte. Er hatte ja einen Teil dieser Gespräche belauscht. ‹Er ist jung und sich seines Könnens nicht sicher›, dachte er. ‹Er scheut sich, seinen Misserfolg zuzugeben. Für die Patientin tut er damit nichts.› Laut sagte er:
«Ich hatte eher den Eindruck, dass Ihr mehr geredet habt als die Patientin und dass überhaupt viel geschwiegen wurde.»
Carolus’ Wangen überzogen sich mit einer leichten Röte. Er nahm den Zinnbecher, der vor ihm auf dem Tisch stand, und nippte am Wein, ohne ihn zu schmecken. Der Bruder Infirmarius und der Bruder Bibliothekarius schauten ihn erwartungsvoll an.
Schließlich setzte Carolus den Becher ab und breitete die Hände aus.
‹Er kapituliert›, sagte sich Calixtus. ‹Das ist auch nicht gut.›
«Also, wenn ich ganz ehrlich bin: Wir kommen gar nicht voran. Ich habe es mit Assoziationsketten versucht; ich habe es mit Gegenständen versucht, mit sinnlichen Reizen, um ihrem Erinnerungsvermögen einen Fokus zu geben – leider scheint nichts davon anzuschlagen. – Doch, manchmal, ein wenig: Sie hat sich an Nüsse erinnert, die ihr früher einmal jemand gegeben hat. Sie sagt, sie weiß, dass sie in Neapel geboren wurde. Sie kennt den Namen eines Gebäcks aus der Gegend. Doch sie scheint die Erinnerung nicht in ein Zeitgefüge einordnen zu können. Und so ging es von da aus nicht weiter, wie wir es uns gedacht hatten.»
«Dann ist es wohl so, dass die Eindrücke ihrer Wahrnehmung derart durcheinandergewirbelt wurden, dass sie untereinander die Verbindung verloren haben.» Basilio rieb sich das stoppelige Kinn. Er brummte eine Weile vor sich hin. «Athanasius, sieh doch noch einmal genau nach, was Aristoteles über das Verhältnis von Gedächtnis und Erinnern sagt. Was war da mit den Vorstellungsbildern?»
Athanasius blätterte in einem der mitgebrachten Codices und fand die Stelle: «Er vergleicht hier die Sinneseindrücke mit einem Abdruck, einem Siegel, das die Wirklichkeit auf der Seele hinterlässt. Leute, die sich in Erregung befänden, könnten nicht auf diese Siegel zurückgreifen, weil ihr Gedächtnis einem fließenden Wasser gleiche.»
«Da! Vielleicht ist sie innerlich zu unruhig», sagte Basilio.
«Aber sie hat doch schon alles, was Hippokrates empfiehlt: Ruhe, Kontemplation, Arbeit, eine einfache, reizarme Diät … und was könnte ruhiger sein als ein Gespräch im Garten», gab Athanasius zu bedenken. «Dann ist möglicherweise Ruhe die ganz falsche Behandlung. Vielleicht braucht es das Gegenteil! Vielleicht muss man sie noch einmal heftig durchschütteln, damit alles wieder an seinen Platz fällt? Wenn Sanftmut und Geduld nicht fruchten, muss man doch zu gewaltsameren Methoden greifen. Celsus beschreibt den heilsamen Schmerz, den heilsamen Schrecken.»
Er zwirbelte seinen Bart. «Das könnte interessant werden!»
«Nein, auf keinen Fall werde ich dieser armen, zarten, geschundenen Seele noch mehr Leiden aufbürden, als sie ohnehin schon ertragen hat», wehrte Carolus heftig ab.
«Freund, ist es möglich, dass du deine Unvoreingenommenheit verloren hast?», lächelte Calixtus.
«Wie? Habt Ihr Gefühle für diese Patientin?», fragte nun Basilio streng. «Das wäre der Sache aber sehr abträglich! In dem Fall sollte vielleicht ein anderer Arzt sie behandeln!»
«Nein, nein! Ich habe keine Gefühle für sie, nichts, was über das angemessene Maß an Mitleid und Sympathie hinausginge», behauptete Carolus und glaubte sogar daran. «Es ist nur … Ich weiß, es gibt zwei Methoden, mit Krankheit umzugehen, wenn man die Ursache kennt: Mehr vom Gleichen oder das Gegenteil. Wir nehmen an, dass ihr Leiden durch Schrecken und Entbehrungen ausgelöst worden ist.»
«Dann lass sie erbrechen und fasten; jage ihr Schrecken ein, drohe ihr, zeige ihr Folterinstrumente! Lasse sie auspeitschen, reiße sie nachts unsanft aus dem Schlaf, tauche sie in Wasser, lege sie auf die Streckbank.» Athanasius hielt eine Abhandlung hoch. «Hier!» Er nahm ein anderes Pergament vom Tisch und wedelte damit dem jungen Medicus vor der Nase herum: «Und hier! Alle großen Ärzte empfehlen gerade bei Störungen des Geistes gewaltsame Maßnahmen. Celsus empfiehlt Dunkelheit und Schmerz!»
Basilio hatte Bedenken: «Hippokrates sagt, man soll bei traurigen Patienten fröhlich und bei fröhlichen, hysterischen Patienten traurig und still sein.»
«Nein, das dulde ich nicht – das halte ich für falsch!» Carolus war aufgesprungen und lief in dem kleinen Zimmer auf und ab. «Ein Körper kann nicht genesen, wenn man ihm Nahrung vorenthält, und ebenso ist es mit der Seele. Ihr würdet doch auch nicht einem Sünder die Gebete vorenthalten! Augustinus sagt: ‹Die Seele nährt sich von dem, worüber sie sich freut.› Deshalb bin ich der Meinung, dass man einen Menschen, der gelitten hat und also seelisch beschädigt und ausgehungert ist, nur mit Freundlichkeit, Liebe und angenehmen Sinneseindrücken wieder gesund pflegen kann!»
Basilio brummte zustimmend. Athanasius vertiefte sich wieder in seine Schriftrollen.
«Schade. Aber wenn ihr es also durchaus mit Freundlichkeit versuchen wollt, dann bietet auch wieder Celsus Möglichkeiten. Er arbeitete auch mit Alkohol, Liebe und Musik!»
Calixtus lachte auf: «Alkohol und Liebe fallen hier wohl aus! Jedenfalls dort, wo sie über Messwein und die Liebe Gottes hinausgehen. Dann bleibt nur Musik.»
«Also schön», überlegte Athanasius. «Musik ist eine Form der sanften Gewalt. Platon hielt sie für erzieherisch. Er sagt: ‹Rhythmen und Töne dringen am tiefsten in die Seele und erschüttern sie am gewaltigsten.› Aristoteles sieht sogar eine Verwandtschaft zwischen der Seele und den Harmonien.»
«Musik wird auch gerne aufgenommen, weil sie genussreich ist, im Gegensatz zu vielen anderen Heilmitteln», sagte Basilio. «Also versuch es ruhig damit. Und erzähl mir, wie die Sache ausgeht. Ich würde gerne wissen, wie diese Methode wirkt und ob sie vielleicht auch auf andere Krankheiten anwendbar ist, etwa solche, die mit innerer Unruhe, Zorn oder anderen Gemütsbewegungen einhergehen.»
«Ah!» Athanasius hob den Zeigefinger. «Aber was für eine Art von Musik, Brüder? Es gibt da große Unterschiede.»
«Welche denn?», fragte Carolus.
«Am heilsamsten wäre es, wenn sie die musica coelestis hören könnte, die himmlische Musik, denn sie kommt direkt von Gott. Doch das ist natürlich nicht möglich, denn sie ist für Sterbliche nicht wahrnehmbar.»
«Woher weiß man dann, dass sie existiert?»
«Wir nehmen an, dass sie existiert. Sie ist allenfalls durch Kontemplation sozusagen vorstellbar, wie die Erinnerung an eine Melodie. Jede andere Musik gründet sich darauf. Die musica instrumentalis, organica oder die musica sonora ist dagegen wahrnehmbar, weil sie von Menschen erzeugt wird. Gute und christliche Musik sollte immer ein Abglanz der himmlischen Musik sein, und sie sollte so wirken, dass man nicht ihre Struktur wahrnimmt, sondern dass sie das Gemüt bewegt.»
So kam es, dass Carolus von der Grande Dame die Erlaubnis erhielt, einen Musicus in den Beginenhof zu bringen.
«Wie? Musik? Hier? Ich glaube, ich höre nicht recht!», hatte sie sich empört, als er ihr diesen Vorschlag unterbreitete. «Jetzt hört sich doch alles auf! Was ist das wieder für ein närrischer Einfall! Ich habe erlaubt, dass ihr lange und ungestörte Gespräche mit einer unserer Schwestern führt! Ich habe erlaubt, dass ihr im Garten nebeneinander auf der Bank sitzt, fast wie ein Liebespaar! Das ist von einigen Schwestern sehr schlecht aufgenommen worden!»
Gebba hatte sich bitter darüber beklagt und auf die Anstößigkeit hingewiesen.
«Sie hört genug Musik in der Kirche.»
«Das ist eine andere Situation. Hier geht es um Therapie», wandte Carolus ein.
«Wollt Ihr etwa behaupten, ein Kirchgang sei keine Therapie?», ereiferte sich Juliana.
«Nein, doch – schon, aber in der Kirche spricht man ja nicht. Man betet und besinnt sich auf Gott. Wir wollen doch, dass sie sich auf sich selbst besinnt.»
«Ich sage: nein!»
«Musik ist ein Labsal für die Seele. Sogar die Engel musizieren.»
«Und auch der Teufel. Der sogar noch viel häufiger und lauter. Und jetzt wollt Ihr mir ein Orchester ins Haus schleppen? Wo jeder weiß, was Musiker für ein loses Volk sind? O nein! Das kommt nicht in Frage!», sagte Juliana entschlossen.
«Ich dachte weniger an eine Gruppe von Musikern als an einen einzelnen.»
«Ach, womöglich solche heimtückischen Gesellen, die Frauen mit süßen Melodien umschmeicheln, ihnen schöne Augen machen und sie auf Abwege bringen? Nein!»
«Es muss ja kein Sänger sein. Wie wäre es mit einem Lautenspieler?»
«Zu verführerisch!»
Carolus blieb hartnäckig: «Ein Flötenspieler?»
«Vielleicht. Flötenspiel ist alles andere als erotisch, insofern wenigstens anständig. Und Ihr meint wirklich, weltliche Musik könnte unserer Schwester helfen?»
«Ich bin mir sicher – beinahe sicher. Es wäre einen Versuch wert. Sanfte Musik könnte ihre Ängste beruhigen und ihr Gedächtnis wieder in Harmonie mit Zeitablauf und Wirklichkeit versetzen. Nicht ich habe mir das ausgedacht. Ich habe mich mit dem Infirmarius und dem Bibliothekarius der Franziskanermönche beraten, und sie haben gesagt, dass große Ärzte der Antike diese Methode empfohlen hätten.»
Juliana gab nach: «Also gut, wenn die Mönche es für schicklich befunden haben. Aber es muss anständige Musik sein!»
«Ja, Meisterin Juliana.»
«Ruhige, schlichte Musik!»
«Ich verspreche es: nur Melodien, die ihre Seele beruhigen und erquicken. Der Körper soll davon unberührt bleiben.»
Juliana drohte dem jungen Mann mit einem dürren Zeigefinger: «Wehe, wenn du ihre Tugend gefährdest, Medicus. Dann spiele ich auf deinen Gedärmen Fidel!»
Und so machte sich Carolus auf die Suche nach einem geeigneten Musikanten. In seinem Freundeskreis waren verschiedene, die ein wenig Laute spielten oder auf dem galoubet zu pfeifen vermochten, doch erquickend war das nicht, jedenfalls nicht für den Zuhörer.
«Mutter, du warst doch neulich bei einem Gastmahl des Innungsmeisters und warst so begeistert von der Musik, die dort aufgeführt wurde. Weißt du noch, wer die Musikanten waren?»
«Das weiß ich doch nicht. Musiker sind Bedienstete, sie spielen im Hintergrund, während man sich unterhält und isst. Aber ich frage Madame Tullo, sie kann dir sicher jemanden vermitteln.»
Doch Madame Tullo kannte nur Lautenspieler und Sänger ziemlich gewöhnlicher Liebeslieder, wie Carolus feststellen musste. Um wahre Künstler zu beschäftigen, war der Innungsmeister zu geizig.
Mehrere Abende lang besuchte der junge Arzt die Wirtshäuser der Stadt, doch die Musikanten, die dort auftraten, waren entweder so schlecht, dass man sehr betrunken sein musste, um ihr Kratzen und Brummen zu ertragen, oder sie spielten laut und viel zu wild, und eine dritte Sorte gab es noch, die sang Texte, bei denen Carolus rote Ohren bekam, obwohl er sich doch als Arzt für gebildet in körperlichen Dingen hielt.
Die Chorsänger der Kirchen wurden von den Mönchsklöstern gestellt, das ging natürlich gar nicht, das hätte ein Gerede in der Stadt gegeben, selbst angenommen, dass man die Mönche für so ein Unternehmen überhaupt hätte gewinnen können.
Carolus war schon kurz davor, die Idee fallenzulassen, da lud ihn Didier de Bonney eines Abends ins Schloss. Er hatte einen bekannten Troubadour bei sich zu Gast. Die beiden Herren hatten gespeist und es sich im Kaminzimmer bequem gemacht, als Carolus von einem Diener hineingeführt wurde.
Das Erste, was er von dem Sänger sah, waren ein Paar lange schlanke Beine in bunten Strümpfen und eine feingliedrige, beringte Hand, die auf einer Sessellehne lag.
Bonnefoy stand auf und begrüßte Carolus herzlich: «Mein lieber junger Doktor! Darf ich dir Apollon de Sète vorstellen? Ich habe ihm von deinem Vorhaben erzählt – in aller Diskretion natürlich. Wir wollen ja die guten Bürger von Pertuis nicht beunruhigen, nicht wahr. Sie sind so gern beunruhigt!» Er lachte verschmitzt.
Der Troubadour erhob sich, und Carolus begriff auf den ersten Blick, warum die Damen der Gesellschaft mit gedämpften Stimmen sprachen und so einen Kuhblick aufsetzten, wenn von Apollon de Sète die Rede war. Man erzählte sich, es mangele ihm nie an anschmiegsamer Gesellschaft. Ein Mann in den besten Jahren, an die dreißig Jahre alt, war er von hoher, schöner Gestalt, einen Kopf größer als der Medicus. Er besaß schmale Hüften, ein muskulöses Gesäß und hatte die Bewegungen eines Katers. Seine Schultern waren breit, und kastanienfarbene Locken fielen wie ein Sturzbach darüber. Sein Gesicht hätte einer dieser griechischen Götterstatuen gehören können, die man bei Rom allenthalben wieder ausgrub.
«Nein!», beschloss Carolus augenblicklich. «Diesen Mann lasse ich nie und nimmer in Danielles Nähe!»
«Ihr sucht Musik, die geeignet ist, Herz und Sinne einer Dame aufzuschließen?», sagte mit wohltönender, voller Stimme Apollon. «Da seid Ihr bei mir bestens aufgehoben. Ich verstehe mich auf die Weiber.»
‹Das glaube ich gern›, dachte Carolus missmutig.
«Ich beherrsche ein weites Feld von Musikgattungen und Stimmungen. Habt Ihr eher etwas Fröhliches im Sinn oder eine planh, ein Klagelied? Ich sage Euch, es gibt keinen schnelleren Weg zum Herzen einer Frau als Mitleid! Oder vielleicht doch lieber etwas Ruhiges, vollkommen Harmonisches? Eine serena, ein Abendlied?»
«Die Meisterin des Beginenhauses wünscht keinen Gesang.»
«Schade, aber ich habe auch instrumentale Musik in meinem Repertoire – obwohl natürlich die Stimme das umfassendste und flexibelste Instrument von allen ist.»
«Ach, wenn ich es recht bedenke, verehrter – hm – Apollon, dann kann ich Euch so eine Sache ja doch nicht zumuten – eine dumme Idee von mir! Es ist ein medizinisches Experiment, und ich kann Euch dafür so gut wie gar nicht bezahlen.»
«Das macht nichts. Messire Bonnefoy war sehr großzügig. Ich kann mir so einen kleinen Ausflug schon erlauben.»
«Aber, es sind praktisch Nonnen! Alte Jungfern, trockene Betschwestern. In Säcke gekleidet. Gar nicht die Art von Zuhörern, die Ihr gewohnt seid.»
Apollon ließ ein tiefes, sattes Lachen hören, wie das Läuten großer Bronzeglocken.
«Gerade das reizt mich ja. Ich wollte schon immer einmal wissen, was es mit diesen Frauen auf sich hat, die tun wie Nonnen und doch keine Gelübde ablegen. Sie halten sich alles offen. Interessant, nicht wahr?»
Fieberhaft überlegte Carolus, wie er diesen singenden Halbgott davon abbringen konnte, vor seiner Danielle aufzuspielen.
«Vor nächster Woche geht es nicht. Bis dahin seid Ihr sicherlich schon andernorts engagiert», gab er zu bedenken.
«Ich bin bereit, für dieses außergewöhnliche Experiment alles andere zu verschieben. Das heißt – wenn mein Freund Bonnefoy mich so lange in seinem Hause duldet», sagte Apollon. Bonnefoy machte eine ausholende Gebärde: «Mein Haus ist dein Haus, werter Gast!»
Carolus brach der Schweiß aus.
«Nun denn, in dem Fall, äh – Oh! Da fällt mir ein: Leider ist im Beginenhof eine ansteckende Krankheit des Kehlkopfes ausgebrochen. Ich komme gerade von dort. Es wäre wirklich zu riskant für Euch!»
Bonnefoy zwinkerte Apollon zu, und die beiden Männer brachen in wissendes Gelächter aus.
«Also, ehrlich gesagt, ich hätte mir das vorher überlegen sollen, und ich bitte um Vergebung, aber – hm – jetzt, da ich Euch gesehen habe, halte ich es einfach für keine gute Idee, Euch in den Beginenhof zu bringen. Wenn Euch nun jemand hineingehen sieht! Bonnefoy!» Carolus wandte sich hilfesuchend an den Vogt. «Ihr wisst doch, wie die Leute reden!»
«Glaubt mir, wenn ich eine Dame unerkannt aufsuchen will, dann erwischt mich niemand. Ich bin die Mensch gewordene Diskretion», versicherte Apollon.
Bonnefoys Heiterkeit verstärkte sich.
«Nein, ach, Ihr seid viel zu freundlich! Nein, danke!», stieß Carolus hervor und entfernte sich eilig. Das Gelächter der beiden Männer folgte ihm die prächtige Galerie entlang und die gewundene Treppe hinunter. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stand Carolus einen Moment schwer atmend im Hof. ‹Da habe ich ja einen rechten Esel aus mir gemacht!›, dachte er.
Bedrückt schlenderte er unter der Stadtmauer entlang seinem Haus zu. Der Mond war aufgegangen und die Zikaden sangen. Er beschloss, noch einen Spaziergang zur Porte Durance zu machen und ins Tal zu schauen, um sich zu beruhigen. Der Nachtwächter kam ihm mit seiner Fackel entgegen und grüßte ihn. Auch die Wachen am Tor erkannten ihn gleich und ließen ihn passieren.
«Entfernt Euch nicht zu weit vom Tor!», sagte einer von ihnen. «Es ist wildes Volk da draußen.»
«Zinganes!», fügte der andere mit halb verächtlichem, halb ängstlichem Blick hinzu.
Der Medicus machte ein paar Schritte vor das Tor. Weit unten glitzerte die Durance im Mondlicht. Er atmete tief durch, und ein Seufzer entrang sich ihm. «Was soll ich nur tun? Ach, Danielle, du Widerspenstige! Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich lächeln zu sehen, als deine Geschichte zu hören.» Dankbar sollte sie sein und ihn lieben! So gern wäre er ihr Heiler und Held.
Und da hörte er es: Eine schwermütige, anrührende Musik drang aus den Hügeln herauf, Gesang und ein Instrument, dass er nicht identifizieren konnte. Die Melodie kroch über die Hügel, vom Wind getragen. Mal war sie deutlich zu hören, dann wieder nicht. Carolus lief auf den Klang zu und kam in einen Olivenhain, wo das Fahrende Volk lagerte, jede Familie um ihr eigenes Feuer.
Einige Männer standen auf und kamen drohend auf ihn zu. Er hob beide Hände, mit nach außen gerichteten Handflächen. «Frieden, ihr Leute», sagte er. «Ich bin der Musik gefolgt. Darf ich zuhören?»
Sie entspannten sich sichtlich und führten ihn zu einer alten Frau, die auf einem mit Saiten bespannten Holzkasten spielte.
«Cimbal», erklärten sie und wiesen auf den Kasten, «Dulcimer.» Der Sänger war ein bartloser Junge. Carolus war überrascht: Er hätte ihn dem Klang seiner Stimme nach für älter gehalten; sie klang sanft, aber lebenserfahren, so alt wie die See. Die Frau bedeutete ihm, sich auf den Boden zu setzen. Jemand drückte ihm einen Becher in die Hand. Er hörte zu, trank und vergaß seine Umgebung. Eine solche Sehnsucht packte ihn, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, um alle seine Feinde zu umarmen, um die Traurigkeit der ganzen Welt zu trösten, eine Frau zu lieben.
«Ja», sagte er nach einer Weile. «Ja. Das ist es.» Er hatte die Lösung gefunden. Diese Musik würde Danielles ängstliche, verschlossene Seele beruhigen und erschließen, den Damm brechen und den Strom ihrer Erinnerungen wieder fließen lassen. Er spürte es ja am eigenen Leibe, wie ihn diese Weisen ins Mark trafen, ihm Tränen in die Augen und ein Lächeln auf die Lippen brachten. Einem solchen Ansturm würde sie nicht widerstehen können.
Die beiden Zinganes erklärten sich nach einigen Verhandlungen bereit, am nächsten Tag in die Stadt zu kommen. Bezaubert von der Musik, trunken von Mondlicht und Wein stolperte Carolus zum Tor zurück und war voller Hoffnung.
Als er die Alte anderntags an der Porte Durance traf, kamen ihm leise Zweifel. Sie hatte ein hartes, wildes Gesicht, genau wie er sich immer eine Hexe vorgestellt hatte. Doch er begrüßte sie ehrerbietig: «Gott grüße dich, Mütterchen. Komm, ich geleite dich zu dem Haus der Kranken. Ich hoffe, du kannst sie mit deiner Musik heilen.»
Sie zuckte gleichmütig die Achseln und hielt ihm eine knochige Hand entgegen.
«Bezahlung im Voraus!», übersetzte der Bengel und grinste frech.
Carolus kramte in seinen Taschen und legte ihr schließlich das vereinbarte Silberstück in die Hand, eine großzügige Entlohnung, wie er fand. Doch nun streckte auch der Junge seine Hand vor. «Entlohne mich ebenfalls!», verlangte er. Und als Carolus auffahren wollte: «Meine Stimme ist Gold wert. Du hast Glück, dass du sie so billig bekommst.» Der junge Arzt gab nach.
Er führte sie an der Mauer entlang und durch die schattigsten und entlegensten Gassen zum Konvent Sainte Douceline. Ein Hund lief ein kleines Stück hinter ihnen her. Der Bengel drehte sich nach ihm um und tat so, als bücke er sich nach einem Stein. Der Hund jaulte auf und rannte davon. In der Hahnengasse schaute Carolus sich besorgt um, bevor er an die Pforte klopfte. Die Gasse war leer. Doch von ihm unbemerkt erschien oben, im Haus gegenüber, ein Gesicht am Fenster. Ein anderes spähte durch den Vorhang eines Eingangs. Als Alix öffnete, schob Carolus die beiden Musikanten rasch hinein. Ein letzter Blick über die Schulter. Carolus kam sich verwegen vor.
«Sing leise, etwas Ruhiges!», forderte er den Jungen noch einmal auf.
«Weiß schon», war die Antwort.
Neugierig schaute Alix den Zinganes hinterher.
Danielle saß bereits auf der Bank und erwartete ihn.
«Was soll ich heute tun?», fragte sie ihn. Sie lächelte. Es rührte sie zu sehen, welchen Aufwand er betrieb. «Und alles das nur, um die armseligen Erinnerungen einer Bettlerin zu hören? Ach, Medicus! Welche Verschwendung!»
Die Alte setzte sich auf einen Schemel, der vor Julianas Haus für sie bereitgestellt worden war. Danielle sollte die Musik nur hören, jedoch nicht durch den Anblick der Ausführenden abgelenkt werden.
«Jetzt schließe bitte deine Augen und denke an etwas Angenehmes. Oder noch besser: Lasse deine Gedanken einfach laufen, wie ein paar Ziegen, die gemächlich mit ihrem Schäfer über die Hügel ziehen und hier und da etwas naschen.»
Eine ruhige, wehmütige Weise erklang hinter ihr, ein Hirtenlied, ein Lied vom Staub der Landstraße, von steinigen Weiden, einsamen Bergen und kühlen Quellen.
«In den letzten Tagen und Wochen haben wir viel über die richtige Diät für Choleriker und Sanguiniker gelernt, über wohltuende Kräuter und Essenzen und das maßvolle Leben, die gute Verdauung sowie die ausgleichende Wirkung des Aderlasses, wann und auf welche Weise er anzuwenden sei, ob bei abnehmendem oder zunehmendem Mond und in welchem Verhältnis zu den Sternbildern, die den betreffenden Menschen unter ihrem Regime haben, was zu außerordentlich befriedigenden Ergebnissen führen kann, wenn die Methode genauestens beachtet wird. Heute jedoch möchte ich euch ein Heilmittel vorführen, das manchem wie ein Wunder vorkommen mag, ein ganz erstaunliches Heilmittel deshalb, weil es keine stofflichen oder irgendwie messbaren Bestandteile besitzt und daher auch die enge Verbindung zwischen Körper und den vier Einheiten der Seele beweist, ohne dass wir jedoch … ähem, nun, kurz: la musica, die Musik. Die antiken Autoren, deren Schriften uns dank Meister Constantinus Africanus wieder zur Verfügung stehen, obschon sie im Dunkel der Geschichte bereits verloren schienen, haben dieses Mittel bereits beschrieben, nachdem ja sogar wilde Tiere und wütende Geisteskranke, die der Vernunft und Logik an sich nicht zugänglich sind, sich damit beruhigen lassen und folgsam werden. Allerdings, wie ihr wisst, war Platon der Meinung, dass Menschen, die dem Staat und der Gesellschaft nicht nützen, auch nicht gepflegt werden sollen, während die arabischen Autoren dem am Geiste Kranken mit Milde und Fürsorge begegnen, da …»
Bruder Nikolaus’ Stimme ist einschläfernd in ihrem gleichmäßigen Auf und Ab. Er ergeht sich in langen, gewundenen Sätzen, deren Ziel er selbst oft aus den Augen verliert.
«Ssstt! Alessa! Sssst!», flüstert es vom Fenster her. Einer der jungen Männer von drüben hat sich in den Frauentrakt geschlichen und winkt. Sie schaut ihn nur kurz aus den Augenwinkeln an und schüttelt unmerklich den Kopf.
Sie ist hübsch in ihren weißen Kleidern mit den langen, dunkelbraunen Locken und diesen lebhaften Augen. Und sie ist ernsthaft und ehrgeizig. Bruder Nikolaus ist zwar ein Langweiler, aber er weiß ungeheuer viel, und sie möchte nichts verpassen.
Ein zu einem Vogel gefaltetes Pergament segelt durch die Luft und trifft sie am Hinterkopf. Bruder Nikolaus hat die Bewegung wahrgenommen und blinzelt kurzsichtig in die Runde.
«Wie bereits gesagt: Abu al-Walid Muhammad ibn Ahmad ibn Muhammad ibn Ruschd, den wir auch als Averroes kennen, den Kommentator …»
Der Zettel steckt in ihren Haaren fest, und sie zieht ihn heraus, faltet ihn unter der Bank auf und muss lachen: Da ist eine perfekte Karikatur von Bruder Nikolaus mitsamt Knollennase, dickem Bauch und Sandalen. Sie dreht sich zu dem Zeichner um, der grinst und gestikuliert. «Gehst du nachher mit mir in die Stadt, einen Met trinken?», heißt das.
«Alessa!» Bruder Nikolaus steht vor ihr und schnappt sich den Zettel. «Was ist das?» Er schaut enttäuscht. «Meine beste Schülerin! Gerade von dir hätte ich das nicht gedacht.» Der Zettel verschwindet in seinem Ärmel, der Kopf am Fenster taucht ab.
Ein Patient wird hereingeführt. Zwei starke Wärter sind nötig, um ihn festzuhalten. Er stößt unartikulierte Laute aus und wehrt sich, hat Schaum vor dem Mund. Da hebt Bruder Nikolaus eine Panflöte an die Lippen und spielt eine friedvolle Hirtenweise. Die Sonne perlt förmlich durch die Noten, man sieht die Lämmer springen. Und der Patient beruhigt sich augenblicklich. Er lächelt, gluckst und grapscht nach der Flöte. Der Mönch gibt sie ihm. Der Kranke setzt sie an die Lippen und spielt, keine Melodie, nicht einmal etwas annähernd Harmonisches. Er tutet hinein, ist aber fröhlich und läuft seinen Wärtern nach, friedlich und ohne Angst.
«Da seht ihr es», sagt Bruder Nikolaus. «Ich wusste allerdings, dass er Töne zu machen versteht. Sonst hätte ich ihm die Flöte nicht gegeben. Wenn sie frustriert werden, sind sie sofort wieder unleidlich. – So, ihr könnt zum Essen gehen. Alessa, du bleibst doch noch und hilfst mir, einige Texte für den Unterricht zu kopieren?» Er hat ihr vergeben.
Sie erinnerte sich an etwas, er war sich ganz sicher. Es musste etwas Gutes gewesen sein, denn ihre Mundwinkel hoben sich an, die Falte auf ihrer Stirn hatte sich geglättet.
«Woran hast du gedacht? Es ist dir etwas eingefallen, nicht wahr?»
«Ich habe an einen Lehrer gedacht, den ich hatte, einen fetten, alten Benediktinermönch. Er war ein sehr kluger Mann. Das Laufen ist ihm schwergefallen, doch er hat es sich nicht nehmen lassen, jeden Morgen die Leprakranken vor der Stadt zu besuchen. Zwei junge, kräftige Mönche waren nötig, um ihm auf sein Maultier zu helfen!»
Das war ein Fortschritt! Nun wusste er mehr: Sie musste aus einem reichen und guten Hause stammen, wenn sie, ein Mädchen, einen eigenen Lehrer gehabt hatte. «Was hast du bei ihm gelernt?»
«Was man als Frau eben so lernt.»
Das konnte nicht so viel gewesen sein: Schönschrift, erbauliche Literatur, Gedichte und dergleichen. Aber immerhin.
Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Carolus’ Gesicht war ihr zugewandt, sein ganzer Körper war ihr zugewandt, aufmerksam, offen, ruhig; er wirkte wie einer, auf den man sich verlassen kann, eine feste Mauer, ein sicheres Haus. Er hatte sich so bemüht, sie wollte ihm gern vertrauen. Vielleicht sollte sie ihm alles erzählen; sie hatten so vieles gemeinsam; er würde verstehen. Sie zögerte, schaute ihn an, forschend, abwägend, öffnete den Mund. Doch genau diesen Moment wählten die Zinganes, um eine lebhaftere Musik anzustimmen. Der Junge stieß einen heiseren Schrei aus, seine Stimme wurde lauter, rauer, der Gesang fordernd und wild. Er klatschte mit den Händen im Takt.
Unbemerkt von Arzt und Patientin, waren nach und nach die anderen Beginen in den Garten gekommen. Die Weberinnen strömten aus dem Weberhaus.
«Unerhört! Jetzt bekommt sie auch noch Musik vorgespielt!», zischte Gebba. «Sie wird verhätschelt und verwöhnt! Wasser und Brot und harte Arbeit, das wäre angemessen für sie.»
Doch ihre Schwestern hörten nicht auf sie. Sie freuten sich an der Musik. Hatten die Melodien zuerst fremd und ein wenig schläfrig geklungen, so erkannten die Schwestern jetzt so etwas wie die beliebte Farandole darin, die den Flug der Kraniche nachahmte. Es bereitete ihnen Mühe, nicht im Takt den Kopf zu wiegen. Es war ihnen beinahe unmöglich, nicht die Hände zu heben und mit den Fingern den Flügelschlag des großen Vogels nachzuahmen. Es kam ihnen schier ausgeschlossen vor, nicht die Hüften zu bewegen und den Oberkörper zu biegen. Es war ihnen eine zu große Anstrengung, die Füße still zu halten. Zu mächtig war die Musik.
Annik hatte sich auf der Küchentreppe niedergelassen und schlug mit einem Holzlöffel an eine Pfanne, Magdalène begann zu tanzen. Schneller und schneller spielte die Alte. Der Junge sang und klatschte wie ein Besessener. Renata kam aus dem Stall und ergriff ihre Freundin Manon am Arm. Sie wirbelten herum, dass die Röcke flogen. Guilhelme forderte Justine auf, Philippa tanzte mit Marthe. Sogar die alte Auda hatte ihre Röcke angelupft und hüpfte um den Brunnen wie ein übermütiges Kind. Alix hatte ihren Platz am Tor verlassen. Sie lehnte an einer Mauer und tappte mit dem rechten Fuß im Takt.
Juliana kam aus ihrem Haus und versuchte, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Aber sie war über dem Trubel nicht zu hören. Anne stand hinter ihr und lachte über das ganze Gesicht. Wütend drehte Juliana sich nach ihr um, ihr Grinsen verschwand sofort. Gezwungenermaßen erinnerte sich Anne ihrer Pflichten als Subpriorin. Sie steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff los.
Die Musik erstarb abrupt. Die Tanzenden blieben mitten in der Bewegung stehen.
«Was ist das für ein babylonisches Getobe?!», rief die Meisterin aus. «Zurück an eure Arbeit!» Sie klatschte in die Hände. Die Beginen besannen sich und verschwanden in Webhaus und Stall, in Küche und Keller. Ein paar Gassenjungen, die rittlings auf der Mauer hinter dem Stall saßen, sprangen enttäuscht wieder auf die Straße hinunter.
«Nun, Medicus? Bist du zufrieden? Hast du genug Aufruhr gestiftet?», wandte sich Juliana zornig an Carolus.
«Ich bitte um Verzeihung, Meisterin. Es ist etwas aus den Fugen geraten.»
«Das kann man wohl sagen», bemerkte sie. Ihr Finger wies zum Tor. Carolus sprang auf, winkte den Musikern, verbeugte sich vor Danielle und vor der Meisterin und verließ den Konvent.
In der Rue de Courtrasse stand ein kleines Grüppchen von Neugierigen. Sie machten lange Hälse. «Was war denn da drin los? Was hatten die zwei Zinganes bei den frommen Schwestern zu suchen?», wollte ein Nachbar wissen.
«Man hat ihnen das richtige Beten beigebracht», antwortete Carolus.
Die Alte lachte zahnlos.
«Ich hoffe, wir haben dir keine Schwierigkeiten gemacht», sagte der Junge. «Aber wir sind einfach nicht für lauwarme Unterhaltung gemacht. Ihr gadsche, ihr haltet eure Seelen in Käfigen. Und diese Frauen da, sie sind wie Vögel mit gestutzten Flügeln in Käfigen.»
Als Abbé Grégoire davon hörte, war er entrüstet: «Das ist ja wohl der Höhepunkt der Sittenlosigkeit! Zigeunermusik im Beginenkonvent! So sieht also deren Vorstellung von einem gottgefälligen Leben aus: Tanzen und Singen statt Beten und Arbeiten! So hat man das also mit dem Abschied von den Tugenden zu verstehen!»
«Es war nicht so geplant, und ich bin allein dafür verantwortlich.» Carolus erklärte ihm seinen Plan.
«Wenn sie Musik hören soll, dann bringt sie in die Kirche. Musik ist nur dann nicht sündig, wenn sie dem Lobe Gottes dient. Nicht dass Gott unseres Lobes bedürfte. Im Gegenteil: Wir bedürfen der Musik und des Gotteslobes, um uns seiner bewusst zu werden. Jede Musik aber, die allein dem hiesigen und fleischlichen Vergnügen dient, ist des Teufels!»
«Ihr habt recht, vergebt mir meinen Missgriff und rechnet es nicht den guten Frauen von Sainte Douceline an!», sagte Carolus zerknirscht. «Meisterin Juliana hatte mich gewarnt und mir äußerste Vorsicht aufgetragen, doch ich habe mich geirrt.»
«Getanzt haben sie!» Der Abbé war empört und nicht so leicht zu beruhigen.
«Aber doch nur miteinander.»
«Das tun auch die Hexen, wenn sie sich treffen, um dem Teufel zu huldigen.»
Carolus suchte Calixtus auf. Er fand ihn in der Werkstatt des Klosters, wo er eine Bank reparierte, von der ein Fuß abgebrochen war.
«Ah, mein Freund! Ich habe schon von deinem Missgeschick gehört. Ist das Experiment jetzt beendet? Oder lässt dich die Meisterin fortfahren?»
«Ich werde lieber ein paar Tage verstreichen lassen, ehe ich sie frage. Vielleicht hat sie mir bis dahin vergeben», sagte Carolus zerknirscht.
Calixtus lachte lautlos. Sorgfältig strich er Leim auf einen Zapfen, mit dem er die Bank und den Fuß wieder verbinden wollte.
Basilio kam über das Kopfsteinpflaster des Hofes angerannt. Vor lauter Eile raffte er seine Kutte. «Was ist? Hat es gewirkt?», rief er schon von weitem. «Hat die Musik den erwünschten Effekt gehabt?», wollte er atemlos wissen, als er heran war. Athanasius kam in würdevollerem Tempo hinterher.
«Ich weiß nicht recht», sagte Carolus. «Einen Augenblick schien es mir so.»
«Ich habe gehört, Ihr habt ein paar von diesen Zigeunern in den Konvent gebracht! Das war gar nicht gut!», tadelte ihn Athanasius.
«Warum denn? Ich habe nach Musik gesucht, die das Gemüt bewegt und die ihre schien mir am Geeignetsten.»
«Wollüstige, heidnische Musik! Die Beginen sollen getanzt haben!»
«Das Tanzen ist nicht per se als sündig einzustufen, Bruder», widersprach Basilio. «Sich zu Musik zu bewegen zeigt den Grad der Bewegtheit der Seele. Man hat schon von Völkern gehört, die sich durch Musik in kontemplative Zustände versetzen. Und hat nicht sogar kürzlich ein gewisser Rabbi ben Salomo spanischen Mönchen einen geistlichen Tanz beigebracht?»
«Jüdische Magie!», schimpfte Athanasius.
Carolus wurde ärgerlich: «Das ist das Schlimme mit euch Religiösen. Ihr seid so voller Angst und Misstrauen, dass ihr überall Teufel und Hexen seht! Eure Angst macht euch ganz taub und blind!»
«Der Teufel kennt viele Wege zur menschlichen Seele!», dozierte Athanasius. «Am gefährlichsten ist er, wenn er sich hinter schönen Masken verbirgt!»
«Aber meine ganze Natur war von diesen Melodien ergriffen», wandte Carolus ein.
«‹Die naturhafte Neigung ist der Anfang der Tugend›», sagte Basilio beruhigend. «Und vielleicht war der Versuch so schlecht nicht, wenn auch etwas unkonventionell.»
Athanasius brummelte unwirsch vor sich hin.
«Was hat sie denn nun eigentlich erzählt?», fragte Calixtus.
«Sie hat gesagt, dass sie sich an einen ihrer Lehrer erinnert hat. Einen Benediktinermönch.»
«Das ist ungewöhnlich. Ich habe noch nie gehört, dass Benediktiner als Hauslehrer arbeiten, schon gar nicht für Mädchen. Meist sind es Dominikaner oder welche von unserem Orden, die als Lehrer gehen. Was hat er sie denn gelehrt?»
«Das hat sie nicht gesagt.»
«So!» Calixtus setzte den abgebrochenen Holzfuß mit dem Zapfen auf die umgedrehte Bank und hämmerte ihn fest. Dann stellte er die Bank auf und prüfte ihren Stand.
«Weißt du, was ich denke? Sie führt dich an der Nase herum.»
«Nein, das glaube ich nicht!»
«Carolus, weise die Möglichkeit nicht gleich von der Hand, nur weil dir die Patientin sympathisch ist!» Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Ich habe einige Male den Eindruck gehabt, dass sie lange schwieg und dann nur eine sehr kurze Antwort gab. Denk nach: Was wäre, wenn deine Behandlung doch anschlüge, sie es dich aber nicht merken ließe?»
Carolus schwieg.
«Wenn sie etwas verbirgt, dann erinnert sie sich auch an ihre Sünden. Sie ist fähig zur Reue und muss nicht wie eine Kranke behandelt werden», warf Basilio ein. «In diesem Fall kann man sie entweder ganz in Ruhe lassen oder maßvolle Gewalt anwenden, wenn es nötig erscheint, ihre Vergangenheit zu erfahren.»
«Ist es denn überhaupt notwendig?», fragte Calixtus.
Carolus nahm einen tiefen, langen Atemzug und stieß die Luft heftig wieder aus.
«Ich muss wissen, was mit ihr ist.»
«Du – nicht ihre Schwestern.»
«Ihre Schwestern auch. Es wäre für alle besser, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Sogar für sie selbst.»
«Da bin ich mir nicht sicher. Aber – gut. Welchen Grund sollte sie haben, dir Dinge zu erzählen, die sie lieber geheim halten will?»
«Sie könnte ihr Herz und ihr Gewissen erleichtern. Sie sollte sich einmal aussprechen!»
«Wäre dafür nicht zuerst ihre Meisterin da?»
«Ich will, dass sie mich als ihren Verbündeten empfindet», beharrte Carolus.
«Wie kann sie dich als Verbündeten sehen, da du doch in allem ihr Gegenteil bist», bohrte Calixtus. «Sie ist eine Frau – du bist ein Mann. Deine Gefühle sitzen in den Nieren – ihre in der Gebärmutter. Ihr Wesen ist nach innen gerichtet – deines strebt in die Welt. Du bist frei – sie ist den Entscheidungen anderer unterworfen.»
Athanasius schüttelte den Kopf. «Das ist die natürliche Ordnung der Dinge. Wie könnte ein Mann ein Weib verstehen?»
Calixtus beruhigte die Meisterin so weit, dass Carolus es wagen durfte, sich wieder außerhalb des Hospitals zu zeigen. Er hatte lange überlegt, wie er es anstellen müsse, Danielles Vertrauen zu gewinnen.
«Ich bin zu zielstrebig vorgegangen», dachte Carolus bei sich. «Wenn ich sie dauernd so drängend nach ihrer Vergangenheit frage, dann fühlt sie sich in die Enge getrieben und ist noch weniger geneigt, sich mir mitzuteilen. Also ist es am besten, wenn ich mit ihr wieder über ganz harmlose Dinge spreche. Über meinen Garten zum Beispiel. Ja, ich werde einen neuen Anfang mit ihr machen.»
Er schnitt mit Sorgfalt eine einzelne Blüte von seiner persischen Rose, die schönste von allen, gerade am Morgen frisch erblüht. Auf dem Weg zu den Beginen malte er sich aus, wie sie sich freuen würde, wie sie ihren Nacken beugen würde, um daran zu riechen, wie sie ihn anlächeln würde. Und wie sie sich in ein Gespräch über Gärten vertiefen würden, über das Wesen der Schönheit in Kunst und Natur.
Doch als er sich vor ihr verbeugte und ihr die Rose übergeben wollte, zogen sich ihre dichten, dunklen Brauen zusammen. «Eine Rose? Wie kannst du es wagen!», rief sie, rannte durch den Garten davon wie ein erschrecktes Reh und versteckte sich in der Küche.
Fassungslos sah er ihr hinterher. «Was habe ich nun wieder getan? – Frauen!», sagte er. Er legte die Rose auf die Steinbank und stürmte an Alix vorbei, ohne sich zu verabschieden.
«Was ist?», fragte Magdalène.
«Er hat mir eine Rose geschenkt. Eine Rose! Wie kann er Andeutungen von Liebe und Wollust machen, hier in diesem Haus? Was denkt er nur von mir?», rief Danielle aufgebracht.
«Vielleicht hast du ihn falsch verstanden. Sagt man nicht auch: sub rosa dictum? – Ist sie nicht auch das Zeichen für Verschwiegenheit? Vielleicht hat er damit nur gemeint, dass deine Geheimnisse bei ihm sicher sind.»
Doch das schien Danielle auch nicht zu gefallen. Immerhin ging sie in den Garten zurück und nahm die Rose von der Bank. Gebba hatte vom Webhaus aus alles beobachtet.
«So, hast du es endlich geschafft!», rief sie empört.
«Was meinst du?», fragte Danielle überrascht. Mit der Linken hielt sie die Rose, mit der Rechten versuchte sie das Geschenk zu verbergen.
«Geschenke, Musik und jetzt eine Rose! Schämst du dich denn gar nicht?»
Danielle stand starr. Gebba kam durch die Beete auf sie zu, vorbei an den Zwiebelgewächsen. Gereizt fegte sie einen Ast eines Apfelbäumchens beiseite, der schwer von Früchten herunterhing.
«Verlobt ist er!», schrie Gebba.
Danielles Augen wurden groß.
«Wie, hast du das etwa nicht gewusst? Er ist Catherine versprochen, der Schwester unserer Wohltäterin. Jeder hier weiß es!» Gebba war ganz nah herangekommen und sah Danielle forschend ins Gesicht. «Nun gut, du bist ja nicht von hier», fügte sie in ruhigerem Ton hinzu. «Aber jetzt habe ich es dir gesagt. Ich hoffe, du benimmst dich von nun an entsprechend. Du hast ihn doch nicht ermutigt, oder?»
«Nein, gewiss nicht», sagte Danielle.
Als sie am Abend nebeneinanderlagen, wandte Danielle ihren Kopf zu Magdalène.
«Warum hast du mir das verschwiegen?»
«Was verschwiegen?»
«Tu nur nicht so unschuldig. Du hättest mir sagen müssen, dass Carolus mit Catherine verlobt ist.»
«Oh, ist er das? Stimmt. Das hatte ich schon ganz vergessen. Sie sind einander ja schon so lange versprochen, und es wurde nie mehr daraus. Es hat wohl nichts mehr zu bedeuten.»
«Wie kannst du nur! Du fragst mich, ob er mir gefällt, und weckst Hoffnungen in mir, die ich doch längst begraben wollte. Und nun das! Und wie kann er es wagen, mich so zu beleidigen? Er ist verlobt und will auch noch mit mir etwas anfangen!»
«Will vielleicht. So genau weißt du das doch nicht», flüsterte Magdalène in die Dunkelheit.
«Das wäre ja noch schlimmer. Er hat mir schöne Augen gemacht und meint es nicht einmal ernst? Erbärmlich!», empörte sich Danielle.
«Der arme Carolus. Er kann es dir nicht recht machen», sagte Magdalène still.
«Es ist auch ganz gleich. Nie würde ich einer anderen Frau den Mann stehlen!»
«Schscht! Hört schon auf zu wispern, ihr zwei da hinten!», riefen die anderen. «Lasst uns teilhaben oder lasst uns schlafen.»