«Laura Vidal ist tot!»
Der Ruf hallte wider in den dumpfen Gassen. Er drang durch die salpetrigen Mauern und die winzigen Fensteröffnungen, schraubte sich hoch bis zu den Dachtraufen, wo selbst die Schwalben für einen Augenblick innehielten, sich an ihren grauen Nestern festklammerten und mit flinken, ruckenden Kopfbewegungen Ausschau hielten nach der Quelle des Geschreis. Es war eine Magd aus dem Haus Vidal. Ihr Haar war aufgelöst, das Gesicht rot vom Weinen. Bräunlich getrocknete Blutflecken klebten an ihren Ärmeln, ihren Händen, ihrem zerrissenen Kittel und ihrem Rock.
«Meine Herrin ist tot! Sie haben sie umgebracht und das Kind gestohlen!» Wie eine Wahnsinnige rannte sie durch die Gassen, hieb im Vorbeilaufen an die Türen, die Fensterläden. Überall erschienen Gesichter an den Fenstern, liefen die Leute auf die Straße hinaus.
«Was ist?»
«Wer ist gestorben?»
Die Magd erreichte die Place de l’Ange.
«Helft mir! Zu Hilfe, jemand tue doch etwas! Diese Hexen! Sie haben meine Herrin getötet!»
Die Frauen ließen ihre Kannen und ihre Krüge am Brunnen stehen und umringten sie. Hinter dem Haus des Konsuls hervor kamen diejenigen gerannt, die am Brotofen gewartet hatten. Sie kamen angerannt, mit mehligen Händen, mit den Backbrettern noch auf dem Kopf und den Laiben unter den Armen. Der Schuster im Ladengeschäft an der Ecke Saint Antoine ließ seine Ahle fallen und folgte dem Lärm.
«Was ist geschehen, Belota? Was ist mit Mestra Laura?!»
«Sie sollte doch ihr Kind gebären, gestern, und es dauerte so lange, und es fiel ihr so schwer. Meine arme kleine Herrin!» Die Frau schluchzte und schlug die Hände vor das Gesicht.
«Und was? Ist sie dabei gestorben?», riefen die anderen Frauen, mitleidig zwar, aber es war nichts Ungewöhnliches, dass eine Frau dabei zugrunde ging. Es geschah alle Tage.
«Die Hebamme konnte nicht helfen und auch der Medicus vom Herrn Bonnefoy nicht, und da sind in der Nacht diese Hexen gekommen, diese Beginen, und da war so viel Blut! So viel Blut!»
Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Sie rückten enger aneinander. Aus den Straßen und den Gassen kam immer mehr Volk gelaufen.
«Hast du das selbst gesehen, Belota? Wie konnte Mestre Marius das zulassen?»
«Ach, mein armer Herr! Er war so verzweifelt, und als der Arzt am Ende seiner Kunst war und niemand mehr helfen konnte, da war er so verzweifelt! Er liebt doch seine Laura so sehr!»
«Ja, das stimmt! Keine Frau wird mehr geliebt und ist besser behandelt worden von ihrem Mann als Mestra Laura!»
«Er würde alles für sie tun!»
Laura war sehr beliebt im Ort. Man sprach von ihr fast wie von einer Heiligen. Doch das Hospital der sorores hatte ebenfalls einen guten Ruf.
«Und hat er Jeanne gerufen? Die ist doch eine gute Krankenschwester!»
«Ja, sie hat meine Tante gesund gepflegt! Sie würde niemandem willentlich schaden.»
«Die Neue, Auda, die ist Hebamme. Sie hat das Kind meiner Schwester entbunden. Und das hat sie so gemacht, wie es immer gemacht wird. Eine Hexe ist sie gewiss nicht! Weißt du, was du da sagst?»
«Die waren es ja nicht! Sie haben die Fremde gerufen, diese Italienerin!»
Ein zorniges Raunen ging durch die Menge. Sie kannten sie nicht, diese verschlossene Frau.
«Was hat sie getan?»
«Sie hat sie aufgeschnitten wie ein Tier! Oh, es war entsetzlich!»
Die Frauen bekreuzigten sich und stöhnten auf.
«Sie haben stinkendes Räucherwerk abgebrannt und zum Teufel gebetet und Zeichen auf das Laken gemalt mit Lauras Blut! Und das Kind haben sie mitgenommen!»
«Das sollen sie büßen, diese losen Weiber!»
«Dafür kommt sie auf den Scheiterhaufen!»
«Was? Scheiterhaufen? Wir machen kurzen Prozess mit ihr!»
«Lasst uns die Männer holen!»
Einige liefen los, um ihre Brüder, Ehemänner und Söhne zu holen. Andere bewaffneten sich mit Stöcken, Brotmessern, Schürhaken und allem, was gerade zur Hand war. Dicht gedrängt liefen sie und suchten Schutz beieinander. Wie ein einziges Tier schob sich die Menge durch die Rue Vaillante.
Alix, die Tordienst hatte, hörte sie kommen. Gerade als sie die Schlupftür geöffnet und hinausgespäht hatte, bogen die Ersten um die Ecke.
«Heilige Mutter Gottes, steh uns bei!», rief Alix, zog sich hastig zurück, schloss das Tor und legte von innen den Riegel vor.
«Kommt rasch, irgendjemand! Helft mir die Tür zu verbarrikadieren! Wir werden angegriffen!», schrie sie in den Hof hinein.
Jeanne kam aus dem Hospital und rieb sich die Augen.
«Was ist denn? Was schreist du so herum. Ich habe nicht einmal drei Stunden geschlafen!» Sie hob den Kopf und horchte nach dem Tor hin. Jetzt konnte sie es selber hören: ein wütendes Brummen und Summen wie ein Hornissenschwarm. Einzelne Rufe waren zu verstehen: «Gebt die ausländische Hexe heraus!»
«Mörderin! Mörderin!»
«An den Galgen mit ihr!»
«Ersäufen soll man sie! Wartet, bis wir sie zu fassen kriegen!»
Von außen warfen sich Leute gegen das Tor. Die Lederriemen knarrten, der Riegel verbog sich, das Tor öffnete sich einen Spaltbreit.
Die dicke Manon kam hinzu. Mit ihrem Gewicht konnten sie den Spalt so weit schließen, dass es Jeanne und Alix gelang, den schweren Querbalken vor das Tor in die Halterungen zu heben. Die Tür war aus dickem Eichenholz. Man würde sie schon abbrennen müssen, um sie von außen zu öffnen.
«Holt Juliana!», rief Jeanne. Alix war auf ihren Schemel neben dem Eingang gesunken. «Mein Lebtag habe ich so was noch nicht gehört! Was wollen die denn von uns? Was habt ihr denn letzte Nacht getan?»
«Wir haben Laura das Leben gerettet! Als wir gegangen sind, waren alle wohlauf, Laura, Marius und das Kind! Es muss ein Irrtum sein, ein böswilliges Gerücht!», verteidigte sich Jeanne.
Juliana kam und hinter ihr der Rest der Beginen. Danielle kam aus dem Dormitorium und blieb ein Stück weit von den anderen entfernt stehen. Sie war kalkweiß im Gesicht.
Juliana öffnete das vergitterte Guckfensterchen und versuchte sich verständlich zu machen. «Nachbarn! Lasst uns in Frieden! Wir haben nichts getan!»
«Die italienische Hexe hat Mestra Laura ermordet und ihr Kind dem Teufel geopfert!»
«Das ist nicht wahr!»
«Das ist wohl wahr. Wir haben eine Zeugin, die hat alles mit eigenen Augen gesehen!»
«Mörderin! Mörderin! Heraus mit ihr!»
Eine Faust schlug gegen das Gitter. Juliana fuhr zurück, versuchte es aber noch einmal im Guten. «Hört doch, ihr guten Leute! Ihr kennt uns! Wir haben euch nie etwas Böses getan. Handelt doch nicht unüberlegt! Hört uns an!»
«Gegen euch haben wir nichts! Wir wollen die Italienerin! Gebt sie heraus!»
Das war die Stimme von Maudru.
«Geht weg, Leute. Sie hat Laura geholfen, nicht sie getötet», rief Juliana.
«Lügen! Diesmal seid ihr zu weit gegangen, ihr Teufelshuren! Dafür werdet ihr bezahlen!»
Pflastersteine krachten gegen das Holz, und dazwischen hörte man ein feuchtes Klatschen: Sie warfen mit Mist. Juliana schloss hastig das Guckloch. Das Tor erbebte von Axtschlägen und Fausthieben, doch das Vorhaben wurde schnell aufgegeben.
«Hol doch jemand Stroh und Späne! Wir räuchern das Nest aus! Wir zünden die Tür an!», brüllte draußen Maudru. «Wenn sie die Hexe nicht freiwillig herausgeben, dann holen wir sie uns! Und ihr anderen, wenn ihr sie schützt, garantieren wir euch für nichts! Heraus mit ihr, sofort, oder ihr werdet es alle bereuen!»
«Was können wir tun?» Julianas Blick fiel auf die hintere Mauer am Stall. Mit raschen Schritten ging sie hin.
Gebba drehte sich zu Danielle um und hob einen anklagenden Finger: «Da steht sie, und tut wieder unschuldig, wie gewöhnlich! Bist du nun zufrieden? Deinetwegen werden sie uns noch das Haus über dem Kopf anzünden!»
«Warte, Gebba! Danielle hat nichts Böses getan. Im Gegenteil! Ich verstehe das nicht: Als wir gegangen sind, da waren sie alle wohlauf», rief Jeanne.
«Nun, dann wird sie wohl später gestorben sein an der Pfuscherei, die diese da veranstaltet hat! Wo ist der Säugling? Sag es gleich!»
«Ich habe ihn nicht», sagte Danielle.
«Gebba! Ich sage dir doch: Wir sind zusammen fortgegangen, und alles war in Ordnung. Was auch immer sich bei den Vidals abgespielt hat danach, Danielle kann nichts damit zu tun haben», beteuerte Jeanne.
«Aber warum ist das Kind dann weg? Gebba hat recht: Das ist doch alles sehr verdächtig, nicht wahr, Gebba?», meldete sich Annik zu Wort. «Sie muss etwas getan haben, sonst hätten wir diesen Ärger jetzt nicht. Warum musstest du sie denn da hineinziehen, Jeanne? Hättest du doch der Natur ihren Lauf gelassen. Ihr derart ins Handwerk zu pfuschen, das ist Gotteslästerung!»
Die alte Auda schüttelte fassungslos den Kopf. Jeanne machte einen Schritt auf Gebba zu, baute sich direkt vor ihr auf und ballte die Fäuste. Sie verspürte eine fast übermächtige Lust, ihrer Schwester den Hals umzudrehen. «Hätten wir Laura sterben lassen sollen? Jesus gib mir Geduld, oder ich vergreife mich an dieser Frau! Gebba, du kannst doch nicht alles, was schiefgeht, Danielle anlasten. Hör uns doch einmal richtig zu!»
Gebba gab kein Stück nach. «Seit sie zu uns gekommen ist, sind wir vor die Inquisition gezerrt worden, sie hat die Nachbarn gegen uns aufgebracht, ein Verlöbnis zerstört, eine gute Frau von ihrem Ehemann fortgelockt. Und kaum dass sie ein Wochenbett aufsucht, siehe da, da ist der Säugling verschwunden? Und du willst mir einreden, sie habe mit allem nichts zu tun?»
In der Hahnengasse waren inzwischen der Sohn von Annik, der Bäcker Guillaume und einige andere eingetroffen, die den Beginen verbunden waren. «Nachbarn! Was tut ihr hier! Nehmt doch Vernunft an!», riefen sie.
«Sie sollen die Hexe herausgeben. Dann tun wir ihnen nichts!», schrien die anderen zurück.
«Wenn sie etwas getan hat, dann soll sie ordentlich vors Gericht gestellt werden. Es ist nicht eure Sache zu richten.»
«Nichts da. Da redet sie sich bloß wieder heraus. Sie soll bezahlen, und zwar gleich!»
«Lasst sie in Ruhe!»
«Weg vom Tor!»
«Nichts da! Wir holen uns die Mörderin. Steht uns nicht im Weg, oder ihr kriegt selber was aufs Maul!»
«Das werden wir gleich sehen!»
Mit Holzknüppeln und Fäusten drangen sie auf die Menge vor dem Tor ein. Alix öffnete kurz das Fensterchen und schloss es gleich wieder, um sich umzuwenden und zu schreien: «Annik! Dein Sohn ist zu unserer Verteidigung gekommen. Jetzt prügeln sie aufeinander ein!»
«Oh, lieber Gott! Hoffentlich passiert meinem Adolphe nichts!»
Annik rannte zum Tor und schaute hinaus: Die Verteidiger waren eindeutig in der Minderzahl. Sie steckten Prügel ein, und es gelang ihnen nicht, die Menge vor dem Tor zu zerstreuen. Einige hatten Stroh und Kleinholz unten vor dem Tor aufgeschichtet. Das Holz der Tür begann bereits zu schwelen. Annik roch den Qualm und musste das Guckloch sofort wieder schließen. Rauchschwaden drangen durch die Ritzen.
«Sie haben einen Brand gelegt!»
«Seht ihr? Lasst sie uns herausgeben. Dann haben wir Ruhe!», sagte Gebba.
«Judas!»
Juliana war unterdessen zur rückwärtigen Mauer gelaufen und sprach mit Renata. Renata holte einen kleinen Schemel aus dem Stall, stieg darauf und sah über die Mauer. Unten stand der übliche Pulk Bengel und glotzte herauf.
«Du da, Olivier!», sprach sie den größten Jungen an. «Willst du dir einen ganzen Sou verdienen? Lauf rasch zur Porte Murette und hol die Stadtwachen, die dort stehen! Sag ihnen, sag ihnen … ach, sag ihnen einfach, wenn sie nicht sofort kommen, wird es Mord und Totschlag geben. Schnell! Beeil dich! Und danach gehst du zum Franziskanerkloster und bittest Calixtus herzukommen! Erst die Wache, dann Calixtus, hast du verstanden?»
Der Junge nickte eifrig und sauste davon.
Einige Beginen umstanden Danielle: Magdalène, Manon, Guilhelme, Jeanne, Auda, Alix. Ein anderer Teil von ihnen hatte sich hinter Gebba aufgestellt: Annik, Justine, Philippa, Marthe. Danielle fühlte einen harten, kalten Klumpen anstelle ihres Magens. Ihr war, als würde sie in tiefem Wasser versinken. Alles wiederholte sich ganz so, wie sie es schon einmal erlebt hatte. Ganz eingeschrumpft war sie, hörte nur noch undeutlich die Worte, sah kaum noch die Schwestern. Das Blut pochte in ihren Ohren, ihren Wangen. Sie spürte nicht, wie Magdalène ihr einen Arm um die Schultern legte. Alles war weit in die Ferne gerückt. Sie stand auf einem gläsernen Berg.
«Gebba! Von Anfang an hast du es auf Danielle abgesehen, du Luder!», rief Magdalène. «Ständig hast du sie mit deinen Sticheleien und Verdächtigungen verfolgt! Warum willst du ihr nicht zuhören? Sie sagt doch, dass sie das Kind nicht genommen hat, und Jeanne und Auda bestätigen es. Was willst du noch?»
«Warum sollten wir jetzt ihren Lügen Glauben schenken?», rief Gebba. «Die ganze Zeit über hat sie uns hingehalten und uns etwas vorgespielt. Aber wie es scheint, holt ihre Vergangenheit sie jetzt ein! Steh da nicht so trotzig! Zeige endlich Reue! Auf die Knie mit dir und gestehe!»
Anne war hinzugekommen und hielt Danielle wortlos eine Bibel hin. Danielle legte die Hand darauf und sagte: «Ich schwöre, bei meiner Seele, dass ich Ärztin bin. Ich habe Laura nach allen Regeln meiner Kunst behandelt. In den frühen Morgenstunden habe ich sie mit Gottes Hilfe von einem gesunden, kräftigen Sohn entbunden. Auda hat ihn Marius selbst in die Arme gelegt. Mestra Laura war so wohlauf, wie man es erwarten kann.» Doch selbst für sie klang ihre eigene Stimme taub, ohne Überzeugungskraft.
«Das kann ich auch beschwören», sagte Jeanne. «Es ist die Wahrheit!»
Aber Gebba ließ sich nicht beruhigen: «Wenn es die Wahrheit ist, dann soll sie sich stellen. Sie soll hinausgehen und sich dem Gericht überantworten!»
Alix hatte die Meute gesehen. «Gebba, das da draußen ist kein Gericht und keine Gerechtigkeit! Sie werden sie in Stücke reißen!»
«Das wird uns auch geschehen. Warum sollen wir ihretwegen leiden?!»
«Gebba! Es reicht!», rief da Juliana. «Ich habe endlich genug von dir und deiner scharfen Zunge, von dem Unfrieden, den du stiftest! Du bist wie eine Spaltaxt in unserer Gemeinschaft. Du bist diejenige, die ausgestoßen werden sollte!»
«Und du bist nicht fähig, uns zu leiten! Was für eine Meisterin bist du denn? Hier darf jede tun, was ihr gefällt. Es herrscht keine Zucht! Wäre ich Meisterin, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen.»
«Aha, darum ging es dir also die ganze Zeit. Jetzt hast du dich entlarvt!», schrie Magdalène.
«Ich wähle Gebba!» Das war die kleine Annik, die sich hinter der Witwe versteckte. «Es ist gut und schön, milde zu sein, wie Juliana es ist. Doch ihr seht ja, was es uns eingetragen hat. Zucht bringt Frucht! Hier muss ein strengeres Regiment einkehren! Alix trinkt, Manon hat sich der Völlerei ergeben, Anne verbreitet Ketzerei! Das kommt dabei heraus, wenn man die Dinge schleifen lässt! Meine Mutter selig hat immer gesagt: Die beste Zucht ist eine harte Strafe!»
«Ich und Völlerei? Bei deiner Küche? Da kommen ja einem Schwein die Tränen!», kreischte Manon.
«Was, du missgönnst mir die paar Schlucke Wein? Na komm du erst mal in mein Alter. Dann wirst du sehen, wie es ist!», wehrte sich Alix.
«Und was hast du plötzlich gegen Danielle?», fragte Anne ganz ruhig.
«Nun, ohne Rauch kein Feuer. Kennen wir sie denn? Wer nichts zu verbergen hat, der macht auch nicht solch ein Geheimnis um sich!», gab Annik trotzig zurück.
«Gebba soll Meisterin sein!», sagten einige. «Sie würde uns nicht so in Schwierigkeiten bringen.»
«Niemals! Juliana ist und bleibt unsere Grande Dame!», sagten die anderen.
Feindselig standen sich die Gruppen gegenüber.
«Es ist euer gutes Recht, eine andere zur Meisterin zu wählen. Ich habe nichts dagegen», sagte Juliana beschwichtigend. «Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.»
«Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt», erwiderte Gebba kampflustig.
«Da ist sie! Greift sie euch!» Drei Männer, allen voran Maudru, waren über die Stallmauer gestiegen und rannten durch den Garten auf Danielle zu. Sie lief nicht weg vor ihnen. Sie stand da, mit hängenden Armen, bereit, alles mit sich geschehen zu lassen.
«Rührt sie nicht an!» Magdalène stellte sich ihnen in den Weg und wurde beiseitegeworfen wie eine Lumpenpuppe. Zwei der Kerle griffen Danielle. Maudru spuckte vor ihr auf das Kopfsteinpflaster: «Haben wir dich! Die ganze Zeit über hat es mich schon gejuckt, dass du mir meine Garsende dumm geredet hast, du Schlampe. Jetzt werden wir dich lehren, was passiert, wenn ein Weibsstück die Nase zu hoch trägt! Platz da!» Drohend ging er auf die Beginen zu. Justine und Gebba wichen zurück, doch die anderen bildeten eine Mauer um Danielle.
«Ihr werdet unsere Schwester nicht mitnehmen! Eher müsst ihr uns alle umbringen!», sagte Anne, bleich, aber entschlossen.
«Die Stadtwachen sind da!», schrie Alix am Tor. Sie mühte sich, die Balken hochzuhieven, die sie vorher so mühevoll vorgelegt hatten. Jeanne kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam öffneten sie das Tor und ließen die gens d’armes ein. Die Menge draußen war ruhiger geworden und hatte sich ein kleines Stück vom Tor zurückgezogen.
«So, jetzt kriegt ihr’s!», murrte es.
Maudru und seine Gesellen mussten Danielle loslassen.
«Ihr wartet jetzt draußen, bis unser Hauptmann kommt. Das hier wird ordentlich gemacht, so wie es sich gehört.»
Wütend stelzte Maudru an den Beginen vorbei auf die Straße. «Es sind doch nur zwei. Wollt ihr euch von denen etwa was vorschreiben lassen?», hörten sie ihn in die Menge rufen, doch keiner hatte Lust, sich mit den Bewaffneten einzulassen.
Der Hauptmann der Wache erschien, Bélibaste, ein vierschrötiger Mann von mittlerer Statur. Er hatte eine lange, hässliche Narbe im Gesicht, die vom rechten Augenrand bis zum Mund verlief und die ihm ein finsteres Aussehen verlieh. Jedermann hatte Respekt vor ihm, sogar Maudru wich zurück und schwieg lieber. Mit sich brachte er Marius Vidal und Abbé Grégoire.
Marius’ Augen waren gerötet. Er sah müde und traurig aus, über Nacht um Jahre gealtert. «Bürger!», rief er vor dem Tor von Sainte Douceline. «Geht nach Hause. Laura lebt! Ihr seid einem Gerücht aufgesessen. Die Beginen haben ihr beigestanden und sie gerettet, nicht umgebracht!»
«Mestra Laura lebt?»
«Sie lebt! Laura lebt!», setzte sich die Nachricht durch die Menge fort, wie Wellen auf einem See, in den man einen Stein geworfen hat.
«Laura lebt!», rief man über die Place de l’Ange.
Die Magd wurde nach vorne geschoben. «Sie hat es überall herumgeschrien, dass ihre Herrin tot sei!», hieß es.
«Ich hab’s gesehen!», verteidigte sie sich. «Ach, Herr Marius, ich bitte um Vergebung, aber als ich heute Morgen in das Schlafzimmer kam, um nach der Herrin zu sehen, da sah ich Euch über ihr Bett geworfen wie in einem großen Kummer. Und sie war ganz bleich und still! Und von dem Säugling war nirgends eine Spur.»
«Seht ihr, es ist ein Missverständnis!», rief Bélibaste.
«Was ist aber mit dem Säugling?», fragten diejenigen, die Marius zunächst standen.
«Ich weiß es nicht. Es stimmt: Unser Kind ist verschwunden.»
«Habt ihr denn alles abgesucht?»
«Das ganze Haus haben wir durchsucht vom Keller bis zum Dachboden. In jeden Winkel haben wir geschaut. Aber wie sollte sich denn so ein hilfloses Wesen aus eigener Kraft fortbewegen? Wir haben alle Dienstboten befragt und die Nachbarn gerufen. Es gibt keine Spur von meinem Sohn. Es ist, als habe er nie existiert! Wir können es uns nicht erklären. Meine arme Laura ist ganz verzweifelt!»
«Fragt die Hexe!»
«Brennt sie, schlagt sie, werft sie ins Wasser, dann wird sie schon sagen, was sie damit getan hat!»
«Die Begine Danielle hat nichts damit zu tun. Als sie das Haus verließ, da waren wir noch alle drei zusammen. Laura gab dem Kind die Brust. Dann bin ich eingeschlafen. Als ich erwachte, war es einfach fort.» Tränen liefen über sein Gesicht. Einige in der Menge fuhren sich über die Augen, ein paar weinten offen mit.
«Sicher ist sie im Schutz der Dunkelheit wiedergekommen», sagte Abbé Grégoire. «Es ist ja bekannt, dass Hexen von dem Blut ungetaufter Neugeborener angezogen werden. Vor allem, wenn sie bereits in das betreffende Haus eingeladen wurden. Dann können sie dort frei ein- und ausgehen. Sie muss in den Kerker geworfen und befragt werden!»
«Das wird nicht nötig sein», sagte Marius. «Meine Frau hat dieser Person vertraut, und ich tue es auch. Schaut sie euch doch an. Sieht so eine Hexe aus?»
«Wie sieht denn eine Hexe aus? Der Satan zeigt sich oft in schöner Gestalt, und so tun es auch seine Werkzeuge. Nein, ich sage, sie muss gefangen gesetzt und verhört werden. Heute noch!»
«Durchsucht doch den Hof, durchsucht alles, ob ihr das Kind findet!», rief die Menge.
Ein paar weitere Büttel waren dazugekommen. Auf den Befehl ihres Hauptmanns hin suchten sie alle Gebäude und Keller des Beginenhofes ab. Annik schrie auf und lief ihnen hinterher, als sie es aus Küche und Vorratskammer poltern hörte. Sie warfen die Körbe um, sahen in die Ölkrüge, schlitzten Kornsäcke auf. Auf dem Heuboden und im Stall suchten sie. Lautstark machten die Maultiere ihrer Empörung Luft. Die Büttel drangen sogar in den Schlafsaal ein und hoben alle Decken hoch, schauten in alle Truhen. Zu Jeannes Entsetzen sahen sie auch in den Betten der Kranken nach.
Doch sie kamen mit leeren Händen zurück.
«Hier ist es nicht!»
«Da seht ihr es. Wir sind gottesfürchtige Frauen. Ihr kennt uns seit vielen Jahren. Wie könnt ihr nur annehmen, dass wir Kinder stehlen!», schalt Anne die Nachbarn.
«Euch verdächtigen wir ja auch nicht. Aber was ist, wenn euch die da behext hat?»
Anne schnaubte verächtlich. «Euch dampft noch der Wein von letzter Nacht aus dem Hirn! Geht nach Hause und schlaft euren Rausch aus.»
«Wir müssen Sieur de Bonnefoy fragen, was nun geschehen soll. Ihm obliegt die Gerichtsbarkeit im Namen seines Herrn», sagte Bélibaste. «Bis er entschieden hat, sollen die Beginen ihren Hof nicht verlassen und für ihre Schwester bürgen. Zu ihrer Sicherheit stelle ich Wachen vor dem Tor und an der hinteren Mauer auf.» Er gab seinen Männern ein kurzes Zeichen mit der Hand, woraufhin sie Aufstellung nahmen.
«Ein Fall von Hexerei obliegt der Kirche und nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit! Übrigens ist der Herr dieser Stadt ja auch das Oberhaupt der Kirche. Schon deshalb muss mir das Weib überantwortet werden! Sofort werde ich den Bischof um die Entsendung eines Inquisitors bitten», rief Abbé Grégoire, der seine Chance nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen wollte. Hatten ihn diese Weiber nicht schon einmal angeführt? Diesmal würde es ihnen nicht gelingen, sich herauszureden.
«Wie Ihr wünscht, Herr Pfarrer. Aber ich würde dennoch nicht dazu raten, die Begine in eine unserer Zellen zu bringen. Sie sind sämtlich mit schlechten Kerlen belegt, mit Schlägern, Säufern, Vergewaltigern und dergleichen. Das kann man einer Frau doch wohl kaum zumuten, sei sie nun schuldig oder nicht», gab Bélibaste zu bedenken.
Dem musste sogar der Abbé widerwillig zustimmen.
«Wo ist Calixtus? Fragt ihn doch, er wird für uns bürgen», sagte Anne.
«Calixtus ist nicht in der Stadt. Diesmal wird er euch nicht helfen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen», sagte Abbé Grégoire und konnte ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken.
Die Leute zogen ab, einer nach dem anderen. Sie waren unzufrieden und murrten untereinander: «Herr Marius ist zu nachsichtig. Man hätte das Weib sofort der Peinlichen Befragung unterziehen sollen!»
«Ja! Wer weiß, vielleicht hat sie das Kind versteckt, und es wäre noch zu retten, wenn man es schnell fände!»
«Na, aber die Hexe ist doch eingesperrt und kann nicht fort, um ihr Werk zu vollenden.»
«Das denkst du! Wenn sie eine Hexe ist, dann kann sie fliegen. Sie beschmiert sich mit einer Flugsalbe aus Fledermauskot und Krötenblut, und dann kann sie durch die Lüfte fliegen und tun, was sie will.»
«Wo könnte sie es hingebracht haben?»
«Vielleicht zu den Bettlern an der Stadtmauer! Mit denen sind die Beginen doch immer so vertraut.»
Einige Männer machten sich zu den Bretterverschlägen auf, die an der Porte Durance an der Stadtmauer lehnten. Dort kühlten sie ihren Mut an den armen Leuten, die dort hausten. Sie drangen in die elenden Behausungen ein, rissen die Kinder aus ihren Wiegen, stießen die Frauen herum und stellten Fragen. Ein Neugeborenes fanden sie nicht.
Daraufhin beschlossen sie, ins Wirtshaus zu gehen und ihre Heldentaten zu begießen.
In der Rue de Courtrasse sah es aus wie nach einem Krieg. Pflastersteine und zerschlagene Möbel lagen herum. Die Verzierungen an den Türpfosten waren abgeschlagen, so weit die Meute hatte hoch reichen können. In der Tür waren Axthiebe zu sehen, und unten waren die Bretter angekohlt. Still schlossen die Beginen ihr Tor und verriegelten es von innen.
Alle wandten sich Danielle zu.
«Ist es jetzt nicht an der Zeit, dass du mit der Sprache herausrückst?»
«Ja», sagte Danielle. «Ich will euch meine Geschichte erzählen. Und dann sollt ihr über mich urteilen. Was immer ihr dann beschließt, dem werde ich mich unterwerfen.»