8.

Es roch nach Holzkohle und frischgebackenem Brot. Der Brotofen hinter dem Haus des Konsuls war bereits in der Dämmerung angeheizt worden und verstrahlte eine trockene Hitze. Mannshoch war er und hatte vier Mäuler, die beständig gefüttert werden wollten. Die Frauen von Pertuis standen in einem weiten Kreis um das Ungetüm herum. Einige warteten, dass ihre Backwaren fertig würden, andere darauf, dass sie an die Reihe kämen. Annik und Magdalène hatten wie jeden Morgen den Weg durch die Rue Vaillante zur Place de l’Ange gemacht, beladen mit großen Holzbrettern, auf denen die vorgeformten und bemehlten Laibe lagen. Abends wurde der Teig geknetet und angesetzt. Über Nacht durfte er zugedeckt an der Kaminglut ruhen und hübsch aufgehen. Vor dem Kirchgang prüfte Annik den Teig. Sie stach mit dem Finger hinein und beklopfte ihn. Zäh und seidig glänzend gab die Oberfläche unter dem Finger nach. Eine Kuhle entstand und füllte sich sogleich wieder von innen. Weich musste der Teig sein und doch eine gewisse Spannung haben. Er war wie eine Frau: Was weich ist und nachgiebig, kann dennoch große Kraft entwickeln durch Stetigkeit. Zufrieden klopfte sie auf den Teigklumpen. Das Brot von Sainte Douceline war ihr ganzer Stolz. Noch nie war ihr der Teig zusammengefallen oder sauer geworden. Es war gut.

Liebevoll formte sie die Brote und legte sie auf die Tragebretter, auf denen sie während des Kirchgangs noch ein wenig aufquellen durften. Viermal hatten die Beginen um das Recht nachgesucht, einen eigenen Brotofen in ihrem Hof bauen zu lassen. Jedes Mal war ihre Eingabe zurückgewiesen worden.

«Warum wollt ihr denn einen eigenen Brotofen? Ihr könnt doch den hinter dem Haus des Konsuls nutzen», hatte man ihnen zur Antwort gegeben. Der Brotofen gehörte dem Herrn der Stadt ebenso wie die Getreidemühle, und jeder, der diese Einrichtungen benutzte, hatte eine Abgabe zu leisten.

«Wir wollen, soweit es möglich ist, in Abgeschiedenheit leben. Es ist nicht gut, dass sich meine Schwestern zu oft unter das Volk mischen, Tratsch und Anfeindungen ausgesetzt sind. Alle Klöster haben ihre eigenen Brotöfen», hatte Juliana gesagt.

«Aber ihr seid nun mal kein Kloster», hatte man sie beschieden.

«Wir haben uns nicht ganz aus der Welt zurückgezogen, das ist wahr. Doch wir verlassen unser Haus nur für den Kirchgang und die notwendigsten Besorgungen. Das will ich so, um meine Schwestern zu schützen, und ihr verlangt es doch auch! Sagt ihr nicht immer wieder, dass alleinstehende Frauen eine Gefahr für die guten Sitten sind? Dann gebt uns auch die Möglichkeit, unter uns zu bleiben.»

Aber alles Bitten und Verhandeln hatte nichts genützt. Und so stand Annik auch heute wieder mit den Bürgerinnen und Mägden zusammen am gemeinschaftlichen Ofen.

«Der junge Medicus ist ja recht oft bei euch in letzter Zeit», sprach eine Nachbarin Annik an.

«Er behandelt eine von uns wegen ihres verlorenen Gedächtnisses», erwiderte Annik.

«Ach, die Italienerin?»

«Genau dieselbe.»

«Und wie macht er das?»

«Er spricht zu ihr mit ruhiger und liebenswürdiger Stimme, er schaut ihr tief in die Augen. Er bringt ihr schöne Sachen mit, um sie fröhlicher zu stimmen. Und alles das tut er nur aus Freundlichkeit und Nächstenliebe, ohne einen einzigen Sou dafür zu verlangen», schwatzte Annik.

‹Nur aus Nächstenliebe! Wer es glaubt›, dachte die Nachbarin.

«So ein gutaussehender, freundlicher Mann, der Herr Carolus», redete Annik weiter, «dem würde ich alles erzählen. Er hat so eine Art, dass man gleich gesund werden möchte, nur wenn er mit einem spricht.»

«Sind sie etwa allein miteinander?», fragte die Nachbarin lauernd.

«Nein. Natürlich nicht! Sie sitzen im Garten, wo jeder sie sehen kann! Ich schaue manchmal aus der Küche und sehe ihnen zu. Da sitzen sie unter dem Lorbeer und sprechen ganz ruhig miteinander. Die Blumen duften und die Vöglein singen …»

«Die Vöglein singen, soso.»

Eine Frau aus der Rue Saint Jacques war hinzugetreten: «Ist es wahr, dass sich die Frau von Maudru zu euch geflüchtet hat? Na, verstehen kann man’s schon!»

«Der hat sie arg gebeutelt, das kann ich bezeugen. Kaum ein Tag verging, an dem sie nicht grün und blau im Gesicht war!», sagte eine andere.

«Ihr ganzes Geld hat er versoffen und ins Bordell getragen, das ist wirklich wahr! Es war nämlich sie, die das Geld hatte. Sie hat eine Ölmühle geerbt und einen schönen Olivenhain draußen vor der Stadt. Er hat gar nichts in die Ehe gebracht. Und wenn sie ihn wirklich verlässt, dann besitzt er nichts als die Kleider, die er auf dem Leib trägt.»

«Da hast du den Grund, warum es ihn so heftig nach seiner Frau verlangt», raunte Magdalène.

«Und? Nehmt ihr sie auf, wird sie bleiben?», fragten die Frauen.

«Natürlich nehmen wir sie auf. Ob sie bleiben wird, das weiß ich noch nicht, da muss sie sicher erst mal sehen, ob es ihr gefällt, wie wir leben. Das ist ja nun nicht jedermanns Sache.»

Eine Ladung Brote wurde aus dem Ofen gezogen, und Annik war an der Reihe.

«Ich glaube nicht, dass die Garsende bei denen bleibt!», sagte eine der Frauen, als Annik am Ofen hantierte. «Sie ist doch eine anständige Bürgerin und hält was auf sich!»

«Was soll das heißen?», sagte Magdalène, die es gehört hatte.

«Na, das müsstest du wohl am besten wissen», erwiderte die Frau anzüglich.

«Ach, alte Geschichten. Wetz deine Zunge anderswo», gab Magdalène gleichmütig zurück.

Als die Brote fertig waren, holte Annik sie mit einem Schieber heraus. Sie waren goldbraun, und die Kruste knackte leise beim Abkühlen. Je ein Holzbrett unter dem Arm und eines auf dem Kopf balancierend, machten sich Annik und Magdalène auf den Heimweg.

«Du solltest denen nicht so viel von Carolus und Danielle erzählen, Annik», mahnte Magdalène.

«Warum denn nicht? Sie tun doch nichts Verbotenes. Und es ist doch wirklich wahr: Was dieser Doktor für ein guter Mensch ist und was er alles anstellt, damit unsere Danielle wieder ganz wird! Obwohl ich manchmal denke, dass Vergessen auch eine Erleichterung sein kann. Meine Mutter selig hat immer gesagt: Das Gedächtnis ist so kurz und das Leben so lang!»

Die Neue, Garsende, hatte sich gleich am nächsten Tag in der Weberei eingefunden.

«Ich habe all unser Tisch- und Bettleinen selbst gemacht», sagte sie. «Lasst mich bitte bei euch arbeiten.»

Man wies ihr einen leeren Webstuhl zu. Als Danielle am späten Nachmittag kam, um ihren Teppich weiterzuweben, hob Garsende den Blick von ihrer Arbeit: «Danielle! Schön, dass du auch hier bist!» Danielle nickte ihr freundlich zu und setzte sich vor ihr angefangenes Bildwerk.

«So, das ist also deines! Was soll es denn darstellen?», fragte die Neue interessiert.

«Wenn man das nur wüsste!», giftete Gebba, aber Garsende beachtetet sie nicht weiter.

Der Bildteppich war inzwischen von oben nach unten bis auf ein Drittel gewachsen. Man sah einen grünlich blauen Himmel, Kopf und Gesicht einer Frau. Braunes Haar fiel ihr bis auf die Schultern, war aber mit einem Band zurückgehalten. Das weiße Gewand war weit und über der Schulter gefältelt. Hinter der Gestalt sah man verschiedene Blumen.

«Es sind gar keine Ranken. Es wird eine Art Kranz», sagte Guilhelme. «Ist es vielleicht eine Maya, eine Frühlingsgöttin?»

«Nein, keine Göttin», antwortete Danielle.

«Was sind das für Blumen, die du dargestellt hast? Diese Rispe mit den rosenfarbigen Blüten wie kleine Lippen, die kenne ich. Ist das nicht Betonienkraut?», wollte Garsende wissen.

«Mag sein. Es waren eben gerade ein paar mit Waid gefärbte Enden übrig.»

«Und diese vierblättrige Blüte, ist das nicht Weinraute? Das ist sehr merkwürdig. Solche einfachen Blumen sind sonst nie auf allegorischen Darstellungen zu sehen. Sonst nimmt man Kornblumen für die Gottesmutter …»

«So ein reines Blau war aber nicht dabei. Waid ergibt mehr ein helles Rötlichblau wie dieses. Deshalb habe ich Betonienkraut dargestellt», erwiderte Danielle.

«… Lilien für die Reinheit des Herzens …»

«Das hätte sich gegen das weiße Gewand zu wenig abgehoben.»

Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihr Werk. Die Oberfläche würde unregelmäßig werden, da sie Reste verschiedener Wollqualitäten verwendete: weiche Unterwolle, die härteren langen Fasern der Überwolle, kurzes, glattes Haar aus dem Bauchfell ebenso wie längeres, lockiges vom Rücken. Es war Lämmerwolle darin und Wolle von Mutterschafen. Zum Glück verwendeten die Beginen nur Schurwolle, kein Material vom Schlachtvieh. Die Wolle vom toten Tier wurde rasch störrisch und trocken.

«Auf jeden Fall wird es ein hübsches Bild, schöne Farben, eine feine Darstellung!», lobte Guilhelme. Klipp, klapp, machten die Schäfte des Webstuhls. Klapp, klipp! Klapp!, folgten die anderen drei in einem regelmäßigen Rhythmus.

«Wenn es keine Maya ist, welche Heilige könnte es dann sein?», fragte Manon.

«Es ist keine Heilige», sagte Danielle.

«Irgendeine Frau mit gewöhnlichen Wiesenblumen. Wer würde so was kaufen oder sich an die Wand hängen? Es ist eine Verschwendung von guter Wolle, das ist es!» Das kam von Gebba.

«Mir gefällt es», sagte Garsende loyal.

Draußen entstand eine Unruhe. Annik kam aufgeregt hereingelaufen: «Garsende, dein Mann ist da mit zwei Ratsherren und Abbé Grégoire. Ach, schaut der Abbé wieder finster drein! Ich fühle mich wie eine Maus, die gerade einer Katze begegnet, wenn er mich so anschaut. Und diese beiden Herren …»

«Annik», mahnte Danielle.

«Du sollst ins Refektorium kommen», brachte die Küchenschwester die Botschaft auf den Punkt.

Garsende wurde kreidebleich und hielt sich am Webstuhl fest: «Nein. Ich komme nicht.»

«Aber du musst, haben sie gesagt! Nun komm doch. Du bist ja nicht allein mit ihm. Juliana ist da und auch zwei Leute von der Stadtwache. Er scheint alles zu bereuen, dein Mann. Er sieht ganz bedrückt aus, hat sich gewaschen, barbieren lassen und ein frisches Gewand angezogen – extra für dich! Vielleicht überlegst du dir die Sache nochmal. Meine Mutter selig hat immer gesagt: Die Frau erhält ihr Licht vom Mann, wie der Mond von der Sonne …»

«Annik, halt den Mund!», sagte Danielle barsch.

Garsende stand auf. «Wenn du mitkommst, Danielle, dann will ich hingehen und ihm vor Zeugen sagen, dass ich nicht zu ihm zurückwill und warum.»

Danielle stand ebenfalls auf. Garsende hängte sich bei ihr ein. Eng an die größere, kräftigere Frau gedrückt, schritt sie über den Hof.

Juliana hatte die Besucher in den Speisesaal gebeten, da kein Besucherraum vorhanden war, der groß genug gewesen wäre. Dort saßen sie am Kopfende des langen Tisches, der sauber geschrubbt war und nach Bienenwachs duftete. Annik flatterte um sie herum und bot ihnen zu trinken an. Alle nahmen einen Becher verwässerten Wein, nur der Priester lehnte ab.

Als die Frauen hereinkamen, Garsende und Danielle Arm in Arm, sprang Maudru auf: «So ist das also! Du hast dich von einem dieser unnatürlichen Weiber verführen lassen!»

Garsende erstarrte. Aber dann straffte sie sich und erwiderte bebend: «Du hast nichts als Schmutz in deinen Gedanken. Das wundert mich auch gar nicht, wenn man deinen Umgang kennt. Bin ich nicht gestern Abend gekommen, um dich aus dem Hurenhaus zu holen?»

«Still!», fuhr einer der Ratsherren dazwischen. «Keine wilden Beschuldigungen. Wir sind hier, um diese Sache zu klären. Warum hast du deinen Mann verlassen, Garsende?»

«Das wisst ihr ganz genau. Die ganze Stadt weiß es: Er trinkt, und er arbeitet nicht. Er unterhält Kurtisanen mit meinem Geld und hat sie sogar an meinen Tisch und in unser Ehebett gebracht!»

«Das alles ist kein Grund», sagte Abbé Grégoire. «Ich billige es zwar nicht, doch das gibt dir nicht das Recht, das heilige Sakrament der Ehe aufzukündigen!»

«Er schlägt mich wegen Nichtigkeiten und sogar ohne Grund, nur wenn er schlechte Laune hat!», setzte Garsende nach.

«Das steht ihm zu», sagte der Abbé ruhig.

«Einmal hat er mir sogar die Frucht aus dem Leib geprügelt.»

«Ach, ich will es doch gar nicht tun, aber du reizt mich oft so sehr mit deiner ständigen Nörgelei», rief ihr Mann.

«Ich müsste nicht nörgeln, wenn du arbeiten würdest und wenn du nicht ständig in den Wirtshäusern herumlungern würdest!», entgegnete Garsende.

«Ich wäre nicht im Wirthaus, wenn du nicht ständig nörgeln würdest!»

Der Priester hob die Hand wie eine Mauer, die er zwischen den beiden Streithähnen errichtete. Garsende presste die Lippen zusammen. Maudru warf beide Hände in die Luft: «Also gut, also schön! Ich gelobe Besserung! Komm nach Hause, Garsende! Ich will auch das Trinken lassen, und ich werde in der Mühle arbeiten.»

«Das hast du schon so oft gesagt!»

«Sagt ihr, dass sie zurückkommen muss!», wandte sich der verlassene Ehemann an die Ratsherren.

«Ich sehe auch keinen Grund, warum man dir erlauben sollte, hierzubleiben», sagte der Angesprochene, ein alter Mann mit einem kantigen, herrischen Gesicht. Er stand der örtlichen Wollweberzunft vor und schätzte die Beginen nicht. «Es können die Weiber nicht einfach Haus und Hof verlassen, nur weil sie sich einmal über ihren Mann geärgert haben. Wo kämen wir da hin?»

«Aber er hat mich verstoßen!», schrie Garsende. «Alle haben es gehört, seine Hure, unsere Nachbarn! Fragt die Leute in der Rue Fontaine, man wird es Euch bestätigen!»

«Er hat laut und deutlich gesagt: ‹Pack dich! Verschwinde! Ich will dich nie wieder sehen!› Ich habe es gehört. Magdalène hat es gehört», sagte Danielle.

Garsende sah sie dankbar an. «Da habt Ihr’s.»

«Eine Bettlerin und eine ehemalige Hure, was sind das für Zeugen?», schrie jetzt Maudru. Er war wieder aufgesprungen und stemmte beide Handflächen flach auf den Tisch. Sein Gesicht war rot angelaufen.

‹Er hat ein cholerisches Temperament›, dachte Danielle unwillkürlich, ‹einen Überfluss an gelber Galle.›

«Wenn sich gut beleumundete Zeugen dafür finden lassen, dass er sie verstoßen hat, dann hat sie das Recht, Euch zu verlassen, und darf ihre Mitgift zurückfordern», sagte einer der Ratsherren. «Wir geben Euch drei Tage Zeit, diese Zeugen beizubringen, Madame Garsende. Bestätigt niemand Eure Aussage, dann müsst Ihr zu Eurem Ehemann zurückkehren.»

«Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden», sagte der Abbé mit einem finsteren Blick auf Juliana. «Ich warne dich. Euer Seigneur Bertrand de Got, der jetzt Clemens V. ist, und ich, wir haben euch bislang geduldet. Wenn sich jedoch herausstellt, dass ihr für Unfrieden in der Stadt sorgt und brave Töchter und Ehefrauen von ihren Vätern und Männern fortlockt, dann werden wir euer Haus auflösen! Dies ist kein Kloster, es ist kein Arbeitshaus, es ist streng genommen gar nichts. Nehmt euch also in Acht!»

Die Herren standen auf und schickten sich an, den Konvent zu verlassen. Im Vorübergehen griff Maudru Garsendes Arm: «Garsende! Ich habe es nicht so gemeint. Wir haben uns doch noch nach jedem Streit wieder vertragen, und dann war es schön! Willst du nicht mitkommen?»

Seine Frau blieb sitzen und schaute ihn nicht an. Sie weinte. Danielle schob den Mann entschlossen weg von ihr: «Du lässt sie jetzt besser in Ruhe.»

Er warf ihr einen mordlustigen Blick zu.

Der Zunftmeister zuckte die Achseln und zog Maudru mit sich: «Reg dich nicht auf, Maudru. Du weißt ja: Der glückliche Mann verliert seine Frau, der unglückliche ein Pferd.»

Abbé Grégoire wandte sich auf der Schwelle zu Juliana um: «Ach – eh ich’s vergesse: Man hat mir berichtet, dass sich deine Schützlinge des Nachts auf den Straßen herumtreiben, ganz wie gewöhnliche Dirnen. Ist das wahr?»

Juliana erwiderte seinen Blick ruhig: «Zwei von ihnen haben sich unerlaubt hinausbegeben, um das Johannisfeuer anzusehen. Sie werden bestraft.»

«Wer bestimmt diese Strafe und wer wacht darüber?»

«Ich. Die Franziskaner, vertreten von Bruder Calixtus, der, wie Ihr wisst, als unser geistiger Beistand fungiert.»

«So? Dieser Calixtus! Es kommt vielleicht bald eine Zeit, da ihr euch nicht mehr hinter seiner geflickten braunen Kutte verstecken könnt.» Mit diesen Worten ging der Abbé hinaus. Juliana winkte Annik heran: «Annik, nimm eine Schwester mit und gehe Calixtus holen. Ich brauche ihn.» Und zu Magdalène und Danielle: «Danielle, du bist noch nicht lange genug bei uns, und du bist dir über unsere prekäre Lage nicht im Klaren gewesen. Ich halte dich für klug genug, dass du auf den Ausflug sicher verzichtet hättest, wäre dir bewusst gewesen, wie sehr uns das gefährdet. Aber Magdalène! Du weißt es, und du hast mein Vertrauen missbraucht. Drei Tage Wasser und Brot für euch beide und vier Wochen keinen Ausgang, unter welchem Vorwand auch immer!» Und damit ließ sie die beiden stehen.

Magdalène biss sich auf die Lippen.

«Wasser und Brot, das macht mir nichts aus», sagte Danielle. «Das ist mehr, als ich lange Zeit gehabt habe. Aber sie schien so traurig, das tut mir weh.»

Sie wäre noch weitaus beunruhigter gewesen, hätte sie das Gespräch mit anhören können, das an diesem Abend im Scriptorium stattfand.

«Ich sehe nicht, wie Ihr anders hättet handeln können. Es wäre schon besser, wenn die Frau zu ihrem Mann zurückkehrte, aber zwingen sollte man sie sicher nicht.» Calixtus strich sich mit der Hand über sein stoppeliges Gesicht. Er rasierte sich täglich. Eigentlich wäre es auch zweimal täglich vonnöten gewesen, aber sein Abt hätte ihm das als Zeichen der Eitelkeit untersagt.

«Die ganze Angelegenheit ist recht unglücklich zu diesem Zeitpunkt. Abbé Grégoire wartet nur auf eine Gelegenheit, um euch unter seine direkte Aufsicht zu bringen.»

«Schlimm genug, dass überhaupt eine Aufsicht gefordert ist, als seien wir Kinder, die nicht für sich selbst sorgen können», zürnte Anne. «Wir sind erwachsene Frauen, und viele von uns haben selbst schon Kinder gehabt.»

«Aber ihr seid als alleinstehende Frauen doch Übergriffen ausgesetzt. Die Bulle Sacrosancta Romana Johannes’ XXII. hat ja gerade deshalb die Beginen unter den direkten Schutz des Papstes gestellt – soweit sie in festen Häusern leben und nicht herumziehen; wenn sie ein keusches Leben führen, die Kirche besuchen und den Geistlichen gehorchen», wandte Calixtus ein.

«Ein merkwürdiger Schutz ist das, der sich mehr und mehr wie eine Fessel ausnimmt!»

«Ja, ich verstehe, was du meinst, liebe Schwester Anne. Aber es ist nun einmal so, dass es für Frauen nicht üblich ist, so zu leben, wie ihr es tut. Deshalb werdet ihr besonders scharf beobachtet.»

«Ja, und deshalb gibt man auch keine Ruhe, bis wir wieder unter der Aufsicht von Männern sind!»

Calixtus seufzte. «Mag sein. Aber ich bin euch doch noch nie anders als in innigster Freundschaft begegnet. Noch nie haben wir euch irgendwelche Vorschriften gemacht.»

«Ja, das ist wahr. Wir haben immer auf Euren Rat gehört. Und wir kommen mit euch Franziskanern weitaus besser zurecht als mit dem Pfarrer. Wir leben doch auch wie ihr: In Armut und von unserer Hände Arbeit.»

«Bedauerlicherweise schätzt Papst Clemens die Bettelorden nicht oder wenigstens die Spiritualen unter uns. Es ist ja noch nicht lange her, da galten wir Franziskaner als Aufrührer und halbe Ketzer – gerade wegen unseres Beharrens auf der Armut. Nun ja, einige verwirrte Brüder sind denn ja auch zu weit gegangen. Unglücklicherweise ist es Seiner Heiligkeit durchaus bewusst, dass ihr euch in vielen Dingen nach den Lehren Olivis ausrichtet, die ja postum für häretisch erklärt worden sind. Mit anderen Worten: Er traut uns nicht ganz und möchte die Zuständigkeit für ansässige Beginen lieber in den Händen des örtlichen Pfarrklerus sehen – auf jeden Fall möchte Abbé Grégoire, dass er es möchte.» Calixtus lächelte säuerlich. Es war bekannt, dass der Abbé und der Mönchszimmermann sich nicht ganz grün waren. «Er sucht nur nach einem Vorwand, um zu beweisen, dass ihr einer härteren Hand bedürft.»

«O ja, der Fuchs möchte sich zum Beschützer der Hennen machen!», versetzte die Schreiberin.

«Anne!», rief Juliana.

«Aber so ist es doch: Wir leben nach Jesu Vorbild und nach dem Ideal der heiligen Martha, während Papst und Klerus sich im Reichtum wälzen, den sie zuvor den Armen abgepresst haben! In den Klöstern lebt man im Luxus. In Avignon bauen sie ein neues Babylon! Was wollen die uns schon über Gott erzählen?!»

«So wie du haben schon viele gedacht. Und alle sind sie auf dem Scheiterhaufen geendet: die Bogumilen, Katharer, die Patarener, Apostelbrüder und die Brüder und Schwestern des Freien Geistes!»

«Die Katharer waren ganz anders als wir. Wir haben auch nichts mit den Freigeistlern zu tun, die behaupten, die menschliche Seele stehe jenseits von Gut und Böse», warf Anne ein. «Marguerite Porete sagt …»

«Oh, schweig nur still von Marguerite Porete. Ihre Asche ist noch nicht kalt!» Es war deutlich, dass diese Diskussion nicht erst seit heute im Gange war.

«Ihre Thesen wurden von drei berühmten Theologen für rechtgläubig erklärt!», wandte Anne ein.

«Aber am Ende für häretisch befunden! Es mag ja gut gemeint gewesen sein, aber sie hat sich auf gefährliche Abwege begeben. Abgründe!»

Calixtus und Anne standen sich kampflustig gegenüber. Juliana machte ein paar leise Schritte zum Schreibpult hin und verdeckte das dort zur Abschrift liegende Werk mit einem Tuch.

«Liebe Schwester Anne», lenkte Calixtus jetzt ein. «Ich bin ja gar nicht gegen die Schriften der Porete, und mir ist durchaus bewusst, dass sie keine Ketzerin war, sondern nur eine Fanatikerin – hm, ja, vielleicht sogar erleuchtet. Aber diesen Unterschied wollen viele aus der Umgebung des Heiligen Vaters nun mal nicht sehen. Man möchte die religiöse Landschaft säubern von allem, was das einfache Volk in Zweifel stürzen, was die Kirche spalten und damit entmachten könnte. Und da fürchten sie besonders diejenigen, die sich ihrem Einfluss entziehen und sich eigene Regeln geben. So etwas könnte Schule machen! Sie fangen schon an, ein Verbot aller Beginenhäuser zu fordern.»

«Wir wollen keinen Unfrieden stiften», sagte Juliana begütigend. «Dennoch, guter Freund, muss ich dich um einen Gefallen bitten: Kannst du nach Zeugen für Garsendes Version der Geschehnisse suchen und sie bewegen, vor dem Magistrat auszusagen? Es müssen doch Dutzende von Leuten gehört haben, wie er sie verstoßen hat. Danielle und Magdalène allein wird man nicht glauben.»

Ein wenig widerwillig ging Bruder Calixtus am folgenden Tag umher und sprach mit allen, die in der Rue Fontaine lebten. Fünf Nachbarn bezeugten, was Danielle erzählt hatte. Der Magistrat bestätigte, wenn auch ungern, dass Garsende das Recht hatte, bei den Beginen zu bleiben. Über ihren persönlichen Besitz könne sie frei verfügen. Das bedeutete, dass sie die Einkünfte der Mühle zum Gemeinschaftsvermögen beisteuern würde, eine schöne Pfründe.

«Wir wollen die Probezeit abwarten und noch nicht daran rühren», wies Juliana Anne an. «Wenn sie es sich anders überlegt, kann sie ihr Vermögen wieder mitnehmen. Es bleibt ihres.» Dabei hätte die Gemeinschaft das zusätzliche Geld gut gebrauchen können.

 

Der Juni mit seinen Düften und seiner Blütenpracht war vorübergegangen. Der Juli hatte Einzug gehalten und damit die trockene Jahreszeit. Die Wiesen verblichen zu Stroh, nur die Aleppopinien auf den Flanken des Luberon schimmerten in einem hell strahlenden Grün wie lebendige Edelsteine.

Laura, gefolgt von ihrem Schatten Catherine, erschien mit besorgtem Gesicht und verschwand im Scriptorium, wo sie sich lange mit Juliana und Anne beriet. Juliana ließ Magdalène und Danielle zu sich rufen.

Laura saß im einzigen Lehnstuhl. Sie hielt die Hände vor ihrem weit vorgewölbten Leib, als müsse sie ihn festhalten. Catherine hatte sich in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen. Hätte sie sich nicht hin und wieder bewegt, um sich Luft zuzufächeln, hätte man sie für ein Möbelstück halten und übersehen können. Anne stand mit finsterem Blick am Pult, und Juliana ging im Zimmer auf und ab, die Hände hinter dem Rücken gefaltet.

Danielle klopfte an, öffnete die Tür und ließ Magdalène den Vortritt.

«Da seid ihr ja», sagte Juliana. «Seid ihr allein gekommen? Wo ist Garsende? Sie folgt Danielle doch sonst immer wie ein kleiner Hund.» Sie ging zum Fenster und schaute in den Hof.

«Schwestern, es gibt Schwierigkeiten. Mestra Laura berichtet mir, dass sich unter den Bettlern und Aussätzigen vor dem Stadttor ein paar Beginen aus dem Languedoc aufhalten. Wie es scheint, ist in Toulouse ein Haus geschlossen und die Schwestern teils vertrieben, teils als Ketzerinnen verurteilt worden. Einige von ihnen haben sich hierher geflüchtet.»

«Wie habt Ihr sie gefunden?», fragte Magdalène.

«Wir hatten gestern ein Gastmahl in unserem Hause», berichtete Laura. «Es ist viel übrig geblieben, und so wollten Catherine und ich die Reste heute Morgen unter den Armen vor dem Tor verteilen, nahe der Porte Murette; ihr wisst: dort, wo sie sich diese Bretterhütten an der Stadtmauer gebaut haben. Vor einer der Hütten habe ich eine Frau gesehen in einem Gewand, das dem euren ähnelt. Ich habe sie gefragt, ob sie eine Begine sei, und ihr gesagt, dass sich ein Konvent in der Stadt befindet. Sie hat mich gebeten, euch zu sagen, dass sie euch um einen Besuch bittet. Ihr sollt aber heimlich kommen, wenn es möglich ist. In die Stadt hätten sie sich nicht getraut.»

«Zweifellos will sie uns nicht gefährden. Wenn sie verurteilte Ketzerinnen sind, dann darf niemand ihnen helfen. Wer sie aufnimmt, dessen Haus kann niedergerissen und dessen Besitz eingezogen werden», sagte Anne bitter. «Sollen wir sie etwa ihrem Schicksal überlassen?»

«Wollt ihr sie aufnehmen und den Fortbestand dieses Hauses aufs Spiel setzen?», mischte sich Catherine ein.

«Nein, das geht natürlich nicht. Wir haben auch an die uns anvertrauten Schwestern zu denken, die sich in keinen Religionsstreit einmischen. Aber es gibt sicher noch andere Wege, diesen Unglücklichen zu helfen», antwortete Juliana ruhig. «Deshalb möchte ich, dass ihr beide, Magdalène und Danielle, in aller Stille zu ihnen geht und ihre Geschichte anhört.»

«Ich will auch mit!», sagte Anne.

«Nein, das würde auffallen. Du gehst sonst nie zur Armenpflege. Magdalène geht oft, und die Armen kennen und mögen sie. Und Danielle ist zuverlässig und verschwiegen. Im Übrigen ist sie auch in der Lage, sich und ihre Schwestern zu verteidigen, sollte es nötig werden. Also: Ihr beide lasst euch Sachen zum Verschenken aus der Kleiderkammer geben, auch angemessene Kleidung für unsere Schwestern da draußen, die sie nach der Flucht sicher gebrauchen können. Nehmt Brot und Korn mit, so wie wir es immer handhaben.»

«Ist unser Hausarrest damit beendet?», fragte Magdalène.

«Nein, keineswegs. Ich gebe euch nur für diesen Gang Dispens. Sorgt dafür, dass ich es nicht bereue!»

Magdalène und Danielle ließen sich von Annik zwei Buckelkörbe mit Gütern beladen, mit Korn, getrockneten Linsen und Brot sowie mit alten Kleidern, die von Bürgern für die Armen gespendet worden waren.

«Wo gehst du hin, Danielle?», rief Garsende über den Hof. «Kann ich mitkommen?» Sie fühlte sich fremd und einsam unter den Schwestern und hatte sich Danielle sehr angeschlossen.

«Nein, die Meisterin hat nur uns beide bestimmt. Aber ich komme ja bald zurück. Hebe du mir nur ein paar schöne bunte Enden Wolle auf, ja?» Danielle winkte Garsende zu. Ein wenig verloren blieb sie vor der Weberei stehen.

Die Porte Murette war eines der kleineren Stadttore, die hauptsächlich von Viehtreibern benutzt wurden. Als sie dort ankamen, gab es gerade einen Stau, weil ein Ochsenkarren sich mit dem Rad am Tor verfangen hatte.

Erst als die Stadtwachen sich bequemten und dem Bauern halfen, den Karren anzuheben und frei zu machen, ging es weiter.

In einiger Entfernung vom Tor hatten ein paar Bettler und andere arme Leute elende, winzige Hütten gebaut, meist Verschläge aus Brettern, die notdürftig zusammengezimmert gegen die Stadtmauer lehnten. Der Magistrat ließ die Leute in regelmäßigen Abständen vertreiben und die Hütten niederreißen, doch die armen Menschen kamen immer wieder. Die Verschläge waren rasch wiederaufgebaut, denn hier konnte man immer mit Spenden der Städter rechnen. Hin und wieder bekam man einmal eine Arbeit und einen Verdienst für ein paar Stunden oder Tage.

Kaum erblickten sie die Schwestern, da kamen auch schon Kinder aus den Hütten gelaufen, rotznasige, schmutzstarrende, magere Geschöpfe, die es doch fertigbrachten, zu lachen und diesem Leben etwas abzugewinnen. Johlend umringten sie die sorores. «Magdalène, du Hübsche! Danielle, du Gute!», schmeichelten sie. «Hast du was zu essen für uns? Hast du was Süßes?» Magdalène verteilte Nüsse und getrocknete Früchte an sie und ein paar zerbrochene Plätzchen, die Annik beiseitegelegt hatte. Hütte für Hütte besuchten sie und verteilten ihre Gaben.

Schließlich kamen sie zu einem Verschlag, der noch hastiger errichtet schien als der Rest dieser Behausungen. Vor dem Eingang hing ein Ziegenfell. Danielle kratzte daran: «Hallo?», rief sie. «Jemand zu Hause?»

Sie zog das Fell ein wenig beiseite und spähte in das Dunkel dahinter. Drei verängstigte Frauengesichter blickten ihr entgegen. Eine vierte Frau lag ausgestreckt auf einem Häufchen Zweige und trockenem Gras. «Seid ihr Seelschwestern?», fragten sie.

«Ja», antwortete Danielle. «Wir sind Beginen aus Pertuis, vom Konvent Sainte Douceline.»

«Jesus sei Dank! Kommt herein.»

Magdalène und Danielle traten in den Verschlag. Es war eng und stickig und furchtbar heiß darin. Sie setzten ihre Buckelkörbe am Eingang ab und hockten sich zu den anderen Frauen auf den Boden. Diejenige, die auf dem Boden lag, richtete sich stöhnend auf.

«Unsere Meisterin schickt uns, um nachzusehen, wie wir euch helfen können. Braucht ihr etwas zu essen? Kleidung? Medizin?»

«Alles», antworteten sie. «Wir mussten fliehen ohne einen Sou und ohne ein Stück Brot. Und unsere Schwester hier ist alt und völlig erschöpft.»

Die beiden Beginen packten aus, was sie an guten und kräftigenden Speisen mitgenommen hatten: eingelegte Oliven in Öl, Ziegenkäse, Mispeln und Wein. Die fremden Schwestern fielen aber nicht einfach darüber her, obwohl sie ausgezehrt wirkten, sondern legten die Speisen ordentlich auf ein Tuch und sprachen ein Dankgebet, ehe sie aßen.

«Was ist geschehen?», fragte Magdalène, als sie sich gestärkt hatten. Sie musste sich alle Augenblick den Schweiß mit ihrem Ärmel von der Stirne trocknen, so heiß war es in der Hütte.

«Was geschehen ist? Im Languedoc macht man Jagd auf Beginen und Begarden!», erzählte eine, die sich Maria nannte, und fragte: «Könnt ihr denn hier noch in Frieden leben? Habt ihr die Feindschaft von diesem Strauchritter noch nicht zu spüren bekommen, der sich jetzt Papst nennt?»

«In der Provence haben wir keine Schwierigkeiten», sagte Magdalène.

Maria zuckte die Schultern und entgegnete: «Ich wünsche euch, dass es so bleibt! Der Bischof von Toulouse hat die Inquisition auf uns gehetzt, weil wir französische Bibeln hatten. Waldenser Brüder hatten sie uns geschenkt. Wir haben Sterbenden daraus vorgelesen, um sie zu trösten. Daraufhin hat man uns vorgeworfen, Irrlehren zu verbreiten. Ja, es genügte schon, dass wir ärmliche und gleichaussehende Kleidung trugen, da hat man die Hunde des Herrn auf uns losgelassen. Sie wollen nicht, dass das Volk die Worte des Herrn selber lesen kann! Es könnte ja entdecken, wie weit sie vom Weg abgewichen sind. Uns nennen sie Ketzer, dabei sind doch sie es, die mit ihrer Fettlebe Jesus verhöhnen.»

Maria fuhr sich mit der Hand über die Augen. «Sie haben alle möglichen Leute aus der Gegend entweder eingeschüchtert oder bestochen. Und obwohl wir ihnen so oft Gutes getan haben, haben sie uns verraten.»

«Man muss das verstehen», sagte eine andere, die sich Schwester Barbara nannte. «Es ist noch nicht so lange her, dass sie die Katharer zu Tausenden auf die Scheiterhaufen geführt haben! Immer noch stehen bei uns viele Dörfer leer und wüst. Die Ruinen gelten als verflucht. Und die Leute haben Angst. Jedermann rennt in die Kirche und hüpft, wenn der Pfaffe pfeift, um auch nur ja als Papstgetreuer zu gelten. Sie haben genug von dem Morden! Aus Angst sagen sie dann einfach ja zu allem, was man sie fragt.»

«Sie haben sich dennoch gegen uns versündigt!», sagte wieder Maria. «Ich vergebe denen, die gegen uns Zeugnis abgelegt haben. Es sind arme, einfache Leute. Aber Gottes Gericht soll über die kommen, die unsere Schwestern verhört und gefoltert haben! Einige von uns haben dem Druck nachgegeben und alles gestanden, was man ihnen in den Mund gelegt hat. Ihnen sind Kirchenstrafen auferlegt worden. Sie müssen das Kreuz tragen und dann als Dienstmägde in ein reguläres Kloster gehen. Oder zu ihren Familien zurückkehren, so sie welche haben! Na, die werden sie nicht gerade mit offenen Armen aufnehmen!» Maria ließ ein heiseres, gequältes Lachen hören, das mehr wie ein Husten klang.

«Diejenigen, die sich nicht selbst gestellt haben, sind zum Verhör abgeholt worden, eine nach der anderen, und wenn sie sich geweigert haben zu schwören, hat man sie gleich als hartnäckige Ketzer behandelt und verurteilt. Sie wurden bei lebendigem Leib in unser Haus eingemauert, der Konvent geschlossen und enteignet», erzählte Barbara, und Maria fiel ihr ins Wort: «Viel war es ohnehin nicht, was wir hatten. Wir haben uns streng an die Armutsregel gehalten. Unseren einzigen wertvollen Besitz, einen guten Olivenhain, den haben sie einem Kloster zugeschlagen, in dem sie ohnehin leben wie die Fürsten, mit kostbarem Mobiliar und weichen Betten und Fleisch essen jeden Tag! Unsere Oliven sollen ihnen im Hals stecken bleiben, und das Öl soll ihnen bitter schmecken!»

«Maria, du darfst diesen Zorn in dir nicht zulassen! Wir sollen unsere Feinde lieben! Nur wer liebt und vergeben kann, dessen Seele wird befreit werden», mahnte Barbara.

Maria ließ den Kopf hängen. «Aber es ist so schwer, so schwer!»

Barbara umarmte Maria und streichelte sie. «Nur wir vier konnten fliehen», sagte sie an die Pertuiser Schwestern gewandt.

«Was wollt ihr jetzt tun? Wie können wir euch helfen?», fragte Magdalène.

«Zu euch können wir auf keinen Fall!», sagte Maria. «Wir würden euch in Gefahr bringen. Hast du nicht gehört, was denen geschieht, die Ketzer aufnehmen?»

«Aber ihr seid doch unsere Schwestern im Herrn. Wir können euch nicht im Stich lassen! Wer sollte es denn melden, wenn ihr heimlich kämt, als Bäuerinnen verkleidet, und dann still und friedlich bei uns lebt? Niemand kennt euch hier. Die Inquisitoren, das sind doch nur eine Handvoll fanatischer Mönche, die können nicht überall auf einmal sein. Wie sollten sie denn herausfinden, wohin einzelne Beschuldigte geflohen sind? Es dauert Wochen und Monate, ehe man Nachrichten von einem entfernten Ort bekommt. Und was am rechten Rhône-Ufer vor sich geht, hat wenig Bedeutung auf unserer Seite», überlegte Magdalène. Aber Maria winkte ab: «Das glaubst du vielleicht! Die Augen der Inquisition sind überall! Papst Clemens hat längst damit begonnen, ein Netz von Spionen und Folterknechten über das ganze Land zu verteilen. Es sind nicht nur einzelne, mit Vollmachten ausgestattete Mönche! Nein, ich sage euch: Sie sind überall schon fest installiert. Es ist eine Institution, mächtiger als die Fürsten, mächtiger als alle weltlichen Gerichte! Hast du das Ende der Templer vergessen? Das waren mächtige Herren, bewaffnet, mit Burgen im ganzen Land. Wenn selbst sie der Inquisition nicht widerstehen konnten, wie sollten es dann ein paar arme Weiber vermögen?»

«Aber was wollt ihr denn nun anfangen?»

«Wir drei, wir sind noch jung und kräftig», Barbara zeigte auf sich, Maria und eine dritte, sehr junge Frau, die still an der Mauer lehnte, fast noch ein Kind. «Wir werden als Bettelbeginen gehen.»

«Ja», sagte Maria, «Das ist dem Herrn wohlgefällig. Vielleicht sind wir bestraft worden, weil wir immer noch zu wenig vertraut haben, weil wir immer noch Besitz hatten und gefüllte Speicher. Gebt nur acht, dass es euch nicht genauso ergeht. Wir haben schon gehört, was für ein gutgehendes Geschäft ihr hier betreibt und wie ihr euch mit Handwerk und dem Erwirtschaften von Gewinn beschäftigt!»

«Maria!», mahnte Barbara, und zu Magdalène und Danielle: «Wir wollen euch nicht tadeln. In völliger Armut zu leben ist nicht jedermanns Sache. Und jemand muss ja auch die Armen versorgen. Habt nur acht, dass ihr keinen Neid auf euch zieht!»

«Wir jedenfalls wollen uns von nun an dem Herrn ganz ergeben, so wie Jesus es befohlen hat. Er hat nicht gesagt: Petrus, pack deine Netze auf einen Karren und lade viel Vorräte und Kleidung zum Wechseln ein, sondern er hat gesagt: Lass alles liegen und komm. Wir folgen ihm nach, und er wird für uns sorgen.»

Mit besorgtem Blick sah Maria auf die ältere Schwester hinunter, die auf dem Boden lag, und fuhr fort: «Aber unsere liebe Schwester Auda hier, die kann nicht mehr weiter. Wenn ihr das Risiko auf euch nehmen wollt und sie bei euch gesund pflegt, dann wäre es eine große Hilfe und Erleichterung für uns. Sie kann euch nicht zur Gefahr werden, da sie ein wenig simpel ist und sich an unseren religiösen Diskussionen nie beteiligt hat.» Sie beugte sich zu der älteren Frau hinunter. «Nicht wahr, Auda. Du nimmst es uns nicht krumm, wenn wir dich hierlassen?»

«Ohne mich kommt ihr besser voran», krächzte Auda.

«Selbstverständlich. Wir nehmen sie gleich mit», sagte Magdalène.

Sie kleideten Auda wie eine Bäuerin. Alles, was sie noch an Lebensmitteln und Kleidung hatten, ließen sie den Toulouser Schwestern. Sie halfen Auda auf die Beine, die sich unter Tränen von ihren Gefährtinnen verabschiedete.

«Jesus segne dich!»

«Und der Herr Jesus schütze euch», sagten sie, in der Art, an der alle Beginen sich untereinander zu erkennen gaben.

Danielle und Magdalène nahmen die alte Schwester zwischen sich und geleiteten sie in die Stadt. Auf halbem Wege riss das Fersenband an Danielles linker Sandale.

«Ach, verflixt! Jetzt ist sie endgültig hin!»

«Hattest du nicht auf dem Johannismarkt ein Paar neue bestellt?», erinnerte sich Magdalène.

«Ja, richtig. Aber der Schuhmacher hat sie nie geliefert. Ich glaube, ich habe vergessen, ihm eine Anzahlung zu geben. Sicher hat er gedacht, ich könne sie nicht bezahlen. Deshalb hat er sich wohl gar nicht erst die Mühe gemacht, welche für mich zu fertigen.»

«Hm – so wird es wohl sein», meinte Magdalène. Das Ende vom Lied war, dass sich Danielle ein Paar andere gebrauchte aus der Kleiderkammer holte.