11.

«Es ist gut, Maudru, dass du dein Weib dazu gebracht hast, zu mir zu kommen», sagte Abbé Grégoire. «Also sprich, Weib! Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du etwas verschweigst.»

Garsendes linkes Auge war zugeschwollen, die Haut darum pflaumenblau. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Sie schwieg. Maudru hob drohend seine schwere fleischige Hand. Die Frau zuckte davor zurück.

«Mach das Maul auf!»

«Aber was soll ich denn sagen», heulte sie.

«Sag ihm, dass sie nachts auf ihren Besen durch die Lüfte reiten. Dass sie bei Vollmond einem Ziegenbock die Eier geküsst haben! Sag’s ihm! Los, oder du wirst es bereuen!»

Grégoires Gesicht verzog sich angeekelt. Er selbst stammte aus dem Norden und hielt die provenzalischen Männer für entsetzlich unzivilisiert, für stinkende Knoblauchfresser, Schwätzer, starrsinnige Rechthaber und Raufbolde dazu. Er räusperte sich und sagte: «Es ist nicht nötig, sich etwas auszudenken. Garsende, denk nach: Wurden merkwürdige Gebete gebetet, Formeln, die dir unbekannt vorkamen?»

«Lieber Vater, sei unser Gast …», leierte sie.

«Unsinn! Das beten wir doch auch», schrie Maudru. «Sag ihm, dass sie den Teufel angebetet haben.»

«Wem hast du in der Zeit, als du dort warst, gebeichtet?», fragte Abbé Grégoire.

«Der Meisterin», antwortete Garsende.

«Soso. Der Meisterin. Hat sie dir etwa die Absolution erteilt? Eine Unverschämtheit! Das nützt dir gar nichts. Komme am Sonntag zu mir in den Beichtstuhl, sonst fährst du in die Hölle! – Und wurde aus Büchern vorgelesen?», fragte Grégoire.

«Ja, nach dem Essen.»

«Aus was für Büchern?»

«Aus dem Leben der heiligen Agnes von Rom.»

«Da hört Ihr’s selbst, Hochwürden. Sie haben ihr erzählt, dass man heilig wird, wenn man sich Männern verweigert! Seitdem habe ich die größten Schwierigkeiten mit ihr!», beschwerte sich Maudru.

«Es ist deine eheliche Pflicht, deinem Manne beizuwohnen, um Kinder zu zeugen.», sagte salbungsvoll der Abbé.

«Aber ich wohne doch bei ihm, und Kinder kann ich keine mehr kriegen, hat die Hebamme gesagt», erwiderte Garsende mit unschuldigem Blick.

«Halt’s Maul, du blöde Kuh!», schrie Maudru, rot im Gesicht.

«Mäßige dich, mein Sohn. Also zurück zu den Beginen. Ist dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Haben sie Katzen?»

«Ja. Eine», antwortete Garsende.

«Und herzen sie diese Katze wie einen Menschen oder noch mehr?»

«Ja, ich habe gesehen, wie die Küchenfrau Annik die Katze geküsst hat.»

‹Aha!›, dachte Grégoire. Laut sagte er: «Feiern sie nächtliche Feste oder halten Rituale ab?»

«Sie schlafen in der Nacht.»

«Blöde Kuh, verdammte!», brüllte Maudru.

«Diese Bettlerin, die sich jetzt Danielle nennt – hat sie dir etwas aus ihrem Leben erzählt? Wo sie herkommt oder was sie vorher gemacht hat?», fragte Grégoire weiter.

«Sie kommt aus Neapel oder von irgendwo dort, sagte Magdalène. Jeanne meint, sie sei eine verwunschene Prinzessin», berichtete Garsende.

«Ich habe dich nicht gefragt, was andere sagen. Du hast doch Tag und Nacht mit ihr zusammengelebt. Da musst du doch selbst einen Eindruck bekommen haben. Denk nach, Weib!»

«Sie stöhnt und spricht im Schlaf. Es war schwer zu verstehen», versuchte Garsende, sich aus der Affäre zu ziehen.

Abbé Grégoire fixierte sie mit eisigem Blick.

«Einmal hat sie im Schlaf geweint und gemurmelt: ‹Ich habe getan, was ich konnte› – ‹nicht meine Schuld› – ‹schwöre›, oder so ähnlich. Dann hat Magdalène sie geweckt und sie in die Arme genommen und gewiegt wie ein Kind.»

«Was war nicht ihre Schuld? Was hat sie getan?», setzte Grégoire nach.

«Ich weiß es doch nicht! Ich habe sie andern tags gefragt, aber sie konnte sich nicht an den Traum erinnern. Sie spricht nicht über ihre Vergangenheit. Aber sie hat gewiss nichts Schlechtes getan. Sie ist freundlich und mitleidig und gut.» Trotzig sah sie ihren Ehemann an.

«Blöde …», wollte Maudru wieder loslegen, aber Grégoire brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

«Waren sonst noch fremde oder dir unbekannte Frauen im Haus?»

Maudru grinste und hob die Hand. «Na? Wird’s bald!»

«Da ist eine alte Frau. Auda.»

«Soso. Auda. Wo kommt sie so plötzlich her, diese Auda?»

«Ich habe gehört, sie sei aus Toulouse», sagte Garsende kaum hörbar.

‹Schau an. Dort hat man doch gerade so ein Nest ausgeräuchert›, dachte Abbé Grégoire und fuhr fort: «Kam sie aus einem anderen Beginenhof?»

«Ja, so heißt es», gab Garsende mit leiser Stimme zu.

 

Grégoire schickte seine Prediger herum und sammelte auch selbst unermüdlich Informationen. ‹Seine Heiligkeit hat meine Briefe erhalten›, sagte er sich. ‹Und im Gegensatz zu seinem faulen Bischof und seinem allzu nachsichtigen Erzbischof hat er danach gehandelt. Er verlässt sich auf mich. Ich werde ihm Ergebnisse liefern!› Er sah sich schon als Sekretär im frischrenovierten Palais zu Avignon sitzen.

 

Die Wachen am Tor Saint Antoine dachten sich nichts weiter dabei, als eines Abends, sechs Tage nach Grégoires Ketzerpredigt, ein einzelner Dominikanermönch auf einem Maulesel an ihnen vorbei in die Stadt ritt. Es war das Ende eines langen Tages. Müdes Licht ließ die Spitzen des Mont Aventure und den langen Rücken der Chaîne de la Trévaresse in einem staubigen Orange aufglühen. Die Schatten drangen schon tief in die Schluchten hinein. Vom Pflaster stieg der Gestank von Unrat auf und vermischte sich mit dem Geruch des Salpeters in den Mauern, den Kochdünsten und dem Rauch der Herdfeuer. Gemächlich zuckelte das Maultier durch die Straße der Seiler. Der Mönch hatte seine Kapuze übergezogen, obwohl es immer noch drückend heiß war. Unter der schwarzen Kapuze hervor schossen seine stechenden Augen hierhin und dorthin und in alle Winkel.

‹Das Nest ist zu groß, um sich vor den suchenden Augen der Inquisition zu verstecken›, dachte er. ‹Und es ist zu klein, als dass die Pestilenz des Ketzertums in der Anonymität gedeihen könnte. Ich glaube nicht daran, dass man hier etwas besonders Verabscheuungswürdiges finden wird, über die üblichen menschlichen Gemeinheiten hinaus: Eitelkeit, Käuflichkeit, Betrug, üble Nachrede, Hurerei und Ehebruch, Gier, Diebstahl, Gewalttätigkeit. Alles ganz normal. Danach suchen wir nicht. Wir suchen nach den Verirrungen des Geistes und nach jenen, die dem Heiligen Vater den Gehorsam verweigern.›

Es war etwas an ihm, das die Kinder im Spiel innehalten ließ und den Erwachsenen ein instinktives Schuldbewusstsein einflößte. Eine sehr nützliche Eigenschaft für einen wie ihn.

Vor dem Haus des Abbé stieg er ab. Die Haushälterin sah ihn kommen und rannte, um ihren Herrn zu holen. Abbé Grégoire erkannte ihn sofort als das, was er war: ein Agent der allmächtigen Inquisition. Hier war ein Mann von absoluter und unbeugsamer Rechtschaffenheit, ein Mann, ungehemmt von Hoffnungen, Gefühlen, Eitelkeiten; ein Mann ohne Schwächen und ohne Gnade, perfekt und daher zu fürchten. Sein Besuch war eine Ehre und ein Schrecken. Der Abbé verbeugte sich unterwürfig und bat ihn in sein Arbeitszimmer.

«Eine Erfrischung? Wein, Brot, Pasteten, kaltes Geflügel, Obst …?»

«Später. Zunächst ein wenig frisches Wasser, das genügt.»

Die Magd brachte einen Krug und einen Zinnbecher und eilte hinaus, ängstlich, die Augen niedergeschlagen.

«Der Heilige Vater lässt Euch grüßen und Euch ausrichten, dass er Euren Eifer schätzt.»

Der Abbé wollte schon in Dank ausbrechen, doch der Mönch hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen: «Eifer ist gut, aber nehmt Euch in Acht vor Übereifer. Ich hoffe, Ihr seid nicht übereilt vorgegangen?»

«Ich habe eine Ketzerpredigt gehalten und begonnen, Beweise zu sammeln.»

«Das war voreilig, aber nun gut. Jetzt müsst Ihr das Beste daraus machen. Wisset, dass seine Heiligkeit für das nächste Jahr in Vienne ein Konzil plant. Der Armutsstreit, der unsere Kirche spaltet, ist seine große und ständige Sorge. Er hofft, auf diesem Konzil endlich Frieden unter unseren Brüdern zu schaffen. Außerdem bereiten ihm die Beginen und Begarden Kummer, die unter den Fittichen der Fratres Minores hervor viele schlimme Irrtümer verbreiten. Am liebsten würde er diese Pestilenzia ganz ersticken. Er bittet dich deshalb, sehr sorgfältig nachzuforschen und zu dokumentieren, was diese Beginen tun und sagen. Hier ist eine Liste von Fragen, die du ihnen stellen solltest. Unter Eid. Da sie sich ja für gottesfürchtig halten, werden sie sich dann entweder weigern zu schwören und sich damit entlarven oder aber die Wahrheit sagen und ihre abgründigen Vorstellungen offenbaren!»

Der Abbé las die Liste. Er hatte sich mehr um Störungen der Sittlichkeit gekümmert und darum, den sorores die einträglichen Totendienste abzujagen. Die Weberzunft hatte ihm in den Ohren gelegen und die Ehemänner, die fürchteten, ihre Weiber an die Beginen zu verlieren, so wie es Maudru fast ergangen wäre.

«Hm, von diesen Dingen habe ich sie nie reden hören. Und sie kommen auch pünktlich zweimal am Tag in die Kirche. In dieser Beziehung habe ich ihnen nichts vorzuwerfen.»

«Dummkopf!», zischte der Mönch. «Natürlich rennen sie nicht in die Kirche und predigen ihre Abartigkeiten direkt unter deiner Nase! Nein, du hast es hier mit Schläue und Bosheit zu tun. Sie wollen nicht gestehen und verbergen ihr Tun und Denken unter scheinbarer Frömmigkeit! Halte dich nur an die Fragen, dann wird es schon ans Licht kommen!»

 

Als die sieben Tage Gnadenfrist verstrichen waren, wurden die Beginen zur Befragung vorgeladen. Eng aneinandergedrängt gingen sie durch die Stadt, teils mit ängstlichen Gesichtern, teils mit erhobenen Köpfen. Die Bürger standen in den Haustüren und schauten aus den Fenstern. Ganz Pertuis wusste Bescheid.

Ein alter Mann spuckte ihnen vor die Füße, als sie vorübergingen, je eine Stadtwache vor und hinter dem Zug. «So ist es recht! So ist es recht!», keifte er.

«Jetzt kriegt ihr, was ihr verdient habt!», rief eine Frau aus dem Fenster.

Die Mauern verströmten Raubtiergeruch.

«Was wollt ihr denn? Es sind fromme Frauen, und sie haben nie etwas anderes als Gutes getan!», riefen andere. «Warst du es, die sie angeschwärzt hat, Céline? Schäm dich!»

«Es sind gute Menschen!»

«Nur Mut!»

«Es ist eine Schande, sie so vorzuführen!»

«Courage, Juliana, wir sind mit euch!», erklang es von allen Seiten.

Anniks Sohn, derselbe, der die Melonen gebracht hatte, war eigens in die Stadt gekommen und lief besorgt neben seiner Mutter her, die er um zwei Köpfe überragte.

«Maman, ich lasse nicht zu, dass sie dir was tun. Du hast uns so erzogen, wie es recht ist. Du hast uns das Beten beigebracht, warst eine gute Mutter und Ehefrau, bis Vater gestorben ist. Dir können sie nichts vorwerfen», tröstete er sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

Die Beginen wurden direkt ins Schloss geführt. Es war eher eine Burg, klotzig, mehr stark als schön mit ihren dicken Mauern in der Form eines schiefen Rechtecks, den vier runden Wachtürmen an den Ecken und dem donjon, dem Wohnturm in der Mitte, der einer aufgereckten Faust ähnelte. Das Gebäude wurde beharrlich «La domo nova comitis» genannt, «des Grafen neues Haus». Graf Guillaume II. von Forqualquier hatte es schon vor mehr als hundert Jahren bauen lassen, gerade gegenüber der Kapelle Saint Nicolas und in Augenhöhe des Benediktiner-Klosters, um ein augenfälliges Gegengewicht zum Einfluss der Mönche zu setzen, mit denen sich die Grafen der Provence seit eh und je um die Vormacht in Pertuis stritten. In den Augen der Bürger hatten jedoch die Mönche das letzte Wort, indem sie jedes Mal, wenn im Kloster ein neuer Abt gewählt worden war, einen ihrer schwarzen Kapuzenmäntel auf der Spitze des Donjons hissten. So war es Brauch. Der Abbé hatte als Ort für die Verhandlung mit Bedacht den Gerichtssaal des Seigneur erwählt, denn so konnte er seiner absoluten Vollmacht Ausdruck verleihen: Die Inquisition, so wollte er damit zeigen, stünde über der normalen Gerichtsbarkeit. Hier waren Kirche und weltliche Gerichtsbarkeit ein und dasselbe.

Stolz thronte der Abbé auf einer Plattform in dem prächtig geschnitzten und mit Jagdszenen bemalten hohen Stuhl des abwesenden Seigneur, zu seiner Rechten saß der unbekannte Mönch, der sich auch nicht vorstellte und die Anwesenden mit durchdringenden Blicken musterte. Zur Linken saß Jean de Meaux, der Abt der Franziskaner, daneben mit gelangweiltem Gesicht Didier de Bonnefoy, der Vogt; unterhalb der hölzernen Bühne hatten die Ratsherren Platz genommen, Mestre Marius de Vidal und Mestre Honorat Tullo von der Wollweberzunft. Etwas seitlich stand ein Benediktiner als Protokollant an einem Pult.

In der Anklagebank saßen Juliana, Anne, Auda, Annik und Danielle sowie die Katze.

Die Beginen wurden nacheinander aufgefordert, den Eid zu schwören. Garsende, die ganz in der Nähe saß, fing an zu heulen: «Danielle, verzeih mir bitte, ich wollte euch nicht schaden. Ich hätt auch kein Sterbenswörtchen gesagt, aber Maudru hätte mich sonst totgeschlagen!» Die Haut um ihr Auge schillerte in Violett, Grün und Gelb.

«Ich verzeihe dir. Sei ganz ruhig. Es wird ja alles gut», tröstete sie Danielle flüsternd und wurde sofort zur Ordnung gerufen:

«Was fällt dir ein, hier jemandem Vergebung erteilen zu wollen, der seine Christenpflicht erfüllt hat! Wofür hältst du dich?»

Garsende schnäuzte sich in ihren Rock. Ihr Schluchzen ging in einen nervösen Schluckauf über.

Juliana wurde aufgerufen. Ohne zu zögern, schwor sie auf die Bibel, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.

«Nach welchem Beispiel sind eure Regeln ausgerichtet?»

«Nach der Regel des heiligen Franziskus.»

«Aber nicht in allen Teilen!»

«Nein, denn wir sind ja kein kirchlicher Orden, sondern nur eine Gemeinschaft von einfachen Frauen, die sich bemühen, ein Gott gefälliges Leben zu führen.»

Die darauffolgende Befragung über die Hausregeln langweilte den fremden Mönch. Er zischte etwas ins Ohr des Abbé.

«Denkst du oder hast du jemanden sagen hören, in deiner Gemeinschaft oder unter den Franziskanern oder sonst wo, dass Geistliche, die wertvolle Gewänder tragen, gegen Jesu Gebote verstoßen?», fragte Grégoire.

«Nein. Das denke ich nicht und habe es nicht sagen hören.»

«Hast du in deiner Gemeinschaft oder anderswo sagen hören, dass Mönchsorden, die Güter haben oder Korn und Wein horten, gegen Jesu Gebote verstoßen?»

«Nein, das habe ich nicht. Wir haben ja selber einen Olivenhain, Weinstöcke und einen Kornspeicher. Wir leben bescheiden, aber nicht von der Hand in den Mund. Wie könnten wir da andere kritisieren!»

Als weiteres Nachbohren nichts zutage förderte, wurde Anne vereidigt.

«Hast du Kenntnis von den Schriften der Ketzerin Marguerite Porete?»

«Ich habe davon gehört», gab sie zu. Der fremde Mönch lehnte sich aufmerksam vor.

«Und was hältst du davon?», fragte weiter der Abbé, so wie er angewiesen worden war.

«Es wäre sehr schwer für einen sterblichen Menschen, solche Vollkommenheit zu erreichen», erwiderte Anne.

«Aber du hältst es für möglich», setzte Grégoire nach.

«Ich kann nur für mich sprechen, und ich könnte es nicht», sagte Anne fest.

«Wenn es aber eine schaffen würde, glaubst du, dass so eine vollkommene Seele es nicht mehr nötig hätte, beim Emporheben des Leibes Christi aufzustehen oder ihm sonst wie Ehrfurcht zu erweisen?»

«Ich erweise den Sakramenten die Ehre, und ich glaube, dass ein jeder das tun sollte», wich Anne aus.

Ein kleines herablassendes Lächeln umspielte die dünnen Lippen des Fremden. «So, glaubst du das», übernahm er die Befragung. Anne verschränkte die Finger und verkrampfte sichtlich. Dies war nicht der vertraute Priester, der zwar kein Freund der Beginen, mit dem aber dennoch zu reden war. Dieser Fremde mit den kalten Augen würde keine Argumente gelten lassen. Er war darauf aus, sie in eine Falle zu locken, und ihr Gewissen war nicht rein.

Der Mönch betrachtete Anne lange. Sie wurde bleich und hakte ihre Finger ineinander. Er lächelte.

«Du sagst also, dass du den ‹Spiegel› nicht selbst gelesen hast. Ist das richtig?»

Anne getraute sich nicht, die Lüge zu wiederholen. Sie schwieg und schluckte vernehmlich. Er hatte etwas gegen sie in der Hand. Fieberhaft überlegte sie, wem sie von dem Buch erzählt hatte. Wenn sie nur ihr Mundwerk besser im Zaum gehalten hätte! Sie wusste nur allzu gut, dass sie in der Begeisterung oft jegliche Vorsicht und Diskretion vergaß.

Der Inquisitor nickte dem Abbé Grégoire zu.

«Führt Aneta Bonelli herein!», rief der den Bütteln zu. Einer von ihnen ging nach draußen und kam mit einer kleinen, gedrungenen Frau zurück, die Anne sofort als eine der Wollweberinnen von Pertuis erkannte, Ehefrau eines Meisters der Zunft. Sie hatte sich herausgeputzt für die Gelegenheit und schaute halb ängstlich, halb stolz ob der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde.

Sie knickste ungeschickt, verlor ein wenig die Balance dabei und stolperte einen halben Schritt vorwärts.

«Hat eine von den Beginen mit dir über Dinge des Glaubens gesprochen?»

«Ja, die da!» Eifrig wies sie auf Anne. Unaufgefordert fuhr sie fort: «Sie hat versucht, mich vom rechten Weg abzubringen und hat mir schlimme Sachen gesagt!»

«Pfui, Aneta! Dreckschleuder! So dankst du es uns also, dass wir deine kranke Schwiegermutter gepflegt haben! Das nächste Mal kannst du dich allein um sie kümmern!», schrie Annik aufgebracht.

«Still, Weib», sagte der Mönch mit schneidender Stimme, «zu dir komme ich noch.»

Annik verstummte eingeschüchtert, hörte aber nicht auf, Aneta mit Blicken zu durchbohren.

«Ich tue nur meine Pflicht als gute Christin, wenn ich solche Sachen anzeige!», verteidigte sich die Wollweberin. «Es ist zu eurem eigenen Besten, auch wenn ihr es gerade anders seht!»

«Still! Was hat die Begine Anne dir erzählt? Versuche dich genau zu erinnern», mahnte der fremde Mönch.

«Sie … sie hat gesagt, sie besitze ein Buch, kostbarer als die Bibel! Das ist doch eine Sünde, oder? Kein Buch kann kostbarer als die Bibel sein.»

«Richtig. Du hast ganz recht gehandelt. Weiter!»

«Sie hat gesagt, das Buch sei von einer weisen Frau geschrieben und dass auch Frauen erleuchtet sein können. Sie … sie hat gesagt, in dem Buch stünde, wie man eins mit Gott werden kann ohne Priester und Kirche.»

«Blasphemie!» Der fremde Mönch wandte sich triumphierend Anne zu:

«Welches Buch war das, von dem du zu dieser Frau gesprochen hast?»

Anne zögerte. Doch dann hob sie den Kopf und sagte mit fester Stimme: «Das war der ‹Spiegel der einfachen Seelen› von Marguerite Porete.»

«So?! Gerade eben hast du uns noch glauben machen wollen, du habest von dem Buch nur gehört. Willst du nicht aufhören zu lügen und Ausflüchte zu gebrauchen? Ist es also wahr, dass du die Irrlehren der Ketzerin verbreitet hast? Hast du mit dieser Frau darüber gesprochen, wie sie sagt?»

«Ja. Ich habe mit ihr über das geredet, was ich gelesen hatte, weil ich dachte, sie sei eine vernünftige Frau. Ich gebe zu, ich war von dem Buch ergriffen und habe mich zu Schwärmerei hinreißen lassen. Wenn das falsch war und es diese Frau verwirrt hat, dann bitte ich um Vergebung und nehme meine Strafe auf mich.»

Der Mönch flüsterte wieder mit dem Abbé und sagte dann:

«Hast du nicht behauptet, die vollkommene Seele sei von den Tugenden befreit?»

«Nein, das habe ich nicht gesagt, und so steht es auch nicht in dem ‹Spiegel›», verteidigte sich Anne.

«Was steht denn da über die Tugenden?»

«Dass sich die Seele in Furcht bemühen soll, die Gebote zu halten, besonders das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe.»

«Das ist nur der erste Zustand von sieben, die in diesem Buch beschrieben werden!», sagte jetzt der Mönch mit eisiger Stimme. «Heißt es nicht in der zweiten Stufe, dass man auf Gehorsam gegenüber anderen verzichten soll?»

«Das werdet ihr besser verstanden haben als ich unwissendes Weib. Ich habe weder meiner Meisterin noch dem Abbé je den ihnen zustehenden Gehorsam verweigert.»

«Aber du meinst, dass es angemessen wäre auf diesem angeblichen Weg zur Seligkeit», bohrte er weiter.

«Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. So steht es in der Bibel, und daran halte ich mich», sagte Anne.

«Mit welcher Frechheit sie mit Bibelsprüchen um sich werfen und sie für sich auslegen, wie es ihnen passt», murmelte der Mönch halblaut vor sich hin, «das hat man davon, wenn man Bibelübersetzungen in die gemeine Sprache zulässt.» Laut fuhr er fort:

«Da sieht man wieder, mit welcher Schläue und welchen Schlichen die Ketzer sich herauszuwinden suchen. Aber lassen wir doch die Zeugin wiederholen, was genau diese Begine gesagt hat.»

Die Wollweberin Aneta war guten Willens. Sie trat vor, warf Anne einen giftigen Blick zu und begann mit sichtlicher Anstrengung: «Sie hat gesagt, dass man sich in Tugenden nur üben muss, wenn man nicht, wenn nicht …»

‹Dummes Stück›, dachte Grégoire erbost. Tullo hatte sie zu ihm geschickt, und er hatte zwei Stunden darauf verwandt, ihr Marguerite Poretes verwerflichste Thesen einzubläuen, aber sie hatte sie nicht einmal annähernd begriffen.

«Wenn man nicht Tugenden hat, dann muss man sich in ihnen üben, wenn man sie hat, dann muss man nicht mehr üben», brachte die Weberin den Satz mühsam zu Ende.

Marius und Bonnefoy brachen in Gelächter aus. Julianas Mundwinkel zuckten.

Der Mönch blickte ärgerlich und verächtlich. Damit war nun wirklich nicht viel anzufangen. «Ist das alles, was Ihr zusammenbekommen habt?», zischte er dem Abbé zu. Er war zutiefst erzürnt. Jetzt blieb also nur noch der strafbare Besitz einer verbotenen Schrift.

«Wo ist dieses Buch jetzt?», bellte er.

Anne schwieg verstockt.

Juliana sprang auf: «Sie besitzt es nicht mehr. Ich habe es verbrannt, nachdem wir gehört haben, dass es für ketzerisch befunden wurde.»

Mit einem Ruck fuhr Anne herum und schaute Juliana entgeistert an. ‹Das hast du nicht!›, sagten ihre Augen. ‹Das hast du nicht gewagt!›

Juliana gab ihren Blick fest und energisch zurück. «O ja, das habe ich!»

«Aber du hättest es weiterhin behalten, wenn deine Meisterin nicht eingegriffen hätte», sagte der Fremde.

«Ich sehe nicht, wohin diese Befragung noch führen soll», protestierte Jean de Meaux. «Ganz offensichtlich ist doch nichts Schlimmeres geschehen, als dass Anne ein Buch gelesen hat, als es noch nicht verboten war, und es vielleicht ein wenig länger behalten hat, als es streng genommen erlaubt gewesen wäre. Doch da es nun ordnungsgemäß vernichtet worden ist, denke ich, dass man auf eine Bestrafung verzichten kann.»

«Komm zu mir zur Beichte, und ich werde dir eine Buße auferlegen», knurrte der Abbé enttäuscht.

Erleichtert nickte Anne und setzte sich wieder in die Bank zu ihren Schwestern.

Auda wurde nach vorn gerufen. Auch diesmal begann der Abbé mit der Befragung.

«Ist es wahr, dass du aus jenem Beginenhaus in Toulouse stammst?»

«Ja, das ist wahr.»

«Diese Frauen sind für Ketzer befunden worden. Sie haben öffentlich gepredigt und Irrlehren verkündet. Warst du daran beteiligt?»

«Nein, Euer Eminenz. Ich hab bloß im Hospital gearbeitet und die Kranken zusammengeflickt mit Gottes Hilfe. Meine Aufgabe ist das Wohl des Leibes. Um die Seele sollen sich andere kümmern.»

«Hast du nicht den Sterbenden Tröstung gegeben, indem du ihnen versichertest, dass sie der Sakramente nicht bedürfen, weil sie ohnehin schon Teil Gottes seien?»

«Ja», sagte Auda schlicht. Juliana fuhr zusammen.

«Du hast den Sterbenden die Sakramente ausgeredet?», donnerte Grégoire.

«Nein.»

«Na, was denn nun?»

«Ja, Euer Heiligkeit. Ich habe nicht.»

Der Abbé schnaufte gereizt. «Das Weib versteht ja nicht einmal, was ich sage.»

«Ja, Euer Heiligkeit.» Auda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

«Der Titel steht mir nicht zu. Sprich mich an mit ‹Vater› oder mit meinem Namen. Also nochmal ganz deutlich: Hast du, Auda, Sterbenden im Hospital oder sonst wo …?»

«Wenn einer die letzte Ölung haben wollte, dann habe ich den Pfaff … – äh – Priester geholt.»

Abbé Grégoire starrte, sie starrte zurück. Dann atmete er tief durch und sagte:

«Wir werden das überprüfen. Denke nur nicht, dass du, weil du von dort fortgelaufen bist, auch deine Missetaten hinter dir gelassen hast. Wisse: Wenn du jetzt und hier freiwillig und bußfertig deine Verfehlungen gestehst, dann kommst du vielleicht mit einer leichten Strafe davon. Wenn du aber jetzt leugnest, und es stellt sich später heraus, dass du unter Eid gelogen hast, dann wirst du den Flammen überantwortet, so wie Jesus gesagt hat: ‹Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie ein und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen›! Bleibst du immer noch bei deiner Aussage?»

«Ja.»

«Kannst du schreiben und lesen?»

«Nein.»

«Gut. Dann lese ich dir etwas vor: ‹Alles was ist, ist Gott. In der Laus ist ebenso viel Gottheit wie in dem Menschen oder in irgendeinem anderen Geschöpf.› Hast du das schon einmal gehört? Antworte wahrheitsgemäß!»

«Ja. Ein Wanderprediger hat so etwas gesagt, und wir Schwestern haben uns deshalb gestritten. Da waren solche, die es geglaubt haben, und solche, die es für baren Unsinn hielten.»

«Und hast du es geglaubt?»

«Nein, das habe ich nicht, denn allein der Mensch ist ja nach Gottes Bild gemacht. Die Laus ist es nicht, also kann sie auch nicht so viel von Gott in sich haben wie ein Mensch. Ich hab den Leuten Mittel gegeben, um ihre Läuse abzutöten. Wenn sie nach Gottes Bild gemacht wären, dann wäre das ja Mord gewesen.»

Im Publikum entstand Heiterkeit.

«Du hast also nicht gepredigt?»

«Nein. Versteh nix davon», brummte die alte Begine.

«Immerhin eine, die es begriffen hat», sagte der Abbé zu Jean de Meaux.

«Und wie kommt’s, dass du hier bist? Bist du nicht wie die anderen verurteilt worden?», fragte er weiter.

«Nein. Es sind ja auch nicht alle als Ketzerinnen verurteilt worden. Mich haben sie zu meiner Familie zurückgeschickt. Die wollten mich aber nicht mehr haben. Ich bin zu alt und hätte nicht mehr recht mit anpacken können.»

Der Abbé hieb mit der Faust auf den Tisch. Keine verurteilte Ketzerin? Das war aber auch zu ärgerlich! «Wir werden an die Inquisition von Toulouse schreiben. So lange, bis deine Aussage bestätigt wird, hast du im Konvent Sainte Douceline zu bleiben!»

«Könnte sowieso nicht mehr weiter», sagte Auda kratzbürstig. «Meine Beine bringen mich noch um.»

Marius beugte sich tief über ein Schriftstück, um sein Lächeln zu verbergen.

Der Abbé und der Mönch berieten sich flüsternd eine Weile miteinander, und der Abbé nickte dann.

«Du bist ja nicht allein gekommen», sagte unterdessen Didier de Bonnefoy. «Die Stadtwachen haben gemeldet, dass sich drei oder vier von euch einige Tage in den Quartieren an der Stadtmauer aufgehalten haben. Wie sind die Namen der anderen, die dabei waren?»

«Mit mir waren dort Marie Sonnier, Barbara Grandjean und Prous Boneta.»

«Und waren das verurteilte Ketzerinnen?»

«Nein», antwortete Auda. «Ich schwöre es beim Heil meiner Seele.»

Marie, Barbara und Prous hatten nicht vor Gericht gestanden, sie hatten sich vorher aus dem Staub gemacht.

«Wohin sind sie gegangen?»

«Was weiß ich? Zu ihren Familien, denke ich. Sie sind jung und können noch arbeiten.»

«Juliana!», rief Abbé Grégoire die Meisterin auf. «Warum, wenn sie keine Ketzerin ist, habt ihr die Aufnahme dieser Frau geheim gehalten?»

«Wir haben sie nicht geheim gehalten. Sie wäre, sobald sie wieder besser laufen kann, auch in die Kirche gekommen.»

«Es scheint mir doch eher so, als hättet ihr sie versteckt. Nicht einmal der Mönch Calixtus, der euer Seelsorger ist, hat von ihr gewusst. Was ist das denn, wenn nicht Geheimhaltung und ein schlechtes Gewissen?»

«Da sie gebrechlich ist, hatten wir das Recht, sie ins Hospital aufzunehmen, ohne vorher jemanden um Erlaubnis zu fragen. Es schien mir nicht dringend geboten, Calixtus zu ihrem Krankenlager zu führen. Sie lag ja nicht im Sterben. Er hätte sie zu gegebener Zeit noch getroffen», erwiderte Juliana gemessen.

«Hm! Merkwürdig, dass sie bereits im Krankenhaus gearbeitet hat, da sie doch selber noch so schwach und bettlägerig war. War es nicht vielmehr so, dass ihr verurteilten Ketzerinnen die Gelegenheit zur Flucht geben wolltet?», bohrte Grégoire.

«Da offenbar die Stadtwache von der Anwesenheit fremder Beginen vor dem Tore wusste, war es ja nicht unsere Sache, irgendetwas zu vermuten oder irgendwen anzuzeigen.»

«Du hast jeden Fremden, der bei euch aufgenommen wird, sofort zu melden. Wenn ihr das in Zukunft noch einmal versäumt, werden wir euch das Recht aberkennen, ein Hospital zu führen.»

Damit war nun Herr Bonnefoy ganz und gar nicht einverstanden, denn die Stadt müsste sonst selbst für die Armenpflege sorgen. Er sagte leise etwas zum Abbé. Der winkte ärgerlich ab und wandte sich wieder den Beginen zu.

«Es ist doch merkwürdig, wie – immer wenn du fremde und verdächtige Weiber in euer Haus aufnimmst – sie entweder krank sind oder das Gedächtnis verloren haben. Lasst die vortreten, die sich Danielle nennt.»

Danielle gab sich herzlich Mühe, ruhig und gefasst zu erscheinen, doch als sie da stand und die Blicke dieser Männer auf sich spürte, trat ihr der Schweiß in dicken Perlen auf die Stirn. Der Abbé sah es wohl. Er beschloss, seine Taktik zu ändern, denn oft bringt ein Wechsel von Drohung und danach unerwarteter Freundlichkeit die besten Ergebnisse.

«Garsende, Ehefrau von Maudru, hat ausgesagt, dass du im Schlaf stöhnst und weinst und von einer Schuld sprichst. Willst du nicht dein Gewissen erleichtern und uns sagen, wessen du dich schuldig gemacht hast, meine Tochter? Willst du nicht deine Seele endlich erleichtern? Welche Schuld trägst du mit dir herum? Lass dir doch helfen!», sagte er in sanftem Ton.

«Ich bin ja offenbar für etwas verurteilt und gestraft worden», stammelte Danielle, die im Gesicht und an den Händen immer noch die Narben dieser Strafe trug. «Und hier vor euch zu stehen, macht mir Angst. Doch nur, weil ich nicht weiß, wie ich mich verteidigen soll und wogegen. Und weil ich schon einmal zu Unrecht angeklagt worden bin. Wozu sind Strafen gut, wenn einer hinterher noch ebenso schuldig ist wie vorher und man ihm nicht vergeben will?»

«Zur Abschreckung und zur Warnung! Denn hättest du diese Narben nicht, dann könntest du dich als einen vertrauenswürdigen Menschen ausgeben!», bellte jetzt gegen seine Absicht der Abbé, aber Jean de Meaux zog ihn am Ärmel und redete auf ihn ein, und Marius verlangte lautstark ein Ende dieser unnützen Befragung.

Der Abbé hatte aber von seiner Rolle als Inquisitor noch längst nicht genug und ließ verschiedene Zeugen auftreten. Doch keiner von ihnen konnte etwas anderes als Tratsch und Mutmaßungen vorbringen. Herr von Bonnefoy begann sich gelangweilt in den Zähnen zu stochern. Zwei Zeugen sprachen über merkwürdige Stimmen, die sie des Nachts am Beginenhof gehört haben wollten.

«Die haben beträchtliche Schulden bei uns, und was sie in der Nacht gehört haben, war sicher ihr Gewissen!», rief Anne.

Eine Nachbarin beschwerte sich bitterlich, dass ihre Milchkuh keine Milch mehr gab, seit Auda sie wegen einer Entzündung behandelt hatte.

«Das ist normal. Wärt Ihr nicht so geizig gewesen und hättet mich früher gerufen, hätte ich noch was machen können. Nächstes Jahr gibt sie wieder welche», sagte Auda ärgerlich.

Carolus bestätigte es: «Das stimmt. Ist die Milch einmal versiegt, dann ist es erst einmal damit vorbei. Das ist bei Tieren nicht anders als bei Menschen. Im Übrigen hatte ich im Hospital der Beginen Gelegenheit, Auda bei der Arbeit zu beobachten. Sie ist eine geschickte Heilerin und gewiss keine Hexe. Was für eine alberne Anschuldigung!»

Übrig blieb noch die Angelegenheit mit dem Teufelskuss. Ein Gerichtsdiener brachte auf Grégoires Geste hin den Käfig mit der Katze der Beginen.

«Ich habe sie ihnen selbst geschenkt!», Carolus sprang auf. «Übrigens ist sie gescheckt und nicht schwarz. Heißt es nicht, dass der Teufel sich nur in Gestalt von schwarzen Katzen zeigt?»

«Seit Johannis gibt’s in der ganzen Stadt keine schwarzen Katzen mehr!», mischte sich Bonnefoy ein. «Sie haben alle eingesammelt und im Feuer verbrannt. Im ganzen Viertel ist überhaupt kaum noch eine Katze zu finden, was ein Unfug und ein Ärgernis ist. Die Mäuse tanzen allenthalben auf den Tischen!»

Die Katze maunzte erbärmlich. Sie fühlte sich in dem Käfig nicht wohl. Annik sprang auf, rannte zum Käfig, befreite das Kätzchen und hob es vor ihr Gesicht. «Ach, mein Zuckerschnäuzchen!»

«Nicht!», schrie Magdalène.

Annik küsste das Tier. Direkt auf das haarige, dreieckige Mäulchen.

«Igittigitt!», machte Garsende.

«Wieso? Ich küsse es doch bloß auf den Mund und nicht auf den A …», verteidigte sich Annik. «Da hinten ist sie ja schmutzig! Schaut nur, wie schmutzig sie da ist! Sie hat noch nicht gelernt, sich da richtig sauber zu lecken. Wer würde so was denn küssen wollen?! Was sind das nur für Einfälle, die die Leute haben?» Und sie hob den Schwanz des Tieres und hielt dem verblüfften Abbé den Katzenanus vor die Nase.

«Regina probationum – die Königin der Beweise!» Carolus stürzte eilig hinaus, um sich draußen vor der Tür so richtig auszulachen.

Mit verkniffener Miene und ohne ein weiteres Wort an den Abbé zu verschwenden, stand der fremde Mönch auf und ging hinaus.

Anne sagte auf dem gesamten Heimweg kein Wort. Erst als die Beginen ihr Tor hinter sich geschlossen hatten, ging sie auf Juliana los: «Wie konntest du? Hast du tatsächlich dieses herrliche Buch verbrannt? Das durftest du nicht! Das hättest du niemals tun sollen!»

«Ich durfte es, weil ich deine gewählte Meisterin bin. Und ich musste es, weil das Wohl unserer Gemeinschaft davon abhing. Hast du geglaubt, sie würden nicht danach fragen? Und hättest du einen heiligen Eid geschworen und dann gelogen?»

Anne ließ den Kopf hängen. «Natürlich nicht.»

«Siehst du, es war besser so. Soll es uns etwa so ergehen wie den Schwestern von Toulouse, nur weil wir ein einziges verdächtiges Buch besitzen?»

«Aber was, wenn dieses einzigartige Werk nun verloren geht? Wenn es alle so machen und man es vergisst?»

«Das wird ganz sicher nicht geschehen. Ich weiß ganz gut, dass du Kopien angefertigt und an andere Häuser geschickt hast. Nun gib schon Ruhe! Sei lieber froh, dass wir nochmal mit dem Schrecken davongekommen sind.»

«Aber es ist schrecklich! Zu denken, dass du es einfach verbrannt hast. Wie konntest du nur? Ich hätte das nicht fertiggebracht. Was soll ich jetzt nur tun?»

«Dich daran erinnern und dich bemühen, die Stufen zu erklimmen. Es war ein gutes Buch. Und es ist eine schlimme Welt, in der man gezwungen ist, es dem Feuer zu überantworten, um selbst am Leben zu bleiben.»

«Gestern Abend kam Juliana zu mir in die Küche», raunte Annik Danielle zu. «Ich habe mich schon sehr gewundert. Sie befahl mir, die gesalzenen Fische in der Vorratskammer zu zählen. Als ich in die Küche zurückgekommen bin, da hat es so merkwürdig gestunken!»

Anne hatte es gehört. «Das war ja dann nicht gleich, nachdem wir von der Verurteilung Schwester Marguerites erfahren haben. Du hast für mich gelogen, Meisterin!»

«Nein, gelogen habe ich nicht. Das würde ich nie tun, Anne, nicht einmal für dich. Ich habe mich nur ein wenig ungenau ausgedrückt», erwiderte Juliana.

«Aber Anne hat uns alle in Gefahr gebracht», rief Justine.

«Ja!» Gebba gab ihr eifrig recht. «Was, wenn sich die Wollweberin besser erinnert hätte! Oder wenn man eine von uns befragt hätte. Uns hast du auch aus dem ‹Spiegel› vorgelesen!»

«Ja, und ich bereue es nicht! Ich hoffe doch, dass du ihn besser verstanden hast!», gab Anne heftig zurück. «War es nicht so, dass gerade du davon sehr angetan warst?»

«Aber das Buch einer Ketzerin …!»

«Sie ist zu Unrecht verurteilt worden!»

«Steht es uns zu, das zu beurteilen?»

«Ja und abermals ja! Hat uns Gott denn unseren Verstand gegeben, damit wir ihn nicht benutzen?»

Aufgewühlt standen die Beginen im Hof herum und diskutierten hitzig. An eine geregelte Arbeit war heute nicht mehr zu denken, das sah die Meisterin ein. «Lasst uns in den Gemeinschaftsraum gehen und beten und Gott dafür danken, dass er seine schützende Hand über uns gehalten hat!», sagte sie. «Und danach soll Annik eine neue Amphore Wein anbrechen. Das wird uns helfen, uns zu beruhigen nach diesem Schrecken!»

Als Laura am frühen Abend kam, um den Beginen zum guten Ausgang der Befragung zu gratulieren, traf sie sie in gelockerter Stimmung an. Man konnte es schon eine kleine Feier nennen. Eine Schüssel mit kleinen Gewürzkuchen machte die Runde, und irgendwoher waren noch Mandeln vom Vorjahr aufgetaucht. Die Beginen saßen in kleinen Grüppchen beisammen, lachten und schwatzten.

«Lasst ihr es euch gutgehen? Das ist recht! Ich bin ja so froh, dass es gut ausgegangen ist für euch! Marius hat mir alles erzählt.»

Anne war aufgesprungen und hatte Laura umarmt. Andere Schwestern taten es ihr nach. Laura bekam einen Becher Wein in die Hand gedrückt und Kuchen gereicht. Sie setzte sich zu Anne und Juliana.

«Das muss ja ein schrecklicher Mensch gewesen sein, dieser fremde Mönch! Marius sagt, er kam direkt aus Avignon, ein Abgesandter des Papstes!»

«Mir hat es auf der Haut gekribbelt wie Ungeziefer, als er mich angeschaut hat», berichtete Anne schaudernd. «Als könnte er bis auf meine Knochen blicken.»

Laura ergriff Danielles Hände und drückte sie. «Und du Arme, hattest du Angst? Als ob du etwas dafür könntest, dass du dich nicht erinnern kannst! Wie soll man sich denn da verteidigen? Wie eine Verbrecherin haben sie dich behandelt! Ich hätte schreckliche Angst gehabt!»

Danielle hätte ihre Hände gern weggezogen. Immer noch konnte sie Berührungen schwer ertragen. Doch es war ja herzlich gemeint, und so zwang sie sich, den Händedruck zurückzugeben und Laura anzulächeln. «Angst? Nein, nicht wirklich. Ich habe mich wie erstarrt gefühlt. Ich konnte an gar nichts denken. Vielleicht fühlt sich eine Maus so, wenn sie von einer Schlange fixiert wird.»

«War es so, als man dich damals … du weißt schon … ach, ich bin wieder zu neugierig. Verzeih mir bitte! Ich will doch keine unangenehmen Erinnerungen in dir wecken oder dich kränken! Lass uns einfach über etwas anderes reden!»

Zu Danielles großer Erleichterung ließ Laura sie los und wandte sich Juliana zu. Das Gespräch kreiste nun um alltägliche Angelegenheiten. Sie sprachen über die Armenpflege in Pertuis und tratschten ein wenig über verschiedene Leute in der Stadt. Danielle lehnte sich zurück. Sie machte sich unsichtbar, wie es ihre Gewohnheit war, und hörte nach dieser und jener Seite hin den Gesprächen zu, ohne etwas dazu beizutragen.

 

Bevor Laura den Beginenhof verließ, nahm sie Gebba beiseite.

«Ich habe gehört, dass du einer von deinen Schwestern deine Zuneigung und Vergebung verweigerst. Das ziemt sich nicht. Wie kannst du einen solchen Groll gegen sie hegen, dass du dich sogar gegen die Hausregel nicht am Ende des Tages mit ihr versöhnst? Was hast du denn nur gegen sie?»

Da Gebba Laura verehrte und vor ihr nicht schlecht dastehen wollte, dachte sie nach, ehe sie antwortete.

«Ich weiß auch nicht, was es ist. Sie macht mich wütend, wenn ich sie nur sehe! Sie muss doch etwas verbrochen haben. Wie kann sie da den Kopf so hoch tragen und so verstockt schweigen?»

«Aber zieh doch einmal in Betracht, dass es nicht Verstocktheit ist, sondern dass sie wirklich nichts sagen kann. Wie würdest du dich fühlen, wenn du unter lauter fremden Menschen wärst und nicht mal zu dir selber Vertrauen haben könntest?»

«Dann soll sie nicht so ruhig und so hochnäsig sein! Wenn ihr Stolz doch nur einmal zusammenbrechen würde, wenn sie einmal zugeben würde, dass sie gefehlt hat! Wenn sie mich nur ein einziges Mal bitten würde, ihr zu helfen, dann würde ich es ja gern tun.»

«Ja, das ist es, Gebba: Du möchtest gebeten werden. Du willst unbedingt, dass sie Schwäche zeigen soll. Du nimmst ihr ihre Stärke übel, statt sie dafür zu bewundern. Vielleicht muss sie sich so eine Rüstung anlegen, weil sie sich von dir ständig angegriffen fühlt. Vielleicht würde sie sich dir öffnen, wenn du freundlicher wärst. Willst du es nicht versuchen?»

Gebba schnaufte widerwillig. Was für ein Wesen um diese Frau gemacht wurde! Jetzt setzte sich auch noch Mestra Laura für sie ein.

«Tu es doch deinen anderen Schwestern zuliebe! Diese Missstimmung ist für alle schwer zu ertragen.»

Am späten Nachmittag des nächsten Tages kam Danielle aus dem Garten in die Weberei und setzte sich an ihren Hochwebstuhl. Still zog sie das Schiffchen durch das Fach und ließ das Bild nach unten wachsen. Ein schöner Faltenwurf wurde in dunkleren Wolletönen sichtbar. Blumen und Grün leuchteten vor dem nachtschwarzen Hintergrund: gelb von Birkensaft, grün vom Saft des Perückenstrauchs, rotbraun vom Krapp, blau von Waid. Geschickt verschränkte sie die Enden der Farbflächen, sodass keine Löcher im Bildwerk entstanden. Die Tonringe, mit denen die Kettfäden unten beschwert waren, klapperten aneinander wie ein Glockenspiel im Wind.

Immer wieder schaute Gebba zu ihr herüber. Endlich gab sie sich einen Ruck. Sie stand auf und ging zu Danielle hinüber. «Es wird wirklich hübsch», sagte sie versöhnlich. «Da, ich habe dir ein paar besonders kräftig gefärbte Enden aufgehoben.» Sie hielt ihr ein kleines Bündel bunter Fäden hin, gelb, grün und blau. Verdutzt hielt Danielle inne und schaute zu ihr hoch.

«Hast du einen Augenblick Zeit, Schwester? Ich möchte gern mit dir reden», fuhr Gebba fort.

Danielle nickte. Gebba ging voraus, hinaus in den Garten. Danielle folgte ihr. Die anderen stellten ihr Geklapper und ihr Plaudern ein und schauten den beiden hinterher.

«Eh bèh! Was ist denn jetzt passiert?», wunderte sich Manon. «Wer von euch hat Gebba Kreide unter den Brei gemischt?»

«Heilige Jungfrau! Ich glaube gar, die wollen sich versöhnen!»

«Na, das wäre ja mal was!»

Gebba und Danielle gingen im Garten spazieren. Alix stützte sich auf ihre Hacke und sah ihnen mit offenem Mund nach.

«Ich war ungerecht und gehässig zu dir. Es tut mir leid», sagte Gebba.

«Und ich danke dir aufrichtig dafür, dass du den ersten Schritt getan hast. Es ist dir sicher nicht leichtgefallen», stellte Danielle fest. «Es fällt dir umso schwerer, als du mich nicht magst.»

«Aber nein, ich mag dich», protestierte Gebba.

Danielle winkte ab. «Nein, lass uns einander nicht belügen. Du magst mich nicht und du misstraust mir. Und ich kann leider gar nichts sagen, um dich zu befriedigen oder zu beruhigen.»

«Dann ist es also wirklich, wirklich wahr? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das ist, wenn man sich selbst nicht kennt.» Sie machte eine Pause und bückte sich nach einem heruntergefallenen Apfel. «Obwohl ich zugeben muss, dass ich manchmal gerne eine andere sein würde.»

«Warum?»

«Nun, ich weiß ganz gut: Ich habe manchmal ein unangenehmes Temperament. Ich bin sauertöpfisch und leicht beleidigt. Und ich kann so stur sein wie ein Esel.»

Danielle musste lachen. «Na, so schlimm ist es wirklich nicht. Du bist eben ernsthafter als andere und leicht zu kränken, weil dir alles tiefer unter die Haut geht. Und Sturheit kann auch etwas Gutes sein. Du gibst nicht leicht auf.»

Jetzt war es an Gebba, überrascht zu schauen.

«So? Findest du? Ja, weißt du, es ist manchmal nicht einfach. Wenn man ernsthaft und fleißig ist, dann finden einen die Leute langweilig. Ich will doch nur, dass alles richtig ist und die Arbeit gut getan wird! Dass jede sich anständig beträgt und die Regeln befolgt. Ich verlange doch nichts, was ich nicht selber vormache. Und lieben sie mich dafür? Nein! – Und dann kommt eine wie du daher und weiß gar nichts und kann gar nichts und hat vielleicht sogar was ausgefressen. Und sie mögen dich mehr als mich. Es ist einfach ungerecht. Das hat mich so wütend gemacht.»

«Eigentlich ist es wirklich ungerecht. Aber ist es vielleicht so, dass du ihnen ein Stachel im Fleische bist? Die Menschen mögen die Vollkommenen nicht so besonders.»

«Aber so vollkommen bin ich ja gar nicht, im Gegenteil. Ich bin die ewige Zweite! Was glaubst du, wie das ist! Mein Mann hat mich genommen, weil ich eine große Mitgift hatte, hat aber sein Leben lang andere Frauen gehabt, die schöner und jünger waren als ich. Manon ist eine viel bessere Weberin als ich, obwohl ich hart arbeite. Und bei ihr sieht immer alles so mühelos aus! Und wusstest du, dass Juliana und ich Sainte Douceline gemeinsam gegründet haben? Doch jedes Jahr wieder wird sie zur Meisterin gewählt und niemals ich. Sie fährt nie aus der Haut und kann besser mit Menschen umgehen. Das weiß ich ganz gut. Und das macht mich eben noch sauertöpfischer, weil ich weiß, dass die anderen hinter meinem Rücken über mich lachen. Und dann wünschte ich eben, dass ich eine andere wäre.»

«Ja, siehst du», sagte Danielle. «Und ich habe mir offenbar so sehr gewünscht, eine andere zu sein, nicht so zu sein, wie ich gewesen bin, oder dass mir das, was mir zugestoßen ist, nicht zugestoßen wäre, dass ich es einfach alles vergessen habe. Bitte, dränge mich nicht mehr und lass mich einfach Danielle sein, eine Seelschwester. Es ist ein Geschenk des Himmels. Und wenn ich dir zu stolz erscheine, dann verzeih mir, wenn du kannst. Es ist nicht Stolz, eher eine gewisse Leere, die ich erst langsam wieder füllen muss. Ich weiß ja gar nicht, worauf ich stolz sein sollte.»

Gebba dachte immer wieder über diese Worte nach. Sie verstand sie nicht recht, aber sie bemühte sich von nun an, freundlicher zu Danielle zu sein.