Der Sommer war gekommen und die Luft violett und schwer. Die Hitze drückte Mensch und Tier nieder wie eine körperliche Last. Wer Feldarbeit zu verrichten hatte, stand im Morgengrauen auf, um wenigstens ein paar Stunden Tagewerk zu vollbringen. Doch bereits am späten Vormittag brannte die Sonne so unerträglich auf die Erde herab, dass die Olivenhaine flimmerten und, wer immer konnte, sich in den Schatten verkroch und die Augen abwandte vor ihrem Gleißen.
Es war kühl und still im Scriptorium. Juliana, die anfangs noch den Versuch unternommen hatte, geschäftig zu erscheinen, war längst in ihrem Sessel eingeschlafen. Anne saß über den Hauptbüchern des Konvents und übertrug Zahlen von einer Wachstafel: soundso viele Vliese gewaschener Wolle vom Schäfer Bertrand für soundso viele Kupferstücke, drei Brote und eine Kanne Bier.
Soundso viele Stränge gelber Wolle, soundso viele Stränge blauer Wolle, soundso viele Stränge grüner Wolle von den Wollfärbern aus Avignon für soundso viele Kupferstücke, acht Tiegel Beinwellsalbe und einen Krug Met. 10 Ballen ungefärbte Leinwand, drei Ballen gestreiften und vier Ballen karierten Damast an den Tuchhändler Bodin aus Pertuis für 25 Silberstücke. Drei Ballen krappfarbenen Seidendamast an den Tuchhändler Panpan aus Lyon für soundso viel.
Danielle stand am Pult und kopierte flink ein Buch, das Anne ihr gegeben hatte.
Sie hatte den ganzen Morgen im Kräutergarten gearbeitet und war nun zufrieden, sich in der Kühle zwischen den dicken Steinmauern aufhalten zu dürfen.
Drinnen kratzten die Federn über Pergament. Draußen schrillten die Zikaden. Juliana schnarchte leise und schreckte dann hoch. «Ihr müsst entschuldigen, ihr Lieben, ich bin alt und müde. Am besten höre ich jetzt auf so zu tun, als sei ich zu irgendetwas nutze und gehe einfach ein wenig schlafen.»
Juliana stand auf. Sie stützte sich mit beiden mageren, altersfleckigen Händen auf den Lehnen ab und stand einen Augenblick ein wenig unsicher auf ihren Beinen, während sie sich langsam aus der gekrümmten Haltung aufrichtete. Sie nickte den jüngeren Schwestern zu und schlurfte hinaus. Sie hörten sie in ihrem Schlafzimmer rumoren. Die Bettstatt knarrte. Dann war Ruhe.
«Es ist wirklich zu schade, dass du nicht schön genug schreibst, um verkäufliche Kopien zu fertigen», sagte Anne. «Bei diesen hier kommt es nicht darauf an. Es ist wichtiger, den Inhalt zu vervielfältigen und zu verbreiten. Aber du schreibst flink. Wahrscheinlich zu flink – ich frage mich … ob du vielleicht irgendwo als Buchhalterin …? Erinnerst du dich, viel geschrieben zu haben? Das Tintenreiben und das Anspitzen der Feder, das Beschweren der Pergamentblätter mit der Bleischnur, das alles ging dir von der Hand wie eine alte Gewohnheit.»
Danielle zuckte die Achseln.
«Betrachte doch einmal genau die Federn, rieche an der Tinte, streiche mit den Händen über die Schreibhaut. Manchmal rufen Gerüche und Texturen die Erinnerung wach», setzte Anne nach.
Danielle tat, wie ihr geheißen, doch es bewirkte nichts Besonderes in ihr.
Die Tinte roch schwach nach der Gerbsäure der Dornenrinde und dem Rotwein, aus denen sie gemacht war. Das Pergament war fein geädert und dort, wo es schon einmal abgeschabt worden war, etwas rau. Einige schlechtgebeizte Stellen trugen auf der Haarseite des Pergaments noch Reste von Stoppeln, wo die Tinte zu verlaufen drohte. Aber auf solche Dinge hatte sie nie geachtet. Was immer sie geschrieben hatte, das hatte der Schönschrift nicht bedurft.
«Nichts? Also eine einfache Hausfrau warst du nicht, so viel ist sicher. Hast du vielleicht Handel getrieben? Hm! Kennst du die gebräuchlichen Mengenmaße? Wie viel Getreide passt in ein setier de Paris?»
«Etwa dreißig mittlere Scheffel», antwortete Danielle, ohne zu zögern.
«So! Das weißt du also. Und ein livre poid de Lyon?»
«Etwas weniger als ein Scheffel.»
«Und wie viel kann ein Maultier tragen? Welche Strecke legt es an einem Tag zurück?»
«Das weiß ich nicht.»
«Schade. Dann warst du keine Händlerin. So etwas wissen die genau. Und das hätte auch erklärt, was man mit dir gemacht hat.»
Händler, die man mit falschen Gewichten erwischt hatte oder verdorbenen Waren wurden gelegentlich geteert und gefedert, um durch ihr Beispiel die anderen für eine Weile zur Besserung zu bringen. Das hielt tatsächlich immer ein paar Wochen vor. Danach ging alles weiter wie gewohnt: Nüsse wurden in Wasser gelegt, um mehr Gewicht zu erzielen, schlechter Wein mit Essig versetzt oder Daumen heimlich auf die Waagschale gedrückt.
Danielle runzelte die Stirn. Ihre Narben waren allmählich verheilt, wenn auch die Haut dort noch etwas verzogen und blass war, wo der heiße Teer sie verbrannt hatte. Sie hätte es lieber gehabt, wenn man nicht mehr davon gesprochen hätte.
«Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken», sagte Anne und wechselte das Thema. «Dieses Buch, das du gerade abschreibst, wollen wir an andere Beginenhäuser weiterschicken. Aber vergiss nicht: Kein Wort darüber zu irgendjemandem! Auch nicht zu Magdalène. Die ist so vertrauensselig wie ein Kind, offen zu jedem und kann einfach kein Geheimnis bewahren!»
«Was ist das denn für ein Buch? Ich kann erkennen, dass es sich um einen religiösen Text handelt … Und auf Französisch geschrieben, also wahrscheinlich von einem Laien», sagte Danielle.
Anne lächelte ein wenig traurig. «Ja, und es ist eine Schande, dass wir es verbergen und unter der Hand weiterreichen müssen. Dabei ist es ein so wundervolles Buch, dass man es in die Welt hinausrufen sollte, von Herolden und Marktschreiern verbreiten lassen – stattdessen können wir froh sein, wenn es die Zeiten überdauert, und sei es auch nur in einem einzigen Exemplar.»
«… dass die zu nichts gewordene Seele von den Tugenden Abschied nimmt und nicht weiter in ihrer Knechtschaft steht», las Danielle halblaut. «Die Seelen, über welche die Tugenden Gewalt ausüben, leben im Zwang. – Das klingt aber merkwürdig! Was hat der Schreiber denn gegen Tugend einzuwenden?»
«Dass die sogenannten Tugenden Menschenwerk und aufgesetzt sind», erklärte Anne. «Dass sie ein zwanghaftes Regelwerk sind, nur dazu bestimmt, diejenigen Seelen zu zwingen und zu züchtigen, die den Zustand der vollkommenen Gottesliebe noch nicht erreicht haben. Dass die Tugenden nur derjenige benötigt, der sich mit Gott noch nicht vereinigt hat – als Richtlinie. Übrigens ist es eine Schreiberin: Marguerite Porete – du erinnerst dich?»
Erschrocken setzte Danielle die Feder ab und sah Anne an: «Doch nicht die Ketzerin, die vor kurzem in Paris verbrannt worden ist?»
«O ja, ebenjene. Du siehst also, welch großes Vertrauen ich dir entgegenbringe, indem ich es dich abschreiben lasse.»
Abbé Grégoire hatte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, im Gottesdienst davon zu berichten, wie die Begine Marguerite Porete nach jahrelangem Prozess am 1. Juni 1310 in Paris lebendig verbrannt worden war:
«Höret, ihr guten Bürger von Pertuis», er hatte dabei aber unverwandt zur Bank geschaut, auf der die Beginen saßen, «höret gut zu, was sich in Paris zugetragen hat: Die Irrlehren der Begine Marguerite Porete sind vom Generalinquisitor Guilhelm Humbert verworfen worden. Dieses Weib hat sich erdreistet, ohne kirchliche Weihe oder Erlaubnis oder gar irgendeine theologische Ausbildung zu predigen, und sie hat abscheuliche Lügen verbreitet! Sie hat behauptet, der Mensch bedürfe weder der Kirche, noch müsse er nach Gottes Vergebung streben, sondern er könne aus sich selbst heraus vollkommen werden – vollkommen! Kann man sich so etwas vorstellen?!»
Die Stimme des Abbé hatte sich in immer schrillere Höhen geschraubt. Danielle aber hatte ihn kaum mehr gehört. Sie befand sich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, vor Pertuis, bevor sie Begine geworden war:
Brennender Durst. Da war ein Wasserkrug. Er stand auf dem Boden nahe dem Gitter. Der Steinboden glänzte feucht im Licht eines blakenden Talglichts draußen auf dem Gang. Das Stroh auf dem Boden war ebenfalls feucht und stank bestialisch nach Kot und Urin, nach Fäule und Angst. Sie versuchte den Krug zu erreichen, doch die Kette an ihrem Fuß war zu kurz. Sie kroch auf den Krug zu, machte sich lang, streckte die Hand aus und versuchte den Henkel zu erwischen. Plötzlich Schritte auf dem Gang, laute Stimmen. Sie hob den Blick. Ein massiger Mann in langer roter Robe stürmte an ihr vorbei, gefolgt von Soldaten. Er hielt an, blickte auf sie herab. Sein ihr zugewandtes Gesicht war verschattet. Sie ahnte fleischige Züge, den harten, verächtlichen Blick und kroch in ihre Ecke zurück. ‹Nicht diese da – die andere dort!› Und sie fühlte Erleichterung, als sie weitergingen, und Scham, als sie zurückkamen, ein geschundenes, stöhnendes Bündel mit sich schleppten, Scham, weil sie Erleichterung verspürt hatte.
Der Abbé hatte Geifer vor dem Mund, so sehr erregte er sich: «Da stellt sich ein Weib hin, die Erbin der Urmutter Eva, das Sinnbild von tierhaften Gelüsten, von Schmutz und Verderbnis, von Unstetigkeit und Schwäche und behauptet – behauptet!, liebe Gemeinde, dass man nur der Natur freien Lauf lassen müsse, um gottgleich zu werden! – Ich hoffe doch sehr, dass ihr abschreckendes Beispiel einigen unter uns eine Lehre sein wird. Ich hoffe doch sehr, dass hier bei uns, so nahe am Sitz des Heiligen Vaters, Demut und Anstand herrschen. Gehorsam und Demut sind die Tugenden, die dem Weibe wohl anstehen!»
Es war die übliche Litanei von der Verantwortung gefolgt, die der Ehemann für seine Frau habe, und dass es nachgerade seine Pflicht sei, sie regelmäßig zu prügeln. Darin waren die Männer des Südens ohnehin nicht nachlässig.
Danielle riss sich mit einem Ruck aus ihrem Tagtraum und hörte, wie Anne fortfuhr:
«Dabei bin ich sicher, dass er das, worüber er redet, niemals selbst gelesen hat. Meistens erregen sich die Leute lieber über Gerüchte, statt sich selbst ein Urteil zu bilden.» Sie legte ihre Hand ehrfürchtig auf das kleine Buch, das aufgeschlagen auf dem Pult lag. «Dieses ist eine Originalhandschrift von Marguerite Poretes ‹Spiegel der einfachen Seele›. Eine Kostbarkeit, die gerade überall im Land auf Scheiterhaufen zu Asche brennt. Doch die Wahrheit findet immer einen Weg.»
Annes dunkle Augen glühten in ihrem schmalen Gesicht.
«Aber was meint sie denn nun genau mit den Tugenden – und wieso sollen wir der Natur freien Lauf lassen?», fragte Danielle verwirrt.
«Sie geht davon aus, dass es möglich ist, einen Zustand zu erreichen, in dem die Seele ganz frei ist von menschlichem Eigennutz, ganz auf Gott bezogen, so sehr auf Gott bezogen, dass sie zum Beispiel nicht nur Gutes tut, um seiner Vergebung oder irgendwelcher Vorteile willen – sondern weil sie selbst nur noch Liebe und Güte ist und also nicht anders kann. Stell dir vor: Sie könnte alles tun, was ihre Natur ihr aufgibt, weil diese Natur gut ist. Sie könnte sogar Zärtlichkeit geben und empfangen, küssen – all das! Diesen Zustand nennt sie ‹die freie Seele›, aber diejenigen, die sie verurteilt haben, nennen es Sünde, Häresie und einen Skandal. Doch was die Herren übersehen, ist die Tatsache, dass man, um diesen Zustand überhaupt zu erreichen, noch viel mehr Disziplin üben muss, als sie es sich vorstellen können, denn man muss zuerst ganz und gar tugendhaft sein und alles aufgeben, nach nichts streben in der Welt! Erst wenn man sich von jeglichen Wünschen und eigenem Willen frei gemacht hat, ist die Seele wirklich frei, sodass sie keinerlei Vorschriften mehr bedarf.»
Danielle sah auf das merkwürdige kleine Buch hinunter. «Davon bin ich weit, weit entfernt», flüsterte sie.
Anne war hinter sie getreten und legte ihr fast zärtlich eine Hand auf die Schulter: «Ich auch! Und siehst du, eine, die so hohe Maßstäbe hat, die haben sie als Ketzerin verurteilt. Es erinnert mich an die Geschichte von Jesus …»
«Ich werde mir sehr viel Mühe geben, diesem Buch die Ehre anzutun, die es verdient», sagte Danielle nachdenklich. «Aber es nimmt mich nicht Wunder, dass man es verboten hat.»
«Sicher. Dabei ist es so klug. Schwierig zu verstehen, oh, das sage ich dir! Einundzwanzig Professoren der Theologie waren vonnöten, um ihren Text bis zur Unkenntlichkeit zu zerpflücken und die Porete endlich als Ketzerin abzustempeln. Und weißt du auch, was diese Herren am meisten irritiert hat?»
«Ich kann’s mir schon denken: Dass ein Laie, schlimmer noch: eine Frau sich über die Vermittlung der Kirche hinwegsetzt.»
«Ja, denn eine freie Seele, die mit Gott ganz und gar verbunden ist, die braucht ja keine Riten und keine Kirche mehr.»
«Gefährlich! Sie war eine Rebellin, deine Porete. Hat sich denn eigentlich der Papst dazu geäußert?»
«Nicht dass ich wüsste, nicht offiziell. So etwas überlässt er seinen Bluthunden. Zwölf der einundzwanzig Professoren in dem Pariser Prozess gegen die Porete waren übrigens dieselben, mit deren Hilfe Papst Clemens auch schon den Templerorden abgeurteilt hat. Sagt dir das etwas über seine Einstellung zu selbstgenügsamen Gemeinschaften?»
«Still jetzt! Genug!» Juliana stand in der Tür und hatte den letzten Teil von Annes leidenschaftlicher Rede gehört. «Die Beginen sind nichts weiter als einfache, fromme Frauen, die in Frieden zusammenleben wollen. Marguerite Porete war zu stolz, auch wenn sie drei Mal recht hatte. Ich habe dir erlaubt, das Buch zu vervielfältigen, und ich habe dir erlaubt, Danielle ins Vertrauen zu ziehen, weil ich sie für klug genug halte, um zu begreifen, wie wichtig in diesem Fall Diskretion ist. Also halte deine Zunge im Zaum, Schwester!»
«Ja, Meisterin.» Anne senkte den Kopf und ging wieder an ihre eigene Arbeit, doch ihre Miene war hart geworden.
«Anne», fügte Juliana beruhigend hinzu, «ich verstehe dich ja, und auch ich halte den ‹Spiegel› für ein gutes und wahrhaftiges Werk. Doch wir müssen uns in der Welt einrichten, und dazu gehört, unseren Feinden möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.»
«Ja, Meisterin.»
«Wir überzeugen sie durch ein gutes Beispiel, nicht durch aufrührerische Reden.»
«Ja, Meisterin.»
Danielle musste daran denken, wie oft ein gutes Beispiel mit Einfältigkeit verwechselt wurde.
Und sie betrachtete Anne mit neuer Hochachtung. Bislang hatte sie Beginen, wo sie ihr begegnet waren, für arme Schwärmerinnen gehalten oder sie wegen ihrer Unauffälligkeit nicht weiter beachtet. Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine ganz eigene Philosophie und theologische Ausprägung besaßen, jedenfalls die Gebildeten unter ihnen, so wie Juliana und Anne. Und sie hatten einen eigenen Weg zur Seligkeit gefunden, «die sieben Stufen, auf welchen man aus dem Tal auf den Gipfel des Berges steigt, der so vereinzelt dasteht, dass man da außer Gott nichts sieht».
Sie schrieb weiter aus dem Buch ab, diesmal viel aufmerksamer als vorher. Eine Zeile prägte sich ihr besonders ein: «An die Demut müsst ihr euch halten, sie ist die Schatzmeisterin der Wissenschaft.» Es war ihr, als ob dieser Satz eine besondere Bedeutung für sie habe.
Am späten Nachmittag, als die Hitze sich einigermaßen gelegt hatte und die violetten Schatten sich unter den Bäumen hervorwagten, um lange Finger in den Hof und in die Beete zu schicken, kam die alte Begine Alix ins Scriptorium. «Guten Abend, Juliana. Seid Ihr mit der Italienerin fertig? Ich würde sie mir gern wieder holen. Die Pflanzen haben Durst.»
«Ja, nimm sie nur mit. Sie kann ein anderes Mal weiterkopieren. Das heißt – wenn du einverstanden bist, Danielle.»
«Ja, sicher.» Sie hatte an dem, was sie gelesen und abgeschrieben hatte, reichlich genug zu denken. Danielle reckte sich und ließ die Finger knacken. Sie winkte Anne zu und folgte Alix. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, rief Juliana noch einmal ihren Namen. Sie drehte sich um, und Juliana legte einen Finger an die Lippen.
Da sie etwas von Heilpflanzen zu verstehen schien, hatte man beschlossen, sie für die Sommermonate der Gärtnerin zuzuteilen. Alix war alt und korpulent. Ihre Oberarme hatten die Ausmaße und das Aussehen von geräucherten Schweineschinken. Ihre Gelenke waren ständig geschwollen, und das Bücken und Knien auf dem harten Boden fiel ihr schwer. Aber sie liebte das Essen und den Wein. Sie war meist fröhlich, wenn auch mitunter etwas grob, und für die jüngeren Beginen war sie eine Vertraute und Kumpanin bei allem Schabernack.
«Was ist das?», hatte Alix gefragt und mit ihrem Stock auf eine kniehohe Staude mit unpaarig gefiederten Blättern und weißen Blütendolden gezeigt.
«Das ist Katzenkraut – echter Baldrian. Der ist warm und trocken, soll bei Seitenstechen und Kopfschmerzen und gegen Husten helfen. Ich habe aber auch festgestellt, dass seine getrocknete Wurzel in Teemischungen beruhigend wirkt – und nicht die schädlichen Wirkungen von Mohnsaft hat», hatte Danielle heruntergerasselt.
«Hast du festgestellt? So. Und das dort?» Sie stieß mit dem Stock gegen ein buschiges, silberblättriges Gewächs mit blauvioletten Blütenkerzen.
«Salbei. Man setzt die Blätter frisch oder getrocknet bei Diätfehlern, bei Rheuma, schlechtem Atem und gegen die Verschleimung der Säfte ein.»
«Schau an. Das mit den Diätfehlern wusste ich nicht. Ich nehm’s gegen meine Gicht, die – wie ich sehr wohl weiß – meinem Appetit geschuldet ist. Aber kochen oder zerstoßen kann es schließlich jeder. Weißt du auch, wie man das Kraut zum Wachsen bringt, Italienerin?»
«Vom Salbei nimmt man Kopfstecklinge jetzt im frühen Sommer. Er wächst und blüht aber viele Jahre. Baldrian ist auch mehrjährig, da weiß ich aber nicht, ob er aus Samen kommt oder aus Stecklingen.»
«Hmm, hmm! Dann wollen wir mal sehen, ob du auch ein Händchen für meine Pflanzenkinder hast. Da in dem Korb hab ich ein paar junge Setzlinge von Fenchel und Sellerie. Die pflanz mir ein, den Sellerie dahin und den Fenchel dort!»
Sie stach mit dem Stock Löcher in die Erde, um anzuzeigen, wo die Setzlinge hinkommen sollten.
Danielle ließ sich auf die Knie nieder und jätete flink die unerwünschten Kräuter aus. Sie lockerte den Boden und ließ die langen Wurzeln vorsichtig in die vorbereiteten Löcher gleiten.
Alix hatte dazu zufrieden mit dem Kopf genickt: «So ist es recht. Gut machst du das. Woher du die Kräutlein alle kennst, das weißt du wohl nicht?»
«Doch», hörte sich Danielle zu ihrem eigenen Erstaunen sagen, «meine Mutter hatten einen giardino di semplice.»
Eine schöne Frau mit dunklen Locken, die ihr lang den Rücken hinuntersprudeln. Da war nur dieses eine Bild von ihr, für immer jung: Sie hockt sich hin zwischen den Beeten, und der Saum ihres grünen Kleides fließt über den Sand. Tauben picken Pinienkerne aus ihrer Hand.
«Wenn du einverstanden bist, werde ich Juliana bitten, dass du mir öfter hilfst.»
Danielle war das sehr recht, lieber als Küchendienst und lieber als putzen oder das Hospital war es ihr allemal.
Der Garten nahm den gesamten Hof ein und war von einer Buchsbaumhecke eingefasst. Eine Zisterne bildete das Zentrum. Nördlich davon, zum Hospital und dem Torhaus hin gelegen, lag der Herbularius, der Heilkräutergarten. Acht rechteckige Beete waren säuberlich mit Tonziegeln abgesteckt.
«Im Osten: Papaver, Ruta, Valerian und Feniculum», erläuterte Alix, wobei sie mit ihrem geschwollenen Zeigefinger auf die entsprechenden Pflanzen zeigte. Im Westen: Rosmarino, Salvia, Cumino und Ataregia, das Pfefferkraut, das trocken und wärmend ist und gut für Herz und Magen, gleichfalls für Rheuma, Gicht und alle Krankheiten, die von zu viel Feuchtigkeit und Kälte kommen. «Die Kümmelpflanzen haben wir aus Ägypten bekommen.»
Sie gingen hinüber zur anderen Seite, zum Hortulus, dem Gemüsegarten, der ebenfalls nach medizinischen Gesichtspunkten angelegt war.
«Im Osten: Cepas, die Zwiebel, die vielerlei nützliche Eigenschaften hat: sie wirkt generell kräftigend, ein Sirup aus Zwiebel ist gut bei krampfartigem Husten. Sie nützt als Kompresse bei Entzündungen der Ohren, für das alte Herz wirkt sie wahre Wunder, und eine Abreibung der Kopfhaut mit der rohen Frucht vertreibt Ungeziefer und lässt das Haar wachsen. Nicht dass wir solchen Schmuckes bedürften …», dozierte Alix.
«Du sprichst, als seist du in einem Kloster gewesen», sagte Danielle.
«War ich auch. Bin als Kind in Sankt Gallen gewesen. Habe dort als Magd im Garten gearbeitet, da habe ich alles de culturam hortorum gelernt.»
«Und warum bist du nicht mehr dort?»
Alix zwickte im Vorübergehen mit den Fingernägeln ein Ästchen ab, das vorwitzig in den Weg ragte. «Die Sankt-Gallener schließen sich zu sehr von der Welt ab, das hat mir nicht gepasst. Nur vita contemplativa auf Kosten der Gesellschaft, das heiße ich nicht gut. Ist im Übrigen auch nur für die hochwohlgeborenen Chorschwestern so bequem. Als Laienschwester bist du nur eine billige Dienstkraft, und für das Kontemplative bleibt dir wenig Zeit. Trotzdem wecken sie dich um Mitternacht zum Beten! Im Übrigen waren sie geizig mit dem Bier. Ich bin also dort weg, als ich alt genug war, um zu begreifen, was mir nicht gefällt.»
Als Danielle später eine Bemerkung über Alix’ lockere Einstellung zum Konventleben machte, da widersprach Magdalène ihr überraschend: «Das scheint nur so. Tatsächlich ist Alix tiefgläubig, tiefer als die meisten von uns! Du musst sie nur einmal beobachten, wenn sie betet. Oder schau einmal, mit welcher Sorgfalt und Liebe sie die Blumen für unseren Hausaltar aussucht und wie sie diese Blumen stellt und dabei die Madonna anschaut. Sie liebt sie wirklich. Nein – es muss etwas vorgefallen sein in diesem Kloster, was sie von dort vertrieben hat. Sie hat ein paar Andeutungen über den sündigen Luxus der adligen Nonnen gemacht. Und wenn Alix etwas nicht für Recht hält, dann gibt sie sich auch nicht dafür her.»
«Wie – du bist einfach auf und davon?», fragte Danielle.
«Na, ich habe mich wandernden Beginen angeschlossen, Bettelbeginen, und bin mit denen umhergezogen. Dann kamen wir nach Pertuis, und da hatte Juliana gerade mit Hilfe einer reichen Stifterin dieses Haus eröffnet. Es hat mir gefallen, und ich bin geblieben. Da siehst du: Den Garten habe ich so angelegt, dass er unser Leben wiedergibt. Die Umrandung ist niedrig, das bedeutet: Wir gehen in die Welt hinaus und helfen. Wir führen eine vita activa, wir arbeiten. Der Garten sollte das widerspiegeln, verstehst du?»
«Ich sehe es», bemerkte Danielle. «Und auch die Schönheit hast du nicht vernachlässigt.» Da war eine Bank, von dichtem Lorbeer eingefasst. Meerblaue Schwertlilien blühten in Schalen aus grauem, verwittertem Kalkstein zu den vier Seiten des Brunnens. Und gegenüber der Bank bildete eine Heckenrose das optische Gegengewicht zum Lorbeer. «Ein ungewöhnliches, aber sehr harmonisches Arrangement», sagte sie anerkennend.
«Ja, das ist es», bestätigte die alte Begine zufrieden. «Und hier bei den Gemüsen siehst du weiterhin den Porros – Porrée; Apium – Sellerie; Fasiolo, die Bohnen. Im Südwesten sodann: Alias – Knoblauch; Pastinachus – weiße Rüben; Lubestico, den Liebstöckel, dazu noch Petrosilium und Anetum – Dill. Auf den Beeten zwischen Hospital und Apotheke findest du noch Schafgarbe, Katzenkraut, Benediktenkraut. Angelica und Calendula. Dort hinten …», sie gingen an der Weberei vorbei und um die Ecke des Gärtnerhauses, «vor den Latrinen sind noch ein paar Reihen Caulas – Kohl, wie du sicher schon bemerkt hast.» Die Kohlköpfe waren noch hellgrün und nicht einmal faustgroß und sahen aus wie Wintersalat. Erst später würden sie zu den harten, festen Kugeln werden, die man im Oktober ernten und einsalzen würde.
Die Tierställe schlossen an die hintere Mauer an. Hier waren die zwei Maultiere, ein Schwein und einige Hühner untergebracht. Die Hühner hockten im warmen Sand und gaben träge, glucksende Geräusche von sich. Alix und Danielle kehrten zurück in den eigentlichen Garten.
«Die Setzlinge brauchen Wasser, und alles andere auch.» Alix schob den Holzdeckel der Zisterne beiseite und spähte in die Tiefe. «Aber Wasser ist hier knapp. Würdest du welches vom Brunnen holen? Ja, ja, du darfst hinaus! Wenn ich es dir erlaube, wird Juliana nichts dagegen haben. Ich begleite dich.»
Danielle nahm zwei hölzerne Eimer und Alix einen Krug. Sie gingen durch den überschatteten Gang vorbei an der Küche, aus der ein Dunst drang, der noch heißer war als die Luft draußen.
«Arme Annik!», sagte Alix. «Ich habe sie nie um ihre Aufgabe beneidet. Kannst du kochen?»
«Nein. Annik lässt mich höchstens noch Töpfe schrubben, nachdem ich einmal ein Gericht versalzen und ein anderes habe anbrennen lassen.»
Alix lachte. «Ich hab auch immer besser essen als kochen können.»
Marthe, die das Eingangstor hütete, stand auf und öffnete ihnen. «So, geht es hinaus? Grüßt mir meine Base, ihr trefft sie sicher am Brunnen zu dieser Zeit.»
Sie traten in die Gasse hinaus. Zwei Frauen säuberten die Straße; eine sprengte Wasser, die andere kehrte.
«Guten Abend, Alix, guten Abend Schwester.»
«Guten Abend und Gottes Segen!»
Sie überquerten die Rue Vaillante und gingen am Haus des Konsuls vorbei, hinter dem sich der öffentliche Brotofen befand, auf die Place de l’Ange. Am einzigen Brunnen in der Stadt war immer viel Betrieb. Frauen standen und warteten mit Krügen und Eimern, bis sie an der Reihe waren, und ließen auch schon mal andere vor, wenn sie ihren Schwatz noch nicht beendet hatten. Und wo sich Frauen aufhielten, waren auch die jungen Kerle nicht weit. Ein paar von ihnen lehnten an einer Hauswand unweit des Brunnens und kommentierten untereinander weithin hörbar die Vorzüge oder Nachteile einzelner Damen.
«O schau, die Beginen, immer paarweise, wetten, dass die andersrum sind?»
«Ja, normal ist das nicht, dass Frauen so zusammenwohnen, sind doch schließlich keine Nonnen!»
«Kennst du den schon», gab schließlich einer von ihnen die neueste Zote zum Besten: «Kommt ein Mann zu einem Beginenhaus und klopft an die Tür. Macht eine Begine auf. Der Begine fällt ein, dass sie vergessen hat, den Schleier anzulegen, und vor Scham wirft sie sich den hinteren Teil ihres Rockes über den Kopf. Sagt der Mann: Unbedecktes Haar ist aber weniger anstößig als ein bloßes Hinterteil!» Die Kerle grölten los.
Sie weiß, sie hat einen Fehler begangen. So spät sollte sie in einem Dorf nicht unterwegs sein. Es ist schon dunkel, aber sie ist hungrig und hat darauf gehofft, etwas zu essen zu ergattern. Drei Männer kommen ihr entgegen. Ihr Gang ist schlingernd, schwankend, sie lachen zu laut. Sie beginnt schneller zu laufen, aber sie haben sie schon entdeckt. «Ein Weib! Die schnappen wir uns!» Sie rennt, verliert einen ausgetretenen, geflickten Schuh, läuft weiter. Zum Glück sind die Kerle betrunken und langsam. Über ein Mäuerchen, durch einen dunklen Garten und hinter einen Stall. Sie lehnt an der Bretterwand und hört drinnen die Tiere schnaufen und scharren. Ihr Herz rast.
«Und kennt ihr den: Bei einer Begine liegt ein Kleriker. Die Begine nebenan hört das Geturtel und geht hinüber, um ihre Schwester zu ermahnen. Sagt die Getadelte: ‹Du hast aber einen merkwürdigen Kopfputz, Schwester!› Sie hatte nämlich im Dunkeln statt des Schleiers die Hose ihres eigenen Liebhabers erwischt!» Er bog sich vornüber vor Lachen und schlug sich auf die Schenkel, so erfreute er sich an seinem eigenen Witz.
Danielle starrte sie finster an. Alix stieß ihr den Ellbogen in die Seite: «Wirst du wohl die Männer nicht so anstarren! Das gehört sich nicht! Schlag die Augen nieder!»
«Aber wenn sie doch so schmutziges Zeug über uns sagen?!»
«Na und? Beachte sie einfach nicht. Schämen müssen die sich und nicht wir.»
Sie stellten sich am Brunnen an. Die meisten Frauen waren freundlich und höflich, doch sie spürte wohl, dass sie hier eine Außenseiterin war. Zwei der besser gekleideten Bürgerinnen wandten sich demonstrativ von ihr ab.
«Es ist schon eine Schande, wie sie ganz offen zusammenleben und dann auch noch fromm tun», zischte die eine.
«Und auf uns herabschauen, als ob sie etwas Besseres wären», flüsterte die andere.
Danielle hielt ihren Frieden und wartete, bis sie an der Reihe war. Vor ihr stand eine hochschwangere junge Frau.
«Du solltest in deinem Zustand nicht so schwer tragen», bemerkte Danielle.
«Ha! Das sag mal meinem Ehemann! Der sieht seine Eselinnen die Karren ziehen und ihr Junges im Laufen werfen und meint, das müsste bei mir genauso gehen.»
«Männer!», sagte ihre Nachbarin empört.
Danielle drehte sich nach Alix um und schaute sie fragend an. Die nickte und machte es sich auf dem Brunnenrand bequem.
«Komm, lass mich! Ich trag dir rasch die Eimer nach Hause.»
«Ja? Ich dank dir sehr. Das wäre mir wirklich recht! Ich habe schon Angst, es geht wie beim letzten Mal.»
«Hast du ein Kind verloren?»
«Ja, nicht nur eins.»
«Na, dann gib mir die Eimer und lauf voran. Und wenn es meine Meisterin erlaubt, will ich gern morgen zur selben Zeit wieder hier sein.»
Danielle war bald zurück. Sie füllte die Holzeimer und hängte sie rechts und links auf den Tragbalken, bückte sich, schlüpfte unter den Balken, sodass er in ihrem Nacken zu liegen kam, und richtete sich mit der Last auf. Alix schleppte den Krug. Sechs- oder siebenmal mussten sie laufen, ehe alle Pflanzen gewässert waren und noch zweimal, um Wasser für die Küche und Trinkwasser für die Tafel zu holen.
Marthes Cousine erschien am Brunnen mit ihrer Kinderschar. Die Jungen tobten auf dem Platz herum und machten Geschrei, während die Mädchen mit ihrer Mutter nach Wasser anstanden. «Ich danke für die Grüße. Sag ihr, uns geht es allen gut. Nur dass ihr Bruder noch humpelt, wo er sich mit der Axt ins Bein gehauen hat beim Holzschlagen. Und dass seine Milchkuh ihm weggelaufen ist. Und dass ihm der Schuppen abgebrannt ist. Aber sonst geht’s uns allen gut», sagte sie und lächelte tapfer.
Endlich waren alle Pflanzen gewässert. Der Duft von feuchter Erde mischte sich mit dem sonnenwarmer Kräuter. Mit dem letzten Rest Wasser aus dem Krug spülten sie Schweiß und Staub von den Händen. Alix richtete sich auf und rieb sich ihre knotigen Gelenke.
«Wenn du jetzt noch eine Kräutermischung in Olivenöl ansetzen würdest, dann wären wir für heute fertig. Alles, was dafür nötig ist, steht schon auf dem Tisch im Schuppen.»
«Gern», erwiderte Danielle. Das war ihr die liebste Beschäftigung, gleich nach dem Gärtnern. Es war so friedvoll hier in diesem luftigen Gärtnerhaus mit den langen Bänken, auf denen Setzlinge keimten, mit den Regalen voller säuberlich beschrifteter Flaschen, den Schubladen mit Samen, dem steinernen Arbeitstisch. Danielle legte Alix’ Rezeptbuch offen neben sich und überprüfte die Zutaten. Sie musste sich tief über das Buch beugen, um die winzige, krakelige Schrift lesen zu können. Gerade hatte sie begonnen, eine Handvoll Pfefferkraut grob zu hacken, als sie von draußen Lachen und Geschrei vernahm. Als sie vor die Tür trat, sah sie gerade noch, wie die alte Gärtnerin wütend und mit dem Stock fuchtelnd durch die Beete rannte.
Ein paar Gören stoben kichernd vor ihr davon, die Taschen voller Kirschen. Natürlich war Alix nicht schnell genug. Die Kinder entkamen über die hintere Mauer zwischen Stall und Latrine.
«Was stehst du da so herum? Warum hast du mir nicht geholfen?!» Wütend versetzte Alix der Mauer einen letzten Hieb mit ihrem Stock. «Diese Lausebengel! Die fressen uns noch die Haare vom Kopf! Letzte Wochen haben sie Rüben gestohlen, davor waren es die ersten Zwiebeln! Heute sind’s unsere guten Kirschen!»
«Ach, lass sie doch», sagte Magdalène im Vorübergehen. «Du weißt doch ganz gut, wie es bei denen zu Hause zugeht. Die haben immer Hunger! Sieh es als eine andere Art der Armenfürsorge.»
«Dass sie bei uns klauen können? Feine Fürsorge, da lernen sie gleich was fürs Leben», brummte Alix.
Am Abend blieb Danielle noch ein wenig Zeit, um an ihrem Teppich weiterzuwirken. Ein Gesicht war nun zu erkennen, das Haar mit einem weißen Band zurückgebunden. Die Schultern wurden sichtbar und ein einfaches weißes Gewand. Auch der Himmel war nun abgeschlossen. Ranken und Blumen zeichneten sich ab, die den Kopf umschlossen und sich rechts und links des Körpers nach unten hin fortsetzten. Hinter dem Gewebe hingen kleine Bündel aufgewickelter Wollreste in verschiedenen Farben herunter. Und es kamen immer mehr hinzu, je mehr Schattierungen Danielle einarbeitete.
«Das war freundlich, dass du der schwangeren Frau die Wassereimer getragen hast. Alix hat es erzählt», sagte Guilhelme.
Magdalène war hereingekommen und schaute ihrer Freundin über die Schulter.
«Du hast aber auch ein besonderes Verhältnis zu Schwangeren. Wie du dich auch um Laura sorgst …»
«Klipp, klapp», machten die Tritte der Webstühle.
«Vielleicht hat unsere Danielle ja ein geliebtes Kind verloren oder mehrere und aus Kummer das Gedächtnis verloren», rätselte Philippa.
«Eher hat sie doch wohl ihr Kind umgebracht und ist dafür bestraft worden.» Das war unverkennbar Gebba.
«Unsinn! Für so etwas wäre sie ersäuft worden», kam es von Manon.
«Dann war sie vielleicht Hebamme und ist für eine Pfuscherei geteert und gefedert worden», ließ Gebba nicht locker. «Ja, das passt!»
«O nein, das glaube ich ganz gewiss nicht. Vielleicht wünscht sie sich nur sehnlich ein Kind», sagte Guilhelme.
«Oh, seid doch nicht so grausam zu ihr!», rief Magdalène. «Seht ihr denn nicht, wie ihr sie quält mit eurer Neugier und euren taktlosen Vermutungen?»
Doch es war schon zu spät. Danielle war aufgesprungen und hatte heftig die Spindel zu Boden geworfen. Mit Tränen in den Augen rief sie: «Ich wäre euch wirklich dankbar, wenn ihr nicht über mich reden würdet, als sei ich gar nicht da!» Weinend stürzte sie aus dem Raum. Magdalène lief hinterher, um sie zu trösten, doch sie konnte sie nirgends finden.
Danielle hatte sich im Stall versteckt. Sie vergrub ihr Gesicht im warmen, struppigen Fell eines Maultieres und weinte, bis ihre Augen zuschwollen. Renata fand sie nach dem Abendessen. «Hier steckst du also. Wir waren alle sehr besorgt.» «Bestürzt» traf es eher. So heftig hatten sie die neue Schwester noch nie erlebt. Sie war doch sonst immer so ausgeglichen und beherrscht!
«Ach, lasst mich doch in Ruhe», sagte Danielle und wandte sich ab.
Renata ließ sich nicht abweisen.
«Sie haben es nicht böse gemeint. Na ja, für Gebba würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Aber die anderen sind alle sehr zerknirscht. Die Neugier ist mit ihnen durchgegangen. Du solltest ihnen verzeihen.»
«Schon recht», erwiderte Danielle.
«Nein, nein», Renata klopfte ihr auf den Rücken, so wie sie es mit ihren Tieren tat. «Ich meine: wirklich vergeben. Sie sind deine Schwestern und Freundinnen.»
«Ich brauche keine Freundinnen. Allein war ich besser dran.»
«Kein Mensch ist allein besser dran. Und das weißt du auch ganz gut. Nun komm mit. Da, wasch dir das Gesicht!»
Danielle ging zum Trog und spritzte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht, bis es etwas abgeschwollen war. Renata warf ihr einen Lumpen zum Abtrocknen zu.
Wie ein widerborstiger Esel ließ Danielle sich in die Küche führen. Annik gab ihr – ausnahmsweise wortlos – eine Scheibe Brot in die Hand, dick mit Honig bestrichen, und stellte einen Becher Ziegenmilch neben sie auf den Küchentisch.
Nach diesem Vorfall wurde Danielles Vergangenheit nicht mehr diskutiert, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Ein paar Tage lang schienen alle auf Zehenspitzen um sie herumzuschleichen. Dann kehrte wieder Alltag ein.