19.

«He, Medicus! Carolus! Hast du es schon gehört? Eine der Beginen ist eine Hexe. Sie hat Mestra Lauras Säugling gestohlen und dem Teufel geopfert! Dafür wird sie brennen!»

«Es ist die Fremde, die Italienerin!»

«Ach, die anderen sind auch nicht besser!»

«Haben wir es nicht immer schon gewusst, dass mit diesen Weibern etwas nicht stimmt? Es ist eine Schande, dass man sie hat gewähren lassen, diese Schlampen!»

Carolus war vor zwei Tagen zu einem Gehöft außerhalb der Stadt gerufen worden, wo der Verwalter eines Weinbergs erkrankt war. Er war von einer Viper gebissen worden, als er eine Weinrebe aufrichten wollte. Carolus hatte ihm die Bisswunde ausgebrannt und einen Heilstein aufgelegt, der das Gift herausziehen sollte. Zum Glück hatte er sich darauf nicht verlassen, sondern dem Mann außerdem ein herzstärkendes Mittel gegeben. So hatte er überlebt.

Am Stadttor erfuhr er die Neuigkeit. Die ganze Stadt schwirrte von Gerüchten und mörderischer Lust.

«Sie haben diese Weiber in ihrem eigenen Haus eingesperrt, und bald wird man ihnen den Prozess machen», riefen die Leute.

«Zuerst haben sie gesagt, Laura wäre tot», berichtete seine Mutter ihm. «Dann wieder hieß es, sie lebe, aber das Kind sei fort. Geh doch rasch einmal zu den Vidals und schau nach, was nun wirklich passiert ist.» Die alte Dame brannte vor Neugierde und war doch nicht mehr in der Lage, zu gehen und ihren Wissensdurst selbst zu befriedigen.

Carolus war müde und hätte gern etwas geschlafen, doch er eilte sofort zu Marius und Laura. Catherine empfing ihn kühl. «Was willst du hier?»

«Ich habe Gerüchte gehört. Jetzt will ich sehen, wie es deiner Schwester geht und von Marius selbst hören, was geschehen ist.»

«Deine Papelarda hat sich unter dem Vorwand, Ärztin zu sein, hier eingeschlichen und das Kind gestohlen. Das ist geschehen!»

«Catherine! Das sollst du nicht behaupten!» Es war Marius. Er schob sie beiseite und zog den jungen Arzt herein. «Komm, sprich du mit Laura. Sie ist dermaßen verzweifelt über den Verlust, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll. Ich habe Angst, dass sie mir stirbt. Sie weigert sich zu essen und weint nur und spricht kaum ein Wort.»

Laura lag blass, klein und still auf ihrem Bett. Carolus bat sie untersuchen zu dürfen. Sie ließ es geschehen.

«Sie ist ausgezeichnet versorgt worden. Die Brüste sind eingebunden, wie ich sehe, um die Milchproduktion zu unterbinden. Das ist gut. Körperlich fehlt ihr nichts. Aber Ihr müsst unbedingt etwas essen, Laura!»

Sie schüttelte den Kopf.

«Laura! Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich weiß genau, dass Danielle nichts damit zu tun hat. Sie ist ein guter Mensch und eine hervorragende Ärztin! Jemand anders muss das Kind genommen haben. Wir werden es herausfinden. Iss etwas und bleibe stark. Dein Kind braucht dich, wenn wir es finden. Und ich finde es sicher!»

Laura ließ sich überreden, etwas gezuckerten Rotwein zu trinken, aber essen mochte sie nichts.

«Wer war denn im Haus in der Nacht?», fragte Carolus seinen Freund.

«Eine ganze Menge Leute: Die Mägde Belota und Magali, mein Leibdiener Tommasius, aber der ist bei meiner Familie, seit ich ein kleiner Junge war. Er ist uns treu ergeben! Nie würde er Laura schaden. Und die Mägde haben dazu sicher auch keinen Anlass. Wir haben sie immer gut behandelt. Doktor Renzi war etwa eine Stunde da. Dann die Beginen Jeanne und diese neue, Auda, sie soll Hebamme sein. – Und dann kam mitten in der Nacht diese Italienerin dazu, Danielle. Ich habe immer gehört, sie sei bettelnd durch die Lande gezogen. Und plötzlich sollte sie Ärztin sein? Carolus, ich hoffe nur, ich habe keinen Fehler gemacht, dass ich sie zu Laura ließ! Aber Laura hat sich so gequält, und ich hatte Angst um sie – da habe ich es zugelassen, dass diese Danielle … Carolus: Sie hat sie aufgeschnitten und das Kind auf diese Weise geholt. War das falsch?»

«Nein, mein Freund, das war vollkommen richtig! Ich hätte diesen Eingriff nicht gewagt, aber ich habe es mir angesehen. Es ist gut gemacht und wird bald heilen!»

«Wie kann sie erst Bettlerin sein und plötzlich Ärztin? Wer hat je von weiblichen Ärzten gehört? Was, wenn sie doch eine Hexe ist?» Marius war ganz blass vor Sorge.

«Sie ist ganz sicher keine Hexe, beruhige dich. Dass sie Ärztin sei, wusste ich nicht, aber ich habe so etwas geahnt. Nach dem Brief, den ich aus Paris bekommen habe … irgendwie habe ich mir die Sache nicht zusammenreimen können. Ich war ja so blind in meinem Vorurteil! Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Zuerst müssen wir das Kind finden und dann dafür sorgen, dass die guten Beginen nicht zu Unrecht bestraft werden.»

Carolus sprach mit den Dienstboten.

«Ich weiß nichts. Es hat alles so lange gedauert, und wir mussten den ganzen Tag und die halbe Nacht treppauf, treppab rennen, Wasser schleppen, Leinen bringen, Gebräue aufsetzen, stinkende Pasten rühren – meine Waden sind angeschwollen wie Melonen, Herr! Bitte um Vergebung, ich hab geschlafen, als das Kind gekommen ist», sagte Belota, die ältere der beiden Mägde, «ich habe hinterher die Herrin und das Kind waschen helfen. Ich habe es mit meinen Händen gehalten. Ein hübscher strammer Junge war’s, bei Gott! Wir haben ihn der Herrin in die Arme gelegt, und sie hat sich so gefreut! Und dann ist der Herr gekommen und hat sich dazugesetzt. Mehr weiß ich nicht. Danach habe ich die blutigen Leintücher in kaltes Wasser gelegt, damit sie weichen konnten bis zum Morgen, und bin auf meinem Strohsack eingeschlafen, noch ehe ich ihn mit dem Kopf berührt hatte. Ganz gewiss! Und wären danach auch hundert Hexen durchs Haus geritten auf Besen oder wilden Böcken oder was sonst die so machen, ich hätte nichts gehört.»

Ein kleiner Junge saß am Tisch und putzte Gemüse. Er schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel.

«Wer ist das?», fragte Carolus.

«Das ist Claude, mein Sohn. Er hilft schon in der Küche! Die Herrin ist so gut und lässt mich ihn hier behalten. Sein Vater ist auf und davon.» Carolus erinnerte sich daran. Das Kind war unehelich empfangen. Die Leute hatten sich das Maul zerrissen und Mestra Laura auf übertriebene Weise gelobt, wie gut sie war, dass sie Mutter und Balg nicht auf die Straße gesetzt hatte.

«Hast du jemanden mit dem Baby fortgehen sehen, Claude?»

«Nee», sagte er und zog den Rotz hoch.

Carolus ging noch einmal nach oben, um mit Catherine zu sprechen. Ihre Kammer lag neben der von Laura. Er klopfte an. Catherine riss die Tür auf, als habe sie nur darauf gewartet. Wütend funkelte sie ihn an: «Ja, natürlich, durchsuche nur mein Zimmer! Ich habe das Kind gestohlen, warum? Aus … aus … aus Neid! Ja! Weil ich unverheiratet bin, eine alte Jungfer und selbst keine Kinder habe.»

«Ach, Catherine!»

Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

«Ich weiß nichts. Ich habe geschlafen», kam es von drinnen.

Achselzuckend ging Carolus die Treppe wieder hinunter und verließ das Haus. Sein nächster Weg führte zu Doktor Renzi. Der war nicht eben hilfreich: «Junger Mann. Als ich dort war, da war das Kind noch im Mutterleib! Und auch noch als ich wegging! Wie soll ich wissen, was hinterher geschehen ist? Aber es nimmt mich doch wunder, wie dieses Weib es geschafft hat, dass die Geburt doch noch vonstatten ging!»

«Dieses Weib, wie Ihr beliebt, ist eine Ärztin, eine Kollegin», sagte Carolus.

«Kollegin? Na, von mir aus. Es geht abwärts mit der Welt! Nächstens ziehen die Weiber Hosen an, und die Kerle kriegen die Kinder», brummte der alte Doktor. «Immerhin: Vielleicht wäre es ja nicht so schlecht, wenn Frauen andere Frauen behandeln. Hat sie es ordentlich gemacht?»

«Hervorragend! Ich sage es Euch ganz ehrlich. Sie könnte uns in dieser Hinsicht allerhand beibringen», erwiderte Carolus.

«So?!» Der Alte zog die Augenbrauen hoch. «Aber wo hat sie das Kind gelassen, das frage ich. Man hat schon von Fällen gehört, wo die Kinder getötet wurden, um die Mutter zu retten. Vielleicht haben sie das getan und anschließend den Leib des Kindes verscharrt, um ihr Verbrechen zu vertuschen. Die Kirche hat das verboten, und die Todesstrafe steht darauf. Aus ärztlicher Sicht finde ich es zumindest fraglich, ob das richtig ist. Aber das steht hier nicht zur Diskussion.»

«Aber das hat Danielle ganz sicher nicht getan!», rief Carolus. «Nein, das kann ich nicht glauben!»

«Und weil Ihr es nicht glaubt, ist es nicht so? Ich habe schon von Euren merkwürdigen ‹Behandlungsmethoden› gehört! Ihr sollt in die Begine verliebt sein und das Verlöbnis mit der Dame Catherine gelöst haben. Euer Urteil ist wohl kaum ungetrübt.»

Ernüchtert trabte Carolus davon. Aber so schnell würde er nicht aufgeben. Er überquerte den Platz vor der Kirche Saint Pierre und sah, wie Abbé Grégoire gerade aus seiner Kirche kam.

«Ah, Carolus, habt Ihr es schon gehört?», begrüßte dieser ihn.

«Ja, falls ihr von Mestra Laura und dem verschwundenen Säugling sprecht. Ich habe auch schon gehört, dass Ihr die Beginen dafür verantwortlich macht. Aber es gibt mehr als genug Zeugen, dass sie das Haus Vidal auf ganz normale Weise und ohne das Kind verlassen haben. Wie wollt ihr daraus eine Anklage wegen Hexerei machen?», fragte Carolus zornig.

«Ich will gar nichts, Medicus. Unterstellt mir das nicht. Aber was soll man denn da denken? Diese Weiber besuchen eine Schwangere mitten in der Nacht, und anderntags ist das Kind verschwunden! Übrigens hat mir die Begine Gebba, eine aufrechte und fromme Christin, ein sehr verdächtiges Dokument zukommen lassen!» Kerzengerade richtete sich der Abbé auf und hob triumphierend den Zeigefinger. «Ein Dokument, das von dieser angeblichen Bettlerin, dieser Danielle, mit eigener Hand geschrieben wurde, ein Buch …!»

Carolus blickte den Priester entgeistert an. «Ein Buch? Ich bitte Euch, zeigt es mir.»

Er folgte dem Priester zu seinem Haus nahe der neuen Kirche Saint Nicolas.

Der Abbé bewohnte ein zweistöckiges Haus aus gelbem Sandstein, zwischen dem Schloss und der Kirche, am Rand des Friedhofs gelegen. Geißbart wucherte über die Mauer des Friedhofs und verströmte seinen Honigduft. Dunkle Zypressen und wilde Rosen umrahmten den Eingang des Hauses.

Die Haushälterin öffnete ihnen. «Eine Erfrischung für Euren Gast, Hochwürden?» Aber er winkte sie ungeduldig fort. Nichts da, keine Erfrischung für diesen sehr jungen und unbedeutenden Medicus!

Im Studierzimmer nahm der Abbé ein Buch vom Tisch. Carolus erkannte es sofort an seinem Umfang, an dem verschossenen dunkelroten Ledereinband und dem eingeprägten und mit Gold belegten Symbol auf der Vorderseite, einer zusammengerollten Schlange, dem Zeichen für ewiges Werden und Vergehen. Carolus nahm dem Abbé das Buch ab und schlug es auf. Er war sich sicher jetzt. Es war ihre Handschrift, sie passte zu ihr: ungeduldig, großzügig, selbstbewusst.

«Passionibus Mulierum Curandum», sagte der Abbé überflüssigerweise.

«Das Buch gehört mir. Wie ist es zu Euch gelangt?», fragte Carolus.

«Es ist Eures? Aber man hat mir versichert – die Begine Gebba hat es mir mit einem Mann von der Stadtwache geschickt.»

«Ich hatte es Jeanne, der Infirmaria geliehen. Gebba muss es gestohlen haben. Es war nicht für sie bestimmt!»

Der Abbé war empört und verwirrt.

«Und Ihr behauptet, es gehört Euch? Wisst Ihr denn auch, was Ihr da auf Euch nehmt? Wisst Ihr, was für schmutzige Bilder und Rezepte es enthält? Anleitungen, Schwangere zu schneiden und die Frucht des Leibes mit Gewalt herauszuholen, auf unnatürlichem Wege?! Hexentränke! Weibliche Ränke und Betrügereien!»

«Lieber Abbé, Hochwürden, Ihr könnt das nicht wissen, und Euer Pflichtgefühl ehrt Euch. Aber ich versichere und schwöre Euch, hier steht nichts, was nicht von den medizinischen Fakultäten von Neapel, Bologna und Paris anerkannt und gebilligt wurde.» Das war, wie er wohl wusste, höchst zweifelhaft, aber auch schwer zu widerlegen. «Es ist ein Buch der Heilkunde, speziell für Frauen. Nicht zu Gewalt gegen Mutter und Kind fordert es auf, sondern es zeigt Methoden, beide zu retten.»

«Unnatürlich sage ich!», wiederholte der Abbé.

«Wenn Ihr Euch ein Bein brecht, ist es unnatürlich, es zu richten? Wollt Ihr dann lieber, dass man es so zusammenwachsen lässt, wie es gebrochen ist, und als Krüppel durchs Leben gehen?», gab Carolus zu bedenken.

«Aber …»

«Wenn Euch eine Schlange beißt, soll man Euch dann eines natürlichen Todes sterben lassen, der übrigens sehr schmerzhaft und langwierig wäre, oder soll man die Wunde reinigen und Euch einen ‹Hexentrank› geben, um Euch zu heilen? Hat nicht Gott in seiner Gnade, als er uns aus dem Paradies warf, gleichzeitig mit den Krankheiten auch die Kräuter dagegen wachsen lassen, auf dass wir uns ihrer bedienen und uns heilen?»

«Ja schon, aber …»

«Und was in dem Buch steht, ist auch gar nicht neu», fügte Carolus hinzu.

«Ist es nicht?»

«Nein, was hier steht, stammt von berühmten und erprobten Männern und von Hippokrates, dem größten aller Ärzte, nach dem wir uns heute noch richten», erklärte der junge Arzt.

«Er lebte in dunklen Zeitaltern, da Christus noch nicht geboren war, doch ich gebe zu, dass seine Ethik so hochstehend war, dass man sie ohne weiteres auf unser christliches Gedankengebäude übertragen kann. Thomas von Aquin hat das gesagt.»

«Da seht Ihr es. Und wenn ich Euch nun schwöre und versichere, dass in dem Buch nichts als anerkannte Kuren für Frauenleiden stehen, nichts, aber auch absolut gar nichts, was dem hippokratischen Eid widersprechen würde, wollt ihr die Sache dann fallenlassen und es mir zurückgeben? Diese Gebba ist doch nur ein unwissendes Weib, das alles falsch verstanden hat», sagte Carolus.

Kein Zauberbuch? Wie schade. Doch Abbé Grégoire gab sich geschlagen. Er hatte wenig Lust, als Trottel dazustehen.

«Es bleibt allerdings noch die Angelegenheit mit dem verschwundenen Kind. Dass Laura Vidal ihr Kind selbst hat verschwinden lassen, ist ja wohl ausgeschlossen. Es ist ehelich, und die beiden haben sich so sehr darauf gefreut», fing der Abt wieder an.

«Das ist wahr, Hochwürden. Das glaube ich auch nicht. Ebenso wenig denke ich aber, dass die Beginen die Hand im Spiel hatten», entgegnete Carolus.

«Das werden wir noch feststellen.»

«Herr Marius sagt, er habe das Kind im Arm gehalten, und es sei gesund gewesen.»

«Wo ist es dann? Für mich bleibt da nur Hexerei!» Abbé Grégoire war wieder in seinem Element.

«Erlaubt mir bitte, dass ich mich weiter umhöre in der Stadt», bat Carolus bescheiden.

«Wie Ihr wünscht. Ich verstehe schon, dass Ihr diese Begine reinwaschen wollt. Mestre Marius hat ebenfalls für sie gesprochen. Doch wenn der Säugling nicht bald gefunden wird, dann werden wir die drei Frauen befragen müssen, allen voran natürlich diejenige, die einen so zweifelhaften Ruf hat.»

«Ja, das verstehe ich. Ich bitte Euch nur um der Gerechtigkeit willen: Lasst mir noch einen Tag Zeit, um die Wahrheit herauszufinden. Ihr wollt doch keine Unschuldige foltern lassen. Als Arzt habe ich oft die Folgen solcher Befragungen gesehen, und sie waren nicht rückgängig zu machen, selbst wenn sich anschließend die Unschuld der Beschuldigten erwies.»

«Ein Tag, Medicus!»

Carolus verbeugte sich, schnappte sich das Buch und verließ den Abbé.

«Keiner darf hinein und keiner darf hinaus», sagten die Wachen am Tor von Sainte Douceline. Besorgt betrachtete Carolus die Scharten in der Tür und die Beschädigungen am Mauerwerk. «Aber ich darf ja wohl durch die Tür mit ihnen sprechen.»

«Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist. Da müsst Ihr erst unseren Hauptmann fragen.»

«Ach was! Abbé Grégoire hat mich selbst damit beauftragt, Nachforschungen anzustellen. Also geht schon beiseite. Ich gehe auch nicht hinein.»

«Ja, wenn das so ist.» Sie rückten ein Stück beiseite und ließen Carolus gewähren. Er pochte ans Tor. Drinnen hörte man es rappeln. Dann fiel etwas um. Das Guckfenster ging von innen auf.

«Wer da?» Ein Auge war zu sehen. «Ach, du bist es, Carolus. Das ist ja eine schöne Bescherung, die man uns da eingebrockt hat, nicht wahr?» Es war unverkennbar die raue Stimme von Alix.

«Und wie geht es euch da drinnen?», fragte Carolus.

«Gut so weit. Es ist genug zu trinken da. Und zu essen haben wir auch. Aber sie haben sich überworfen!»

«Wer?»

«Na, alle. Wegen Danielle. Juliana und Gebba sprechen nicht mehr miteinander, und unser ganzes Haus ist in zwei Lager geteilt. Es ist schrecklich, Herr Carolus!», seufzte Alix.

«Das tut mir leid, und es ist auch dumm! Aber, Alix, jetzt sei so gut und hole mir Jeanne. Ich muss einen Augenblick mit ihr reden», bat der junge Arzt.

«Warte.» Das Fensterchen schloss sich. Wenig später öffnete es sich wieder, und Jeannes Stimme war dahinter zu hören.

«Carolus, dem Himmel sei Dank! Das Büchlein, das du mir gegeben hast …»

Er hielt es vor das Guckfenster, sodass sie es sehen konnte. «Schon gut. Erledigt. Ich habe es dem Abbé abgeschwatzt. Habe ihm gesagt, dass es mir gehört. Wie geht es Danielle?»

«Ach herrje, das weißt du natürlich auch noch nicht! Wir haben es bis jetzt geheim gehalten. Sie ist fort!»

Carolus fühlte, wie seine Knie nachgaben.

«Nein! Wann? Wie?»

«Gestern Abend hat sie noch ihren Bildteppich fertig gewebt und abgekettelt – ich wünschte, ich könnte ihn dir zeigen, es wird einem so vieles deutlich, wenn man ihn betrachtet! In der Nacht ist sie dann über die hintere Mauer geklettert und entwischt. Ich kann es ihr nicht verübeln, so wie die Dinge hier stehen. Dabei hat sie Laura gerettet oder mindestens das Kind. Es wäre ganz sicher nicht lebendig zur Welt gekommen, wenn Danielle nicht so beherzt gehandelt hätte. Sie ist eine fabelhafte Ärztin, weißt du das?»

«Ja, das ist mir inzwischen auch klar geworden. Was für ein verbohrter Dummkopf ich doch war! Da waren so viele Anzeichen, Andeutungen … Hat sie sich etwa erinnert, wer sie ist?»

«Ha! Erinnert! Alles hat sie uns erzählt, von Anfang an. Dass sie aus Neapel stammt und in Salerno Medizin studiert hat. Eine richtige Ärztin war sie, kannst du dir das vorstellen? Mit Lizenz und allem. Hat in Paris praktiziert, und da haben sie ihr eine Abtreibung angehängt, die sie gar nicht vorgenommen hatte. Haben sie geteert und gefedert und aus der Stadt getrieben. Als Bettlerin hat sie sich durchgeschlagen bis hier, bis Calixtus sie gefunden und zu uns gebracht hat!»

Er fühlte sich ein wenig vor den Kopf geschlagen. War er nicht ein vernünftiger und fortschrittlicher Mann? Warum nur hatte sie ihm nicht vertraut?

«Aber warum hat sie uns das verheimlicht?», fragte Carolus, der seine Enttäuschung nicht verbergen konnte.

«Hat sie gar nicht, oder nicht wirklich. So ganz habe ich das nicht verstanden. Na ja, jetzt ist sie wieder unterwegs, das arme Ding. Ich glaube, sie ist nicht aus Angst fortgelaufen, sondern weil sie nicht wollte, dass wir uns ihretwegen entzweien.»

«Aber man wird es für ein Schuldbekenntnis halten.»

«Ja. Das wird man. Aber ich war die ganze Zeit mit ihr im Zimmer. Ich kann auf die Bibel und zu allen Heiligen schwören, dass dem Kind nichts geschehen ist, solange wir da waren», sagte Jeanne fest.

Carolus hörte kaum noch zu. «Ich muss sie suchen!», sagte er.

«Danielle? Ja, und mit einem Pferd hast du gute Chancen, sie einzuholen. Sie ist zu Fuß und hat kein Geld. Aber vorher solltest du das Kind noch finden, wenn du kannst. Sonst wird es uns allen schlecht ergehen. Jemand aus der Nachbarschaft muss es genommen haben. Vielleicht jemand, der auf Marius neidisch war. Da gibt’s so einige!»

Der Büttel machte Anstalten, Carolus wegzuschieben.«Was flüstert ihr da miteinander? Genug! Nachher kriegen wir noch Schwierigkeiten.»

«Einen Moment noch! – Jeanne? Hat sie gesagt, wohin sie will?», rief Carolus Jeanne hinterher, die sich bereits zum Gehen gewandt hatte.

«Nein. Wir haben erst heute Morgen gemerkt, dass sie gegangen ist. Sie wird versuchen, sich an die Küste durchzuschlagen und dort ein Schiff nach Neapel zu besteigen. Sicher ist sie nach Marseille oder besser gleich nach Toulon. Mit welchen Mitteln sie die Überfahrt bezahlen will, das weiß der Himmel. Aber wenn ein Mensch ganz verlassen ist und alle seine Pläne und Ziele gescheitert sind, dann bleibt nur noch, dahin zurückzukehren, wo er herkommt, oder nicht?»

Carolus verspürte eine große Niedergeschlagenheit. Wie hatte ihm das nur passieren können! Sein ganzes bisheriges Leben hatte er in dieser Stadt verbracht, er kannte sie wie sein eigenes Haus, ihren Geruch, die wohlangelegten Gassen, die gelblichen Mauern aus Feldstein, die Kirchen, Türme und Palais. Es war ihm immer befriedigend vorgekommen, hier zu leben. Er hatte seinen Weg klar vor sich gesehen. Und plötzlich war alles anders. Das Sonnenlicht erschien ihm trüb, der Himmel ohne Farbe, die Straßen eng, die Stadt hässlich.

«Es ist alles nichts ohne sie», dachte er. «Warum habe ich das nicht schon früher erkannt?»

Er hatte mit sämtlichen Nachbarn gesprochen und in jedem Haus ein Glas Wein trinken und Oliven essen müssen. Sein Kopf dröhnte. Er war müde und ratlos. Keine Menschenseele wollte etwas gesehen haben. Dafür hatte er sich oft genug anhören müssen: «Die arme Catherine! Warum wollt Ihr sie denn nicht? Was ist denn vorgefallen?»

«Das ist nicht recht von Euch, junger Mann, die Verlobung so einfach zu lösen, nach so vielen Jahren!» Aber auch: «Recht hast du, mein Sohn. Soll sie doch flennen. Ein Mann sollte leben und sich nicht einfangen lassen. Du siehst, was es mir eingetragen hat: Rechnungen und einen Stall voll hungriger Kinder.»

Ohne genau zu wissen, warum, hatten ihn seine Wanderungen wieder vor das Palais Vidal geführt. Er stand auf der anderen Straßenseite und starrte eine lange Zeit hinüber. Die Dunkelheit fiel herab wie ein Vorhang. Carolus taumelte vor Müdigkeit. Er wollte sich schon auf den Heimweg machen, da zupfte ihn etwas am Ärmel. Er blickte herunter. Das war der kleine Junge aus der Küche, nicht wahr? Wie hieß er doch gleich: «Claude?»

«Psst!», machte der und wedelte mit der Hand: Ich bin nicht da. Du hast mich nicht gesehen. Er huschte voraus in einen Ziegenstall. Carolus folgte ihm. Wärme und die Geräusche vieler Tiere im Dunkeln empfingen ihn: Kauen und Mahlen, Niesen und Schnaufen, Blasen, Ohrenschütteln, Scharren und ein leises Klicken, wenn sich zwei Paar Hörner berührten. «Sie stinken nicht», fiel es Carolus auf. «Im Schafsstall stinkt es, im Kuhstall stinkt es, aber Ziegen riechen wie Pferde, sie verbreiten eine grasige Süße.»

«Hast du mir etwas zu sagen?», flüsterte er.

Der Junge zog geräuschvoll eine Ladung Rotz hoch und spuckte sie dann aus.

«Verzei’ng, Herr Mimikus, die Mudder schickt mich. Ihr müsst aber versprech’n, sie nicht zu verraten. Sie hat mir hier ’n Kreuz gegem. Das sollt Ihr in der rechten Hand halt’n und schwör’n, dass Ihr uns nicht verrat’n tut.»

Carolus tastete nach dem Kreuz, das ihm entgegengehalten wurde.

«Ich schwöre es und verspreche es. Nun heraus mit der Sprache. Sie hat was gesehen, stimmt’s?»

«Jo, meene Mudder hat geseh’n, wie die Herrin, die andre, die Cath’rin, wie die aus’m Haus gegan’ iss. Nachts.»

«In der Nacht.»

«Jo.»

«Nach der Geburt. Nachdem die Beginen gegangen waren.»

«Jo.»

Catherine! Kein Wunder, dass die Magd sich fürchtete, mit der Wahrheit herauszurücken, ihre eigene Herrschaft zu beschuldigen. Sie musste ja damit rechnen, auf die Straße gesetzt zu werden mit ihrem unehelichen Balg, und dann? Kein anständiges Haus würde sie mehr nehmen.

«Gut gemacht, Junge! Keine Angst. Von euch habe ich nichts erfahren. Jetzt zurück in die Küche mit dir!»

Die Stalltür ging auf wie von Geisterhand, und der kleine Schatten löste sich in den größeren Schatten der Hauswände auf.

Carolus wartete einige Zeit, um dem Jungen Gelegenheit zu geben, wieder durch die Hintertür in die Küche zu gelangen, wo man ihn zweifellos vermuten würde. Dann ging er zur Vordertür des Vidal’schen Hauses und klopfte.

«Herr Carolus, so spät?» Es war Belota, die Mutter des Jungen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie flehte ihn mit Blicken an. Er schloss ganz kurz die Lider und kniff die Lippen zusammen, dann drückte er ihren Arm.

Marius kam.

«Was steht ihr in der Tür herum. So lass ihn doch ein! Komm Carolus, hast du irgendwelche guten Nachrichten?»

«Ich hoffe, mein Lieber. Aber lass mich vorher mit Catherine sprechen – allein.»

«Na, hör mal, das ist aber ungewöhnlich. Allein?» Er forschte in Carolus’ Gesichtszügen und begann zu verstehen. «Catherine? Nein! Das ist nicht möglich! Sie liebt Laura.»

«Lass mich mit ihr reden, bitte. Es wird sich alles aufklären.»

Im Vorübergehen warf Carolus einen Blick in die Küche. Da saß der Junge am Tisch und löffelte Suppe. Er schaute ihn nicht an.

«Catherine?! Sie ist bei Laura. Sie kümmert sich aufopfernd um sie, tröstet sie, füttert sie – ich kann unmöglich glauben, was du da andeutest», sagte Marius.

Catherine erschien oben am Treppenabsatz.

«Was will er hier? Ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen.» Sie wandte sich ab und ging in ihr Zimmer. Carolus war in drei Sätzen die Treppe hinauf und stieß die Tür auf.

«Was fällt dir ein?! Marius, hilf mir!»

Marius rührte sich nicht.

«Catherine, liebe Catherine», sagte Carolus leise. «Höre auf mit diesem scheußlichen Spiel. Ich weiß, was du getan hast. Man hat dich weggehen sehen.»

«Das ist nicht wahr! Wer will mich gesehen haben? Lügen!», schrie sie.

«Catherine, hör auf damit. Es ist meine Schuld, nicht deine. Ich verstehe dich ja. Ich habe dir wehgetan. Verzeih mir. Ich tue, was immer du willst, aber sag, wohin du das Kind gebracht hast, denn dass du es umgebracht hast, das kann ich nicht von dir denken. Dazu bist du nicht fähig», bat Carolus.

Da brach Catherine zusammen.

«Ich habe es zu einer Milchamme gebracht. Es geht ihm gut», schluchzte sie. «Ich wollte das nicht. Ich habe nicht nachgedacht! Ich wollte …»

«Ich weiß, was du wolltest, aber nun sage mir schnell, wo es ist! Wo ist das Kind deiner Schwester?»

«In der Rue Basse beim Turm Saint Jacques. Die Frau heißt Bianca.»

Carolus stürzte hinaus, Marius ihm nach. Die beiden Männer eilten durch die Straßen. Das Kopfsteinpflaster hallte wider von ihren Schritten.

«Wie konnte sie das tun? Warum?», stieß Marius hervor.

«Morgen. Ich erkläre alles morgen. Jetzt – das Kind.»

Die Rue Basse war eine schmutzige kleine Gasse, «basse», niedrig, untere Gasse genannt, weil der Hügel hier stark abfiel und der Weg steil nach unten auf die Stadtmauer zuführte. Unrat lag auf dem Pflaster. Marius fiel über ein schlafendes Schwein und schlug lang hin. Carolus hämmerte an eine beliebige Tür.

«Wo wohnt Bianca?!», rief er.

Es rappelte drinnen, und jemand knurrte: «Das letzte Haus vor der Mauer auf der linken Seite. Und jetzt geht zum Teufel!»

Gerade noch konnte Carolus zur Seite springen, da wurde oben der Inhalt eines Nachttopfes aus dem Fenster geleert.

«Danke für die freundliche Auskunft!»

Sie fanden die Tür und polterten dagegen.

«Aufmachen! Sofort aufmachen!», schrien sie.

«Geht weg und kommt am Morgen wieder, wenn ihr ehrliche Leute seid!», schallte es ihnen entgegen.

«Frau Bianca? Ich bin es, Marius Vidal. Ihr habt mein Kind, das mir gestohlen wurde. Wenn Ihr es nicht sofort herausgebt, dann komme ich mit der Stadtwache wieder und lasse sie die Türe eintreten, Euer Haus anzünden und Euch einsperren.»

«Genug! Genug! Ich geb dir das Balg!» Die Tür öffnete sich, und eine gewaltig fette, ungepflegte Person schaute heraus im Licht einer Talgkerze. Sie stank nach billigem Wein. Marius stieß sie beiseite. Im schwachen Licht der Kerze sah er eine Menge Leiber auf der Erde liegen, Kinder in den verschiedensten Größen.

«Anzeigen sollte man dich! So versorgt man doch keine kleinen Kinder!», schrie Marius außer sich.

«Erbarmen, Moussen!», jammerte die Milchamme. «Von irgendwas muss man ja leben. Es geht ihnen nicht schlecht bei mir, ich schwör’s! Das da, das ist deines oder jedenfalls das, was die Frau mir gebracht hat vor zwei Nächten. Aber das Geld gebe ich nicht wieder heraus!»

«Behalt das Geld!» Marius ging zu der Ecke, die sie ihm gezeigt hatte. Da lag in einem Weidenkorb auf einem Haufen Lumpen ein männlicher Säugling. Er schlief und sah recht zufrieden aus. Als Marius ihn hochnahm, fing er zu plärren an, tief und laut.

«Gerade war er eingeschlafen, dieser Schreihals. Nimm ihn bloß mit!»

Marius wiegte das Kind ungeschickt in seinen Armen. «Mein Sohn, mein Sohn! Ich erkenne seine Stimme!»

Den ganzen Heimweg lang brüllte der Säugling. Über ihnen gingen die Fensterläden auf, und die Leute schimpften.

«Ruhe, verflucht nochmal!»

«Bringt das Balg zum Schweigen, oder ich stopfe ihm den Hals!»

«Habt ihr kein Bett?!»

«Was soll denn der Lärm?»

«Kinderquäler!»

Aber Marius ließ sich nicht stören. Er tanzte und wiegte das Kind und schrie: «Hört ihr ihn? Das ist mein Sohn! Hat er nicht eine kräftige Stimme?! Das wird mal ein großer, starker Mann!»

«Wir hören ihn!», hieß es. «Haut bloß ab.»