Toulon stank nach Fisch und verrottenden Algen, und die Gassen waren eng und gewunden. Es waren hauptsächlich Fischer und Soldaten, die den Reisenden begegneten. Fischer in blauen Kitteln, Soldaten in Wämsern aus gehärtetem Leder, mit Gold und Prunk aus aller Herren Länder behangen. Darunter schauten bunte Strümpfe und mächtig ausgestopfte Schambeutel hervor, geschlitzte Ärmel und seidene Hemden, weiß oder in grellen Farben. Träger ächzten unter den Waren, die sie zum Hafen oder aus dem Hafen zu den Speichern der Handelshäuser schleppten: Korn und getrocknetes Gemüse, Käselaibe, Zwieback, Zwiebelzöpfe, Knoblauchketten, Fässer mit Süßwasser und Wein, Leinwandballen, kuriertes Leder, neue Hanfseile, lebende Hühner und Zicklein. Schweine zerrten sie hinter sich her, um die ausfahrenden Schiffe zu verproviantieren. Und brachten Kupfer und Zinn aus der Levante, Weihrauch, Alaun, Gewürze, Zucker, ägyptisches Leinen, fremdartige Töpferwaren, Glaswaren und Seide. Für all diesen Überfluss hatte Carolus keinen Blick. Rücksichtslos bahnte er sich seinen Weg durch die Menge. Calixtus folgte ihm und entschuldigte sich ununterbrochen bei den beiseite Gerempelten: «Verzeiht, Exzellenz! Entschuldigt meinen Begleiter, meine Herren, habt Nachsicht, entschuldigt! Wir haben es sehr eilig! Es geht um Leben und Tod!»
«Wir haben zwei Beginen in Gewahrsam. Man hat sie in Roquebrussanne beim Predigen erwischt», sagte man ihnen am Gefängnis von Toulon. «Aber wir sind nicht befugt, Euch zu ihnen zu lassen. Wendet Euch an den Inquisitor Eberhardus im Palais des Bischofs! Der hat sich, soviel wir wissen, dieser Frauen angenommen.»
Zurück ging die ganze Drängelei, quer durch die halbe Stadt: «Verzeihung, Madame. Entschuldigt, meine Herren!» Am Bischofspalast wollte man sie zunächst nicht einlassen: «Welchen Inquisitor meint Ihr? Wir haben mehrere davon», fragte der Bruder Pförtner.
«Man sagte uns, Eberhardus bearbeite die Fälle, die uns angehen», antwortete Calixtus höflich.
«Eberhardus … Eberhardus … ja, der ist hier. Aber er ist sehr beschäftigt. Ihr müsst einen Termin machen mit seinem Sekretär, und der ist heute nicht im Hause. Kommt morgen wieder. Dann könnt Ihr den Inquisitor eventuell schon nächste Woche sehen.»
«Nächste Woche?», schrie Carolus außer sich vor Zorn und Ungeduld. «Das geht nicht! Ich bin ein Ketzer und wünsche heute zu gestehen. Sofort! Und nur dem Herrn Eberhardus! Sonst überlege ich es mir anders! Mein Fall hängt mit den Beginen zusammen.»
Calixtus stieß Carolus den Ellbogen in die Rippen.
«Nicht übertreiben, junger Freund!», raunte er.
«Und was Ihr?», fragte der Pförtner Calixtus.
«Ich bin ein wichtiger Zeuge in der Sache. Ich habe hier ein Schreiben des Erzbischofs von Aix für den Inquisitor. Da seht: sein Siegel!»
Der Pförtner kniff kurzsichtig die Augen zusammen und beugte sich über das Siegel auf dem Pergament, das Calixtus ihm vor die Nase hielt. Er wollte schon danach greifen, da zog Calixtus es ihm wieder weg. Der Bruder Pförtner schüttelte misstrauisch den Kopf. «Das ist alles sehr verdächtig, diese Eile. Und eine Selbstanzeige? Der Erzbischof von Aix? Was hat der damit zu tun?»
«Das können wir nur dem Herr Eberhardus selbst sagen. Aber wenn er keine Zeit hat, dann gehen wir eben wieder», sagte Calixtus und wandte sich zum Gehen.
«Wartet hier! Ich werde den Herrn Inquisitor verständigen», hielt der Pförtner ihn zurück. Er winkte einem Söldner, der sich Calixtus und Carolus in den Weg stellte. Langsam schlurfte er davon.
Nach kurzer Zeit kam er wieder, diesmal ganz dienstfertig und eilig.
«Ihr habt Glück! Der Herr Inquisitor hat sofort Zeit für Euch! Aber wehe Euch, wenn Ihr gelogen habt und nur seine Zeit verschwendet! Kommt, hier entlang.»
Er führte sie durch eine Seitentür der Eingangshalle und eine Wendeltreppe hoch in ein Turmzimmer, dasselbe, in dem Danielle und Barbara verhört worden waren.
Eberhardus erhob sich hinter seinem Schreibtisch.
«Danke. Es ist gut.» Er bedeutete dem Bruder Pförtner, der neugierig stehen geblieben war, sich zu entfernen.
«Das Dokument!» Eberhardus streckte gebieterisch die Hand aus, als sich die Tür von außen geschlossen hatte.
Calixtus übergab ihm den Brief des Erzbischofs und neigte den Kopf.
«Ich muss Euch demütigst um Nachsicht bitten. Das Dokument betrifft den vorliegenden Fall nur am Rande. Doch wenn es sich tatsächlich um die Begine aus Pertuis handelt, dann dürfte sie in die Zuständigkeit von Aix fallen.»
«Und Ihr, guter Mönch? Was habt Ihr mit einer Ketzerin zu schaffen?», fragte der Inquisitor.
«Sie ist keine Ketzerin. Das glaube ich nie und nimmer. Ich kenne sie. Sie hat still und fromm in dem Beginenhaus von Pertuis gelebt und sich nie das Geringste zuschulden kommen lassen», entgegnete Calixtus. Doch er war sich nicht ganz sicher und kreuzte vorsichtshalber die Finger hinter dem Rücken. ‹Lieber Gott, verzeih mir, wenn es nicht stimmen sollte. Ich lüge zu einem guten Zweck!›, dachte er.
«Wie war der Name? Danielle? Ich habe nie etwas von einer Danielle gehört. Allerdings waren die Beginen ursprünglich zu viert. Eine ist entkommen, eine andere getötet worden.»
Carolus erstarrte. In seinen Ohren dröhnte es, und sein Herz fühlte sich an wie gefroren. «Getötet?», stammelte er.
«Bitte, sagt mir, wie die zwei Beginen aussehen, die ihr in Gewahrsam habt», forderte Calixtus.
Eberhardus dachte nach. «Eine ist etwas kleiner und breiter, mit aschfarbenem Haar. Die andere ist groß, schlank und hat kurze braune Locken – ah, und Brandnarben am Hals.»
«Sie ist es!», jubelte Carolus. «Halleluja! Sie lebt!»
«Ja, es muss sich um die handeln, die wir suchen», sagte Calixtus. «Wie gesagt: Sie ist harmlos und steht unter dem Schutz des Erzbischofs. Sie ist Gärtnerin.»
«Gärtnerin? Das sieht diesen verlogenen Häretikern ähnlich. Sie tun harmlos und geben sich als alles Mögliche aus, um dann still und heimlich Streit unter den Gläubigen zu säen. Übrigens hat sie auch einen anderen Namen angegeben.» Eberhardus suchte in einem Stapel Pergamente auf seinem Tisch. «Ah, hier habe ich es: Alessa di Rugieri, so hat sie sich genannt.»
«Daran seht ihr, wie ehrlich sie ist», beeilte sich Calixtus zu erklären, «sie hat Euch ihren Geburtsnamen gegeben statt nur den angenommenen, den sie im Beginenhaus getragen hat.»
Eberhardus war davon nicht beeindruckt. «Mag sein. Dennoch hat sie zugegeben, ein ketzerisches Werk kopiert und verbreitet zu haben. Macht Euch also nicht die Mühe, sie zu verteidigen. Das Werk liegt uns vor. Die Handschrift wurde überprüft. Sie stimmt mit der ihren überein. Der Fall ist also abgeschlossen.»
«Aber ich kann es beschwören, Exzellenz! Sie war wirklich Gärtnerin – in einem Heilgarten. Und sie hat sich still und ordentlich betragen, solange sie in Pertuis gelebt hat», rief Calixtus.
«Still und ordentlich hat sie diese Ketzerbibel kopiert, das steht fest», entgegnete Eberhardus trocken.
Calixtus seufzte. «Ich weiß, dass im Beginenhaus von Pertuis eine Kopie des ‹Spiegels› existierte. Die Ideen darin waren ja durchaus verführerisch und denen des heiligen Bernhard im Kern nicht unähnlich. Deshalb wohl haben sich zwei oder drei der Frauen dort – diejenigen, die lesen können – damit befasst. Es hat sie gefreut, dass eine von ihnen sich mit einer solchen Schrift hervorgetan hat, dass die Beginen etwas Eigenes haben sollten. Verwerflicher Stolz, gewiss, aber doch verständlich. Als sie hörten, dass es verboten wurde, da haben sie das Buch verbrannt. Sie haben gefehlt, doch sie haben ihr Fehlverhalten eingesehen. Sollte man ihnen nicht die Gelegenheit zur Besserung geben? Und Danielle hat selbst keine andere Sünde begangen, als sich nicht von einem Buch trennen zu können. Sie hat es doch nicht selbst verfasst, sondern sich nur davon verführen lassen. Wenn Ihr sie hinrichten lasst, dann ist die Gelegenheit zur Umkehr verstrichen und die Seele für immer verloren», sagte Calixtus.
«Habe ich nicht gesagt, Ihr sollt sie nicht zu verteidigen suchen? Ihr seid ein guter Advokat, Mönch, doch dafür ist es jetzt zu spät», sagte Eberhardus. «Die Begine Barbara wird morgen auf der Place Sainte-Marie verbrannt.»
Carolus zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
«Und Danielle? Sie wollte gewiss nichts Böses tun. Bitte, habt Gnade! Tötet sie nicht! Ich will sie heiraten!»
«Ihr seht», sagte Calixtus, «diese Danielle – oder Alessa – ist nur ein einfaches, fehlgeleitetes Weib, nicht einmal eine richtige Begine. Dieser gute Christ ist gewillt, sie zur Frau zu nehmen, und wird für ihr Wohlverhalten bürgen.»
Carolus nickte eifrig und dachte bei sich: ‹Nur gut, dass sie das nicht hört. Sie ist gewohnt, allein ihr Leben zu meistern. Sie würde es übelnehmen, wenn man ihr zumutete, von meiner Bürgschaft und meiner Aufsicht abhängig zu sein. Wenn sie mich überhaupt will.›
Eberhardus erbrach das Siegel des Erzbischofs und las das Schreiben.
«Unter seinem Schutz? Und Ihr seid zu ihrem Beichtvater und Aufseher bestellt, Bruder … äh … Calixtus?», fragte er erstaunt.
«Das ist richtig.»
«Bitte, gebt uns Danielle heraus. Sie ist eine gute Frau, und ich liebe sie von ganzem Herzen!», flehte Carolus.
Mit ehrlichem Bedauern gab Eberhardus dem Mönch den Brief zurück. «Ja, dass sie keine gänzlich verhärtete Sünderin ist, das habe ich ebenfalls erkannt. Neugierig, ja, wie alle Weiber. Verwirrt, aber nicht böswillig. Wir sind keine Unmenschen! Aber es ist zu spät. Wir haben sie zur Deportation nach Neapel verurteilt. Sie hat gesagt, dass sie von dort gekommen ist.»
«Zur Deportation? Lässt sich das nicht rückgängig machen? Könnt Ihr sie uns nicht herausgeben?», bettelte Carolus.
«Das würde ich gern, mein Sohn. Wirklich von Herzen gern. Die Liebe ist eine große Wohltäterin und geeignet, jeden Menschen zu bessern. Aber die Begine ist nicht mehr in unseren Händen. Sie ist auf einem Schiff, das in diesem Moment abgelegt hat.»
«Nein!», schrie Carolus. Er drehte sich um, riss die Tür auf und stürzte hinaus.
«Verzeihung!», sagte Calixtus zum wohl hundertsten Mal an diesem Morgen und folgte seinem Freund.
«Ach, wärt Ihr doch nur ein wenig früher gekommen», seufzte der Inquisitor. «Wie würde ich mich freuen, wenn einmal eine Sache zu einem guten Ende käme.»
Calixtus bahnte sich seinen Weg zum Hafen. Die Häuser wurden ärmlicher und niedriger, je näher er an sein Ziel kam, aus Lehm gebaut und mit Schilf gedeckt. Der Fischgeruch wurde intensiver. Netze mit Korkstücken daran und geflochtene Reusen hingen zum Trocknen an den Fassaden. Hie und da sah man Innenhöfe, in denen Frauen und Kinder Fische einsalzten oder Purpurschnecken aufschlugen, um deren kostbare Farbdrüse zu gewinnen. Die Männer, soweit sie nicht mit ihren Nachen auf See waren, saßen vor ihren Hütten, flickten Netze und flochten Körbe und Reusen aus Rohr. Wenn er Zeit und einen Blick dafür gehabt hätte, dann hätte er staunen können über die vielartigen Formen der geflochtenen Reusen: Es waren bauchige Körbe darunter, flache Schüsseln mit eingewobenen Deckeln darauf, spitz zulaufende Schläuche, eckige Käfige und Hohlringe, je nach den Gewohnheiten und dem Lebensraum der Kreaturen, die darin gefangen werden sollten: Krebse, Muscheln, Tintenfische, kleine oder größere Fische, Aasfresser oder Jäger.
Endlich öffnete sich die Gasse und gab den Blick auf den Hafen frei. Er lag in einer Bucht, die nur von Osten befahrbar, im Südwesten aber von einer Insel begrenzt war. Das Hafenbecken war vertieft und ausgehoben worden, das Ufer mit einer doppelten Reihe mächtiger Holzplanken befestigt. Zu den Rändern der Bucht hin gingen die Planken in Sandstrand und groben Kies über. Mit leisem Rauschen und Klickern schoben die Wellen den Kies über den Sand, bewegten die Gehäuse toter Muscheln, warfen abgerissene Seegräser und sterbende Quallen ab, ein ermüdendes ewiges Spiel. Kleine bläuliche Strandkrabben ließen sich ans Ufer tragen und rasten seitwärts durch den Sand auf Beutesuche. Möwen taten sich an Fischeingeweiden gütlich und stritten sich, als sei nicht genug da.
Zwei große Schiffe lagen im Hafenbecken vor Anker, ein bauchiges Handelsschiff aus dem Norden und ein Kriegsschiff, eine Dromone. Ruderboote verkehrten zwischen ihnen und dem Ufer, um Waren und Passagiere zu transportieren.
Wild schaute Carolus zwischen den beiden Schiffen hin und her.
«Welches ist es? Welches fährt nach Neapel?!», schrie er einem der Ruderer zu.
Der deutete mit dem Kopf hinaus auf das Wasser. Dort, wo zwei Wehrtürme die engste Stelle der Bucht kontrollierten, bevor es durch die zweite, größere Bucht hinausging aufs offene Meer, da sah man eine zweimastige Nau entschwinden.
Carolus stand mit hängenden Armen und schaute dem Schiff hinterher.
Calixtus stellte sich neben ihn. Zusammen sahen sie zu, wie das Schiff die Durchfahrt passierte. Die Segel waren schlaff und flatterten im Wind, bis das Schiff an den Felsen vorübergeglitten war. Dann blähten sie sich auf, und die Nau nahm Fahrt auf.
Carolus fuhr sich mit der Faust über die Augen.
«Du kannst zurück nach Pertuis. Ich folge ihr nach Genua, nach Rom, bis nach Neapel. Ich folge ihr bis ans Ende der Welt», murmelte er.
«Ist das nicht ein wenig übertrieben? Du weißt doch nicht einmal, ob sie dich haben will. Hat sie dir denn überhaupt Hoffnungen gemacht?»
«Sie hat sich mit mir gezankt», sagte Carolus geistesabwesend.
«Aha. Ein Anzeichen größter Zuneigung!», spottete Calixtus.
«Wenn ich ihr egal wäre, dann hätte sie sich nicht so mit mir gestritten», beharrte Carolus. «Sie war so wütend, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und wenn ich nicht so vernagelt gewesen wäre, dann hätte ich sie dort gleich gefragt, ob sie meine Frau werden will. Ja, das hätte ich tun sollen. Stattdessen war ich gekränkt und bin fortgegangen. Und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Als sie mich gebraucht hätte, da war ich nicht da. Ich habe sie im Stich gelassen. Das ist die Erinnerung, die sie nun von mir haben wird. Es ist schrecklich, verstehst du das nicht?»
Die Wellen fuhren unbeteiligt mit ihrem Spiel fort. Die Nau verschwand hinter dem Cap Carqueiranne und der Festung. Dort drehte sie bei und folgte dem Küstenverlauf gen Westen, vorbei an den vielen kleinen Fischernestern, die wie Perlen aufgereiht lagen in ihren Pinienwäldern, im Schilfgestrüpp und zwischen den Feigenkakteen, bewacht und überragt von den rosigen und goldenen Hängen des Massif des Maures. Sie war fort. Der Horizont war weit und leer.
Carolus ließ sich in den Sand fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Er weinte.
Calixtus stand hilflos daneben. Ein paar Schritte entfernt kam wieder eines der kleinen Ruderboote heran. Er hörte, wie die Ruder scharrend eingezogen wurden und auf den hölzernen Boden rumpelten. Das Boot glitt auf den Sand und kam mit einem Ruck und einem Knirschen zum Stehen. Eine Gestalt sprang heraus. Calixtus schaute kurz in die Richtung und wieder fort. Es war ein einzelner Matrose.
Der Mann näherte sich, blieb vor Carolus stehen und sagte mit Danielles Stimme:
«Weinst du etwa meinetwegen? Nun fange ich wirklich an zu glauben, dass du mich liebst.»
Es war tatsächlich Danielle! Sie trug weite Kniehosen und einen Kittel und hatte das Haar unter einer Mütze versteckt.
Carolus sprang auf und schaute sie an wie eine Erscheinung. «Danielle! Du fängst an zu glauben …? Was muss ich noch tun, Weib, soll ich mir das Herz aus der Brust reißen und es dir in die Hände legen? Wenn es möglich wäre, weiß der Himmel, ich würde es tun!»
«Behalt dein Herz. Es ist dort gut aufgehoben, wo es ist. Solange es für mich schlägt», sagte sie zärtlich.
«Wie? Hatten wir nicht festgelegt, dass die Seele in der Lunge wohnt?», mischte sich Calixtus ein, der ein breites Grinsen nicht unterdrücken konnte.
«Nein. Sie ist im Herzen. Ich spüre es ganz genau», sagte Carolus. Er zog Danielle in seine Arme und ließ sie eine sehr lange Zeit nicht los. «Aber wie bist du entkommen?», fragte er endlich.
«Der Kapitän kannte meinen Vater. Sie haben schon oft Geschäfte miteinander gemacht. Und so habe ich auch erfahren, dass meine Familie noch lebt. Sie werden ihnen meine Grüße überbringen und ihnen sagen, dass es mir gutgeht.»
«Warum bist du zurückgekommen? Hast du uns erkannt?»
«Ja», sagte sie. «Ja! Ich habe zum Ufer geschaut und Lebewohl gesagt. Ich habe mich ganz verlassen gefühlt, und da habe ich dich am Strand stehen sehen.»
«Von dort draußen hast du mich erkannt? Was, wenn ich es nicht gewesen wäre?»
«Ich würde dich überall erkennen, Carolus. Und da habe ich den Kapitän gebeten, mich zu dir zu lassen.»
«Aber er macht sich eines Verbrechens schuldig, wenn er einer verurteilten Ketzerin hilft», sagte Calixtus.
«Pah, Verbrechen! Er ist Neapolitaner, dieser Kapitän. ‹Es ist ein viel größeres Verbrechen, Liebende zu trennen›, hat er gesagt. Er hat mir eines der Beiboote gegeben – das er meinem Vater sicher in Rechnung stellen wird –, und nun bin ich hier», lachte Danielle.
Calixtus schüttelte den Kopf. Diese Neapolitaner waren doch ein loses Volk! «Müsstest du nicht ein Büßerhemd tragen mit einem gelben Ketzerkreuz darauf?»
Übermütig vor Erleichterung raffte Danielle die weiten Hosen und machte ein paar Tanzschritte im feuchten Sand. «Das scheußliche Büßerhemd, das durfte ich gleich ablegen, als ich an Bord kam! Ein französischer Papst, der nicht einmal in Rom lebt, der hat bei uns nicht viel zu sagen», rief sie.
«Danielle!», rief Carolus und kniete vor ihr. «Ehe wieder irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht: Willst du meine Frau werden?»
«Ach, Carolus», sagte Danielle. «Du glaubst, ich sei so sanft und beherrscht, wie du mich als Begine kennengelernt hast. Aber du ahnst ja nicht, was es mich gekostet hat, wie sehr ich mich bemüht habe, eine andere zu sein, als ich bin. In Wirklichkeit habe ich ein schreckliches Temperament!»
«Ich weiß, ich weiß!», rief Carolus ungeduldig. «Aber wenn ich eine sanfte Frau gebraucht hätte, dann hätte ich ja Catherine nehmen können.»
Für die Dauer eines Wimpernschlages zogen sich Danielles Augenbrauen wieder zusammen, doch dann lachte sie auf: «Also gut: Du weißt, was du bekommst. Und – natürlich will ich!»
«Calixtus! Traue uns! Hier und jetzt! Nach allem, was geschehen ist, will ich keinen Augenblick mehr warten.»
«Ich auch nicht», sagte Danielle.
Calixtus strahlte über das ganze stoppelige Gesicht. «Das gefällt mir. Dann schenken wir uns jetzt die langen Vorreden und kommen gleich zum Wesentlichen. Wir sind schließlich lange genug in der Weltgeschichte herumgerannt. Also: Willst du, Carolus, diese hier anwesende … wie war der Name, den du Eberhardus gesagt hast?»
«Alessa, Alessa di Ruggieri, aber bleiben wir ruhig bei Danielle», entgegnete sie.
«Das mag auch besser sein, weil Alessa di Ruggieri als Ketzerin in den Archiven der Inquisition geführt wird. Also, willst du, Carolus, diese hier anwesende Danielle von Salerno zur Ehefrau nehmen und sie lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?»
«Ja, ich will», sagte er laut und vernehmlich.
«Und willst du, Danielle, diesen hier anwesenden Carolus von Pertuis zu deinem Ehemann nehmen, ihm gehorchen, ihn lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?»
«Ja, aber ich werde dir nur gehorchen, wenn es vernünftig ist», sagte sie an Carolus gewandt.
«Wir werden uns schon einigen, ich liebe dich doch», sagte er.
«Ja, ja, das sagen sie alle am Anfang. Aber warte nur, bis wir länger verheiratet sind und uns streiten.»
«Ich schwöre …», setzte Carolus an.
«Na, na! Was ist denn das für eine Antwort? Es heißt nicht: Ja – aber. Es heißt ja oder nein. Willst du ihn nun haben oder nicht?», protestierte Bruder Calixtus.
Danielle lachte. «Ja, natürlich will ich.»
«Amen. In Pertuis macht ihr das Ganze lieber nochmal feierlich und offiziell, weil es mir der Abbé sonst ewig nachtragen wird. Und Carolus, deine Mutter will sich ihr Vergnügen auch nicht nehmen lassen. Aber vor Gott seid ihr jetzt Mann und Frau.»
Einige Leute am Kai schauten herüber und wunderten sich über das, was sie da sahen: ein Mönch, ein Matrose und ein junger Geck, was machten die da bloß? Und jetzt küsste der Matrose den Mönch! Sie schüttelten die Köpfe: «Was sind das bloß für sittenlose Zeiten? Früher hat es das nicht gegeben.»
«Ach, Calixtus, ich freue mich so, und ich bin auch so froh, dass gerade du hier bei uns bist», jubelte Danielle.
Calixtus’ Wangen waren ein wenig gerötet. «Wenn ich mir vorstelle, ich sollte das Grégoire beichten», sagte er versonnen.
«Wie habt ihr mich nur gefunden?», fragte sie neugierig. Sie erzählten ihr alles, auch von dem Gespräch mit dem Inquisitor.
«Barbara! Können wir denn gar nichts für sie tun?», rief Danielle erschrocken.
«Nein. Nichts. Und es wäre besser, wenn wir so rasch wie möglich die Stadt verließen», drängte Calixtus.
«Nein», sagte sie. «Zumindest will ich dabei sein, wenn sie auf den Scheiterhaufen geführt wird. Das bin ich ihr schuldig. Wenigstens ein freundliches Gesicht soll sie sehen.»
«Das geht nicht! Sie würden dich erkennen», rief Carolus.
Danielles Miene wurde hart und entschlossen. «Ich bleibe und begleite sie auf ihrem letzten Gang. Davon könnt ihr mich nicht abbringen!»
«Eben gerade hast du mir Gehorsam geschworen, und schon widersetzt du dich mir?» Carolus hob ein wenig die rechte Hand in seinem Eifer und Schrecken. Danielle schlug sie ihm herunter. «Da, siehst du! Wenn du denkst, dass ich keinen eigenen Willen habe, dann täuschst du dich gewaltig. Diese Art von Gehorsam bekommst du von mir nicht. Und eines sage ich dir gleich: Lass dir niemals einfallen, mich zu schlagen. Ich schlage zurück.»
«Das wird ja eine interessante Ehe werden», mischte Calixtus sich ein. «Nimm doch Vernunft an. Es ist zu gefährlich. Wenn sie dich erkennen, dann giltst du als Ketzerin, die sich ihrer Strafe entzogen hat, und dann ist es aus mit dir. Für Barbara kannst nichts mehr tun. Aber für Carolus hier. Er ist dir so weit gefolgt, er hat alles daran gesetzt, dich zu finden und zu gewinnen. Willst du das alles jetzt aufs Spiel setzen wegen einer, die ohnehin sterben muss?»
Danielle ergriff Carolus’ Hände. «Verstehst du nicht? Mir ist doch das Gleiche zugestoßen wie Barbara. Ich wurde zwar nicht umgebracht, aber ich werde nie vergessen, wie das war: allein, von allen geschmäht, gehasst, mit Schmutz und mit Steinen beworfen. Die Blicke, das Gebrüll der Meute, du weißt nicht, wie das ist. Ich muss bei ihr sein, ich muss!»
Zerrissen sah Carolus sie an: «Ich verstehe dich ja. Aber ich will dich nicht verlieren!»
«Also gut. Vielleicht gibt es einen Weg», sagte Calixtus. «Wir könnten ein Fenster am Richtplatz mieten. Es wird teuer werden. Das ist es immer bei solchen Gelegenheiten. Aber vielleicht kann ich einen Handel machen. Dann kannst du von oben unerkannt zuschauen.»
«Das genügt nicht. Sie muss mich auch sehen können. Sie muss um meine Gegenwart wissen.»
Carolus warf vor Verzweiflung beide Arme in die Luft. «Du wirst dich umbringen. Und uns dazu!»
Calixtus legte den Kopf schief und betrachtete Danielle nachdenklich. «Deine Verkleidung ist recht gut, aber man kann sie noch verbessern. Ob dich Barbara dann in der Menge wahrnimmt?»
«Wir haben ein Zeichen. Daran wird sie mich erkennen.»
Calixtus bückte sich, hob eine Hand feuchten Sand und Schlick auf und fuhr Danielle damit über die Wange. «Schon besser. Ich habe eine Idee. Kommt!»
Carolus und Danielle folgten dem Mönch durch die Gassen der Fischer, vorbei an den Korbflechtern und Netzflickern, und kamen schließlich in ein übel beleumundetes Viertel.
«Wartet hier», sagte der Mönch. Er ging über die Straße zu einem Haus, dessen Fensterläden zu dieser Tageszeit geschlossen waren. Eine Laterne mit rotem Glas hing über dem Eingang. Calixtus betätigte den Türklopfer. Nach einer Ewigkeit schaute eine Frau heraus. Danielle und Carolus beobachteten, wie der Mönch zunächst mit der Frau verhandelte. Schließlich ließ sie ihn ein.
Eine Matrone hatte das beobachtet. «Da sieht man’s wieder, wohin es mit der Kirche gekommen ist, heutzutage!», schnaubte sie verächtlich.
«Auch Huren brauchen einen Beichtvater, die sogar noch mehr als andere», sagte Danielle.
«Tsk!», machte die Matrone nur und ging ihrer Wege.
Als Calixtus wieder erschien, winkte er Danielle. Sie ging zu ihm. Er zog sie ins Haus und stellte sie einer alten Frau vor. «Das ist Madame Hamza. Sie hat eingewilligt, uns zu helfen. Du bleibst bis morgen hier im Haus. Man wird dir eine Kammer geben. Lass dich ja nicht auf der Straße blicken, hörst du?»
«Ja, Bruder Calixtus.»
«Morgen Abend, wenn sie Barbara zum Scheiterhaufen bringen, dann werden diese Frauen dich schminken und ein wenig zurechtmachen, wie nur sie es verstehen. Dann bringen sie dich zur Richtstätte. Dort werden wir dich finden. Eins musst du mir aber versprechen: Wenn Barbara dich gesehen hat, dann kommst du ohne weitere Widerrede mit uns. Es wäre zu gefährlich, bis zum Schluss zu bleiben», sagte Calixtus eindringlich.
«Wie hast du die Huren überredet, uns zu helfen?», fragte Carolus den Mönch, als die beiden sich auf die Suche nach einer geeigneten Herberge machten.
«Ich habe ihnen angeboten, für ihr Seelenheil zu beten. Es war nicht schwer, ihnen vor Augen zu führen, dass es sich für sie lohnt, ein paar gute Taten anzusammeln. Übrigens sind diese Damen oft sehr viel freundlicher und hilfsbereiter als die sogenannten guten Bürger», antwortete er.
«Calixtus, du überraschst mich.»
«Ich wäre dir allerdings sehr verbunden, wenn du diese ganze Geschichte für dich behieltest. Ich bezweifle stark, dass mein Abt mit meinen Handlungen und erst recht mit meinen Bekanntschaften einverstanden wäre.» Er bekreuzigte sich mit einem hastigen und schuldbewussten Blick gen Himmel.
Am nächsten Tag summte die Stadt förmlich vor Erregung und gespannter Erwartung. Schon seit dem Vormittag waren Männer damit beschäftigt, das Holz für den Scheiterhaufen aufzuschichten. Als Carolus und Calixtus dort ankamen, fanden sie den Platz vor der Kathedrale Sainte-Marie de la Seds zum Brechen voll. Ganz Toulon war zusammengelaufen, um das Schauspiel zu sehen. Aus jedem Fenster der umliegenden Häuser hingen die Gaffer in Trauben. Selbst auf den Dächern saßen rittlings Schaulustige.
Sie drängelten sich bis nach vorne durch. Die Leute protestierten laut und erbost. Aber wenn sie sich nach den Störenfrieden umdrehten und den Mönch erkannten, machten sie Platz. Carolus entdeckte eine Gruppe von Huren, grell geschminkt und in schreiend bunten Kleidern, die nach Kunden Ausschau hielten und offenbar in der allgemeinen Erregung schon Interessenten gefunden hatten. Aber so sehr er sich anstrengte, er konnte Danielle nicht unter ihnen finden.
«Nicht da», raunte Calixtus. «Die dort!»
Entgeistert blickte Carolus eine Begine an, aber was für eine seltsame Schwester war das! Die Kleidung ähnelte zwar dem Habit der frommen Frauen, aber sie war enger und verhüllte so gut wie nichts: Das Höllenfenster ließ beinahe die Brustknospen frei, die Taille war raffiniert geschnürt, der Rock geschürzt, sodass man wohlgeformte Fesseln sehen konnte. Und das Gesicht: grell geschminkt und gepudert –. Nein, das konnte nicht seine Danielle sein. Oder war sie es doch? Ja, sie war es. Er erkannte sie an einer winzigen Bewegung des Kopfes, an ihrer Haltung.
Lärm und Trommeln auf der Hauptstraße verrieten ihnen, dass der Richtkarren nahte. Bald sahen sie den Henker vorneweg schreiten, dann den Karren, der von vier Ochsen gezogen wurde, darauf einen Käfig, in dem die Begine eingesperrt war. Sie stand aufrecht und gefasst und hielt sich mit beiden Händen am Gitter fest, während Kot und Abfälle flogen, Fäuste geschüttelt, Verwünschungen und Schmähungen geschrien wurden. Ihre Lippen bewegten sich. Sie betete.
Der Karren hielt an, der Käfig wurde geöffnet. Barbara erblickte den Scheiterhaufen, und erst jetzt schien ihr so recht klarzuwerden, welches Schicksal sie erwartete. Von einem Lidschlag zum nächsten verlor sie die Fassung. Todesangst verzerrte ihre Züge. Sie begann sich zu wehren, als die Soldaten nach ihr griffen.
«Wie? Jetzt fürchtest du dich, deinem Herrn, dem Satan, zu begegnen? Das hättest du dir früher überlegen sollen!», schrien die Männer und zerrten an ihr. Sie hielt sich fest und entwickelte plötzlich unheimliche Kräfte. Sie mussten ihr mit Knüppeln und mit den Knäufen ihrer Schwerter fast die Hände zerschlagen, ehe sie die Gitterstäbe fahrenließ. Die Menge johlte und pfiff: Was für ein Schauspiel! Endlich hatte man sie herunter vom Karren.
Der Strick schnitt in ihren Hals, als man sie vorwärtsriss. Mit weitaufgerissenen Augen blickte Barbara um sich. Nur Feinde sah sie, hasserfüllte, verzerrte Fratzen, keinen einzigen Freund, kein einziges mitleidiges Menschengesicht. Einer der Büttel, der Barbara am Strick führte, stutzte und blieb vor der zweiten Begine stehen, vor der, die sich unter die Gaffer gemischt hatte. Carolus hielt den Atem an. Doch dann bemerkte der Büttel die grellgeschminkten Lippen und das Wangenrot. Er grinste wissend, zwinkerte Danielle zu und strich ihr im Vorbeigehen über die baren Brüste. Barbara hatte die als Begine verkleidete Hure ebenfalls entdeckt. Ihr Gesicht verfinsterte sich noch mehr, voll Wut jetzt. Sie wollte schon vor Verachtung ausspucken, da machte diese vermeintliche Hure ihr ein kaum wahrnehmbares Zeichen mit der Hand – Barbara verstand.
Sie senkte kurz ihre Lider zum Gruß. Dann ließ sie sich vollkommen gefasst zum Holzstoß führen. Eberhardus selbst trat noch einmal zu ihr und redete auf sie ein. Offensichtlich wies sie ihn zurück. Kopfschüttelnd wich er von ihr zurück und überließ sie dem Henker und seinem Knecht.
«Komm jetzt!» Calixtus war hinter Danielle in der Menge aufgetaucht und zog sie mit sich.
«Lass uns jetzt schnell die Stadt verlassen, solange noch alle von dem Schauspiel abgelenkt sind. Barbara wird nicht leiden. Carolus hat den Henker bestochen, dass er sie erwürgt, sobald der Rauch ihm Deckung bietet.»
«Ich muss noch bleiben. Sie soll dem Tod nicht ohne Trost begegnen müssen, nicht von allen verlassen.»
Calixtus verdrehte die Augen.
«Es ist zu gefährlich! Komm!»
«Nein!»
Die Umstehenden wurden schon aufmerksam und verspotteten den Mönch.
«He! Hast du dich nicht in der Adresse geirrt?!»
«Lass ihn doch, auch ein Klosterbruder muss mal seinen Spaß haben!», johlten sie.
Beschämt ließ Calixtus die falsche Begine los.
Danielle blieb stehen, bis der Rauch hochstieg. Durch die Schwaden hindurch meinte sie zu erkennen, wie der Henker Barbara flink eine Seidenschnur um den Hals legte und zuzog. Barbara sackte in sich zusammen. Danielle drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge hinaus. Calixtus tauchte an ihrer Seite auf, als sie sich gerade mit dem Rockzipfel die Schminke von Mund und Wangen rieb.
«Kein Wunder, dass die Leute so schlecht von den frommen Frauen denken! Was für eine gemeine Scharade; so etwas gehört verboten», schimpfte Danielle.
Kurz vor dem Stadttor holte Carolus sie ein. «Wo hast du das falsche Beginengewand her?», fragte er erschrocken.
«Die Huren hatten eines oder sogar mehr. Sie haben mir gesagt, es würde häufig von ihrer Kundschaft verlangt.» Danielle zupfte verlegen am Stoff des Kleides, im hilflosen Versuch, ihre Brüste zu bedecken. Calixtus gab ihr seinen Umhang.
«Ich glaube, ich überlege mir das mit den Fürbitten noch einmal», brummte er ärgerlich.
«Habt ihr keine Reittiere?», fragte Danielle, als sie aus dem Stadttor traten.
Carolus sah sich ein wenig bedauernd nach dem Mietstall um, wo sie den Ackergaul und das Maultier von Calixtus hatten lassen müssen. «Wir haben sie verkauft, um Bestechungsgeld für den Henker zu haben. Zum Glück ist noch etwas übrig, wovon wir unterwegs leben können. Aber ich fürchte, wir müssen zu Fuß zurück.»
Ihr Nachtlager machten sie unter freiem Himmel auf dem Pass, wo der Karren umgekippt war. Calixtus entfachte ein Feuer in einer Senke.
Danielle hatte auf dem ganzen Weg kein einziges Wort gesagt. Carolus riss sie aus ihren Gedanken. «Nie wieder spotte ich über weibliche Schwatzhaftigkeit. Sprich mit mir!», bat er sie.
«Was willst du denn wissen?»
«Alles, deine Kindheit, dein Leben vor Pertuis. Ein wenig hat mir Jeanne schon erzählt, aber du wirst dir schon die Mühe machen müssen, mir alles noch einmal und ganz genau zu erzählen.»
Das Feuer war zur Glut zusammengefallen, als sie endete: «Und so dachte ich, es sei besser fortzugehen, weil ich allen nur Schwierigkeiten gebracht habe.»
«Und fragst du gar nicht nach Laura?», sagte Calixtus.
«Ihr habt das Kind wiedergefunden, oder nicht? Ich war mir sicher, dass es auftauchen würde, sobald ich aus dem Wege war.»
«Es war Catherine.»
«Ja, ich weiß. Es gab ja gar keine andere Möglichkeit. Aber ich wusste auch, dass sie es nicht fertigbringen würde, dem Kind ihrer Schwester ernstlich zu schaden. Ich war es, der sie schaden wollte», sagte Danielle.
«Warum hast du das niemandem gesagt?»
«Wie? Ich soll eine Frau beschuldigen und ins Unglück stürzen, der ich schon den Mann genommen habe? Was ist ihr geschehen? Was habt ihr mit ihr gemacht, als es herauskam?»
«Ihr ist nichts geschehen. Marius und Laura haben ihr vergeben. Und wir haben uns ausgesprochen. Ist das nicht eigenartig: Solange wie wir verlobt waren, hat sie versucht, die Heirat hinauszuzögern. Und als ich mich von ihr trennen wollte, da wollte sie mich auf einmal haben.»
«Mein lieber Carolus, es ging nicht um dich, auch wenn das deiner männlichen Eitelkeit Abbruch tun mag. Kannst du dir nicht vorstellen, wie sie vor den Leuten dasteht? Sie ist fast zu alt, um zu heiraten, jedenfalls nach Meinung der Klatschbasen. Der Verlobte läuft ihr weg wegen einer anderen. Das Gerede, der Spott, die Sticheleien: Das muss eine Qual für sie gewesen sein.»
Carolus sah eine Weile nachdenklich in die Glut.
«Es wird für dich nicht einfach werden, wenn du mit mir kommst. Kein neues Leben, so wie du es dir gewünscht hast.»
«Das macht nichts. Mein altes Leben ist gut genug, wenn nur du darin bist», sagte sie sanft.
Sie schliefen am Feuer, in die Maultierdecken gehüllt. In Méounes konnten sie für Danielle etwas zum Anziehen kaufen. Es gab dort eine Näherin. «Du hast Glück. Ich habe etwas Fertiges da. Eine Kundin hat es bestellt, und dann gefiel es ihr nicht. Da, es ist dir vielleicht ein wenig kurz, so großgewachsen wie du bist.»
Es war ein geschnürtes Kleid im hellen Rotbraun von Buchenblättern im Herbst, an Rock und Ärmelsäumen grün bestickt, dazu ein Überkleid, das mit Eichhörnchenpelzen besetzt war. Es gab sogar einen gelben Schleier dazu.
«Du siehst noch hübscher aus ohne diese weiten Beginenröcke», sagte Carolus bewundernd, als sie aus der Nähstube trat. Danielles Wangen röteten sich. Sie hatte noch nicht vergessen, wie wohl sich eine Frau in einem neuen Kleid fühlt.
«Gegen bescheidenen Schmuck ist nichts einzuwenden», mahnte Calixtus. «Aber hüte dich vor Luxus und Eitelkeit! Sie haben dich schon einmal ins Unglück gestürzt.»
«Ach ja …», murmelte Carolus plötzlich. Er wühlte in seinem ledernen Umhängebeutel und förderte schließlich ein paar feine rotbraune Frauenschuhe zutage. «Hier, die passen doch besser dazu als deine alten», sagte er und hielt sie Danielle hin. Sie erkannte das Leder und die Machart, und eine verräterischer Feuchtigkeit stieg ihr in die Augen. Es waren dieselben, die sie auf dem Johannismarkt in Pertuis bestellt, aber nie abgeholt hatte.
«Hast du sie etwa doch gekauft für mich und sie die ganze Zeit mit dir herumgetragen?»
Er nickte, etwas verlegen. «Irgendwie hat sich nie die Gelegenheit geboten, sie dir zu geben.»
Da stand sie nun, barfuß, Tränen in den Augen und die neuen Schuhe in der Hand.
«Willst du sie nicht anziehen? Gefallen sie dir nicht?», fragte Carolus.
Sie bückte sich rasch und zog mit zitternden Händen die Schuhe an ihre Füße.
«Und? Passen sie?», fragte er eifrig.
Sie konnte nur nicken. Diese Schuhe, sie würde sie hüten ihr Leben lang. Sie waren ihr wertvoller als eine ganze Truhe voller Schmuck es je würde sein können.
Auf der Weiterreise machte Carolus Pläne.
«Wir können zusammenarbeiten. Du behandelst die Frauen und ich die Männer. Wir können einander raten und helfen.»
«Du vergisst dabei, dass man mir die Lizenz weggenommen hat. Du weißt, was mir blüht, wenn man mich erwischt.»
«Aber das war in Paris. Diese Nordländer, die sind anders als wir. Hier bei uns herrscht römisches Recht, wir sind zivilisiert. Hier herrscht die Vernunft, verstehst du?», erregte sich Carolus. «Paris, ja die Sorbonne steht unter der Herrschaft der Kirche. Aber die Provence gehört zum Königreich Neapel, wo die Universitäten Sache der weltlichen Regierung sind.»
«Das Comtat Venaissin und Pertuis gehören der Kirche», erinnerte Calixtus.
«Mag sein, aber dennoch ist man bei uns im Süden toleranter. Danielle, wir könnten nach Salerno schreiben und um eine neue Lizenz für dich nachfragen. Sicher wird man sie dir dort nicht verweigern. Du wirst doch in den Büchern von Salerno registriert sein.»
Danielle zögerte: «Ja, schon, aber …»
«Möchtest du denn nicht in deinem Beruf arbeiten? Ich dachte …»
«Weil ich im Beginenhaus alles andere tun wollte, als Kranke anzurühren? Es hätte mich an das erinnert, was ich gern vergessen wollte. Ich war verbittert. Sie wollen nicht, dass ich meinen Beruf ausübe? Dann soll eben die Welt ohne mich zurechtkommen, habe ich gedacht. Aber auf meiner Wanderung, habe ich wieder erfahren, dass es Menschen gibt, die mich brauchen. Das hat mir gutgetan. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass man mir Exkommunikation und Todesstrafe angedroht hat, sollte ich es je wieder wagen, als Ärztin zu praktizieren.»
«Aber war es nicht Alessa di Ruggieri, die man in Paris verurteilt hat? Sie darf nicht mehr praktizieren. Danielle von Pertuis, die Frau von Carolus, die kann es schon», sagte Carolus.
«Das ist wahr», sagte Danielle nachdenklich. «Nur wäre ich dann keine ausgebildete Ärztin mehr.»
«Du könntest als meine Helferin arbeiten – wenigstens so lange, bis du deine Lizenz wiederhast. Ich weiß, es ist eine große Schande. Du bist eine viel bessere Ärztin als ich ein Arzt.»
«Das ist mir gleich. Wenn ich nur den Beruf ausüben kann, den ich gelernt habe. Wenn die Leute sehen, dass es gute Heilerinnen gibt, dann vergessen sie vielleicht ihre Vorurteile. Eines Tages, das weiß ich genau, werden an allen Universitäten Frauen zugelassen werden.»
Carolus machte Pläne. Danielle beobachtete ihn ein wenig atemlos. Seine Augen glänzten im Licht der neuen fabelhaften Möglichkeiten. Sie liebte ihn schon allein für seinen Enthusiasmus. Sie musste wohl selbst ähnlich gewesen sein, früher einmal. Überrascht und ein wenig wehmütig durchforschte sie ihre Erinnerung nach jenem jüngeren, mutigeren, unversehrten Selbst, nach ihren alten Hoffnungen und hochfahrenden Erwartungen. Und siehe da: Es war doch nur verlegt und nicht verloren! In einem staubigen Winkel ihrer Seele schwelte noch ein Funke. Vielleicht – an Carolus’ Seite – würde er wieder zu einer Flamme werden. Ganz bestimmt würde er das! Eine andere Art von Glut, aber besser als zuvor, weil es jetzt zwei Funken gab, die einander nähren konnten.
Die beiden fingen an, sich über Medizin auszutauschen. Unentwegt diskutierten sie Arzneien und Heilmethoden, doch als sie beim Abendessen in der Herberge davon anfingen, wie man am besten Abszesse öffnete, da protestierte der Mönch: «Es ist ja schön, dass ihr nun endlich etwas zum Reden gefunden habt. Aber nun hört einmal damit auf und lasst einen Christenmenschen in Ruhe sein Mahl genießen. Das ist ja nicht auszuhalten mit euch!»
«Bevor ich zu dir ziehe, Carolus, muss ich noch einmal zurück ins Beginenhaus», flüsterte Danielle.
«Warum denn das? Du kannst doch bei einer meiner Schwestern wohnen, wenn es der Anstand erfordert. Sie würden dich willkommen heißen», wandte Carolus ein.
«Nein, die Beginen haben mich bei sich aufgenommen, und ich habe mich ihren Hausregeln unterworfen. Also muss ich zurück und ordnungsgemäß darum bitten, dass sie mich aus ihrer Gemeinschaft entlassen.»
Danielle hatte Angst vor ihrer Rückkehr gehabt. Doch als sie die Ostseite des Mont Aventure hinter sich gelassen hatten und es auf Pertuis zuging, da fühlte sie sich beinahe zu Hause.
Sie übernachteten in derselben Herberge, in der Carolus auf dem Hinweg geblieben war. Als sie sich an einen Tisch in einer Ecke der Schankstube setzten, da kreischte die schwarzhaarige Louisa auf vor Vergnügen: «Nein! Der Herr Medicus! Na, sag bloß, das ist sie?!»
«Das ist meine Danielle! Jetzt ist sie noch eine Begine, aber nicht mehr lange. Dann werde ich sie ganz offiziell heiraten und sie mich», sagte Carolus stolz.
«Ich gratuliere! Danielle, du hast ja keine Ahnung, wie er uns allen die Ohren von dir vollgesungen hat. Da bin ich aber froh, dass er dich eingeholt hat!», freute sich Louisa.
«Reiß ihm nicht wieder aus, sonst schnappe ich ihn mir!», sagte das andere Mädchen.
«Ich habe nicht die Absicht», lachte Danielle.
Es ließ sich nicht umgehen, da Umsitzende den Austausch gehört hatten, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten nachgeholt wurden gewissermaßen. Carolus hatte den Wein für alle zu bezahlen. Mit leerer Börse musste er anderntags den letzten Teil der Reise antreten.
Sie überquerten die Durance unter einem stürmischen grauen Himmel.
«Es wird regnen!», murrten die Leute, unzufrieden wie immer. Den ganzen trockenen Sommer lang hielten sie Ausschau nach Wolken am Himmel und sehnten den Herbstregen herbei. Wenn er aber kam, dann war es zu viel und zu heftig.
Sie kamen durch die Porte Durance.
«Ah, bonjour, Herr Carolus, grüß Euch, Bruder Calixtus», sagten die Wachen. «Und ist das nicht … doch! Tatsächlich, das ist die Italienerin! Komm einmal hier herüber, Antoine, und schau sie dir an. Unglaublich, wie Ihr Euch verändert habt. Seid Ihr nun keine Begine mehr?»
«Sie ist jetzt meine Frau», sagte Carolus stolz.
«Na, da gratulieren wir aber! Wir haben gehört, was Ihr für Mestra Laura getan habt, dama, bei meiner Frau ist es auch bald so weit. Ich würde es mir als eine Ehre anrechnen und es wäre mir eine große Beruhigung, wenn Ihr sie Euch mal anschauen würdet.»
Die Mauern umschlossen Danielle wieder, aber diesmal waren sie Schutz und Heim, kein Gefängnis mehr. Sie würde endlich einen Platz haben, an den sie gehörte, auch wenn sie nicht daran zweifelte, dass sie für die Bürger von Pertuis immer «die Italienerin» bleiben würde. Als sie in der Hahnengasse ankamen, betätigte Danielle den Türklopfer und hörte Alix drinnen fluchen, weil sie sich mühselig von ihrem Schemel erheben musste. Sie gab Carolus einen Kuss zum Abschied. «Gib mir noch eine kleine Weile», flüsterte sie.
Knarzend wie immer öffnete sich das Guckfensterchen. Gleich darauf erscholl drinnen ein Schrei: «Es ist Danielle! Danielle ist zurück!»
Die Tür ging auf, und Alix fiel Danielle um den Hals: «Du dummes Stück! Warum bist du denn weggelaufen? Hast du geglaubt, wir würden nicht zu dir halten! Dummes, dummes Luder!»
Quietschend und kreischend und lachend kamen sie alle gelaufen: Magdalène und Annik aus der Küche, die Weberinnen ließen die Webstühle stehen, Philippa im Garten ließ den Wasserkrug fallen. Alle kamen, um Danielle zu umarmen, und sie brach in Tränen aus. Einen solchen Empfang hatte sie nicht erwartet. Sie zogen sie in den Hof hinein, und die Tür fiel Carolus und Calixtus vor der Nase zu.
«Weiber!», sagte Carolus und ritt nach Hause, um seiner Mutter zu erklären, dass er eine Braut ohne Mitgift und ohne Leumund heiraten würde. Calixtus hatte seinem Abt und Abbé Grégoire einiges zu erklären.
«Kannst du mir verzeihen? O ja, du verzeihst ja immer, du Gute, du Liebste. Das hat mir am meisten wehgetan, dass ich dich ohne ein Wort zurücklassen musste», wisperte Danielle Magdalène ins Ohr. Magdalène drückte sie an sich und legte ihren Kopf an Danielles Schulter. Als sie sich voneinander lösten, hatte sie Tränen in den Augen.
Sogar Gebba war herausgekommen. Sie war also nicht ausgeschlossen worden. «Bist du also wieder da. Eine schöne Bescherung hast du uns hinterlassen!», sagte sie streng, doch dann verzog sie den Mund zu einem Winterlächeln, machte ein paar Schritte auf Danielle zu und drückte ihr die Hand.
Danielles Blick fiel auf Juliana, die ihr mit gekrümmtem Finger zuwinkte.
«Was sollte denn das? Dich so einfach davonzumachen?», rief sie.
«Ich wollte nicht, dass ihr euch ganz entzweit um meinetwillen», sagte Danielle.
«Und Laura, war sie dir ganz gleichgültig?», fragte die Grande Dame.
«Nein, aber ich wusste ja, dass sie das Kind noch hatte, als ich gegangen war. Jeanne und Auda haben es bestätigt. Da war nichts, was ich tun konnte.»
«Hattest du gleich Catherine im Verdacht?»
«Die Idee ist mir gekommen.»
«Catherine wird in ein Kloster gehen. Nein, nicht deinetwegen. Nun hör schon auf, so schuldbewusst dreinzuschauen. Du bist nicht die Ursache von allem, was geschieht auf der Welt! Aber man hat unsere Pforte ruiniert deinetwegen. Der Teppich, den du gewebt hast, ist nicht zu verkaufen. Das Motiv ist zu ungewöhnlich! Alix hast du im Stich gelassen, wir mussten Philippa in den Garten beordern an deiner Stelle. Magdalène hast du viel Kummer bereitet. Annik ist zum ersten Mal in ihrem Leben das Brot misslungen, so durcheinander war sie. Es ist zusammengefallen, war innen klumpig und außen halb verbrannt. Und bei dem Büttel solltest du dich entschuldigen, dem deinetwegen etwas vom Sold abgezogen worden ist, weil er dich hat entwischen lassen. Der Abbé hat persönlich dafür gesorgt! Und dann ist da noch etwas», sagte Juliana.
«Noch mehr?» Die Rechnung war doch schon recht lang.
«Ja, allerdings. Du hast den Konvent unerlaubt verlassen in deiner Probezeit. Was schlägst du vor, wie soll ich dich bestrafen?»
«Ich könnte die Latrinen putzen. Zwei volle Wochen im Hospital arbeiten? Heute Abend allen Schwestern die Füße waschen? Fünfzigmal ‹Gebenedeit seist du Maria› beten?»
Juliana lachte auf.
«Nein danke. Ich werde dich rauswerfen», sagte sie fröhlich.
«Wie?», entgegnete Danielle erschrocken.
«Nun, bist du nicht gekommen, um mich darum zu bitten, dich freizugeben? Ich tue es hiermit. Ich habe mir von Anfang an gedacht, dass du nicht bleiben wirst. Du passt nicht zu uns», sagte die Meisterin.
«… aber ich werde unentgeltlich im Hospital arbeiten, einmal die Woche», erzählte Danielle Jeanne und Auda später.
«Das ist gut! Ich möchte, dass du dein Buch für uns abschreibst und uns alles über Chirurgie beibringst, was du weißt», sagte Jeanne eifrig.
«Dann sehen wir uns ja oft!», freute sich Magdalène.
«Ich vermisse dich jetzt schon», sagte Danielle.