Sie hatten die Tische im Refektorium an die Wand gerückt und die Stühle im Kreis aufgestellt. Es war schattig und einigermaßen kühl hier drinnen. Ein Lichtstrahl, der durch eines der kleinen, hohen Fenster fiel, ließ Danielles dunkles Haar rötlich schimmern.
Danielle begann: «Ich wurde in Neapel geboren, als mittleres Kind, Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Zwei Brüder habe ich. Ich weiß nicht, ob sie noch leben.
Meine Kindheit war schön und harmonisch, also gibt es darüber weiter nichts zu berichten. Nur dass mein Vater, vielleicht weil er sich das Lesen und Schreiben und das Rechnen unter großen Mühen selbst aneignen musste, großen Wert darauf legte, seine Kinder von den besten Hauslehrern unterrichten zu lassen, sogar seine Tochter.»
«Das Geld hätte er sich sparen sollen!», zischte Gebba.
«Psst! Sei still», flüsterten die anderen.
«Einer der Lehrer war Benediktinermönch, die – wie ihr wisst – durch ihre Regel auch zur Krankenpflege verpflichtet sind. Und er muss es gewesen sein, der in meinen kleinen Kopf die Idee einpflanzte, ich solle ein wenig Heilkunst lernen. Das stünde auch einer Frau gut an und sei nützlich in einem großen Haushalt und bei der Kindererziehung, sagte er mir.
Diesen Gedanken habe ich mit Begeisterung aufgenommen und habe gleich begonnen, verletzte Tiere zu pflegen. Ich erinnere mich, dass ich zunächst meinen Eifer an unseren Katzen und den Jagdhunden meines Vaters gekühlt habe. Ich strich sie mit duftenden Salben ein, die ich meiner Mutter entwendet hatte, und legte ihnen bauschige Verbände um. Das gefiel ihnen gar nicht. Die Katzen haben mich gekratzt, und die Hunde nagten so lange an den Verbänden, bis sie das Zeug los waren. Danach gingen sie mir aus dem Wege.»
Ein leises Lachen ging durch die Runde.
«Mit der Zeit aber und unter der Anleitung des Benediktinermönchs gewann ich an Geschicklichkeit, und bald brachte man mir aus der ganzen Nachbarschaft Vögel mit gebrochenen Flügeln, Kitze, die von Raubvögeln verletzt worden waren, Hunde, die in Fallen gegangen waren und dergleichen. Ich hatte im Hof eine Ecke mit Käfigen, in denen meine Patienten aufbewahrt wurden. Mutter nannte es meine Menagerie, und meine Brüder wagten es nicht, meine Patienten zu stören oder zu ärgern.
Als ich älter war, hatten wir dann einmal einen jungen Doktor der Medizin zu Besuch. Er war ein entfernter Cousin meines Vaters und ein sehr ansehnlicher Mann. Ich schwärmte für ihn, und er erzählte mir von der «Civitas Hippocratica», der Medizinschule von Salerno. Ist sie euch ein Begriff?»
«Allerdings!», rief Jeanne. «Ich habe davon reden hören.»
«Ich habe keine Ahnung, was es damit auf sich hat, erzähl uns mehr!», sagten die anderen.
«Salerno ist ein Ort am Tyrrhenischen Meer.» Die wenigsten der Schwestern hatten je das Meer gesehen. «Das Meer ist eine riesige Wasserfläche, größer und tiefer als jeder See. Das Wasser ist salzig. Stellt euch vor: eine Bucht, das Wasser lau und grünbläulich schimmernd, die Ufer felsig und von lichten Eichen und Pinien bestanden. Über die Felsen wuchern die fetten, stacheligen Blätter der Feigenkakteen. Eine sanfte Hügelkette steigt an vom Ufer gen Horizont, und aus einem Einschnitt der Hügel in der geschützten Mitte der Bucht, da ergießt sich ein Strom von geweißten Häusern bis an den Strand. Das ist Salerno. Auf einem der Hügel steht ein Kloster, ein Ableger des Klosters von Monte Cassino, das vom heiligen Benedikt selbst gegründet wurde. Und weil das Klima so angenehm, die Umgebung so schön und die Pflege der Mönche weithin berühmt war, sind die Kreuzfahrer dorthin gekommen, um ihre Wunden behandeln zu lassen und sich zu erholen. Immer mehr Herbergen, Garküchen und Wirtshäuser wurden gebraucht, um alle diese Ritter und ihr Gefolge zu versorgen. Die Stadt wuchs, wurde wohlhabend und bekam einen sehr guten Ruf. Jeder wollte dorthin, nachdem man sogar den Heiligen Vater von hartnäckigen und schmerzhaften Blasensteinen kuriert hatte.
Mit der Zeit gewöhnten sich auch die Leute in der Umgebung, vor allem aber die Adligen daran, jedes Mal, wenn jemand aus ihrer Familie krank wurde, die Mönche von Salerno rufen zu lassen. Das führte dazu, dass sie häufig aus dem Kloster abwesend waren und auch mit Frauen zusammenkamen. Dieser Misstand musste schließlich behoben werden, und so gründete man eine Laienschule für Medizin, um die Mönche zu entlasten. Ihr berühmtester Lehrer war Constantinus Africanus. Der war in seiner Jugend weit gereist und hatte im Orient und Okzident, bei den Indern und den Arabern viele medizinische Schriften gesammelt und ins Lateinische übersetzt, sodass in Salerno die Heilkunst der Antike wiederentdeckt und durch die Mönche weiterentwickelt wurde. Das ist nun schon dreihundert Jahre her. Ihr müsst verstehen, dass es damals kaum vergleichbare Schulen für Medizin gab. Bis heute sind die anderen medizinischen Fakultäten in ihrer theoretischen und praktischen Erforschung ziemlich eingeschränkt, weil sie unter kirchliches Edikt fallen. Salerno aber fiel unter weltliche Herren, und die erlaubten vieles, was anderswo untersagt war.»
«Zu Recht untersagt», warf Gebba ein.
«Du redest Unsinn, weil du nichts davon verstehst», wies Jeanne sie zurecht.
«Viele berühmte Leute haben hier gelernt und gelehrt, unter anderen auch Thomas von Aquin, daran könnt ihr sehen, dass beileibe keine Ketzerei oder Zauberei vorkam», fuhr Danielle unbeirrt fort, nun, da sie sich einmal entschlossen hatte, alles zu erzählen. «Es ging alles sittlich und christlich zu. Das berühmte Lehrgedicht ‹Regimen Sanitatis Salernitatum› – die Gesundheitsregeln der salernitanischen Schule – wurde für Prinz Robert, den Sohn Wilhelm des Eroberers, verfasst, als er auf der Heimreise von Palästina eine Armwunde durch einen vergifteten Pfeil behandeln ließ.»
«Erbse kann ich empfehlen und nicht empfehlen,
denn ihrer Hülse beraubt, sei sie als gut dir erlaubt,
aber von dieser umringt, sie Schaden und Blähungen bringt!»,
zitierte Jeanne. Jemand machte ein entsprechendes Geräusch, und Annik kicherte.
«Ja. Das Gedicht hat zu allen Lebensmitteln etwas zu empfehlen. Wein ist gut –»
«Seht ihr: Das ist vernünftig», brummte Alix.
«Frisches Brot ist schlecht.»
«Schmeckt aber am besten!», warf die dicke Manon ein.
«Man soll sich waschen und die Zähne putzen am Morgen, ihr kennt das alles. Die Regeln stammen aus Salerno. König Roger von Sizilien und nach ihm Friedrich der Staufer haben Salerno gefördert und Gesetze gegen Pfuscherei erlassen. Niemand sollte sich medizinisch betätigen, der nicht eine entsprechende Ausbildung gemacht und seine Lizenz von den königlichen Beamten bekommen hatte. Ach, wie stolz war mein Vater, als ich dieses Dokument in den Händen hielt!»
«Das haben sie auch Frauen gegeben?», fragte Gebba misstrauisch.
«Ja. Und es waren sogar weibliche Lehrer dort, wenige zwar, und sie haben nur Geburtshilfe und Kinderpflege gelehrt, wie Constantia Mammana, doch wer wollte, konnte alle Gebiete hören, sogar Chirurgie!»
«Frauen, die Leute aufschneiden? Pfui!», schimpfte Gebba.
«Wenn es zur Heilung führt, warum denn nicht? Aber ich gebe zu, dass diese Kurse fast ausschließlich von jungen Männern besucht wurden.»
«Hast du das Schneiden gelernt?», fragte Annik mit vor Aufregung zittriger Stimme.
«Ja, das habe ich. Und Anatomie! Wie soll man denn einem Menschen helfen, wenn man nicht weiß, wo seine Organe sitzen und wie sie aussehen? Wir haben allerdings nur an Schweinen geübt. Die Kirche hat das Aufschneiden von Leichen verboten.»
«Das ist gut!»
«Nein, das ist ganz schlecht, denn das Schwein ist dem Menschen nicht in allem ähnlich!», gab Danielle zu bedenken.
«Nur im Charakter», murmelte Anne, ohne jemand im Besonderen anzuschauen dabei. Doch Gebba drehte sich giftig nach ihr um.
«Zum Beispiel lernen die Geburtshelferinnen die weiblichen Genitalien nur an Säuen kennen und operieren dann an Frauen, ohne sie anzuschauen. Sie fühlen nur unter dem Rock. Deshalb wird so viel verdorben, und viele Frauen müssen unnötig leiden um der Scham willen.»
«Ich würde lieber sterben, als mich so anschauen zu lassen, noch dazu womöglich von einem Mann!», Gebba errötete.
Danielle ging nicht darauf ein. «Wie auch immer. Man lehrte uns zu helfen, so gut es ging, und man lehrte uns vor allem, nicht zu schaden. Das ist das oberste Gesetz der Medizin. Der Patient darf hinterher nicht schlechter dran sein als vor der Behandlung.»
«Daran hättest du denken sollen, ehe du Lauras Kind getötet hast!», keifte Gebba.
«Ich habe dem Kind nichts getan. Jeanne und Auda sind meine Zeuginnen. Es war gesund und munter, als wir es in den Armen seiner Mutter ließen», sagte Danielle, der Wiederholung müde.
«Das stimmt! Ich schwöre es», warf Jeanne ein.
«Jaja, das hatten wir schon. Lasst sie weitererzählen! Gebba, hör auf, ständig zu unterbrechen!», sagte Juliana streng.
«Die Zeit in Salerno war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ohne dass Verantwortung auf meinen Schultern lastete, konnte ich meinen Wissensdurst nach Herzenslust befriedigen. Ihr würdet es nicht glauben, was schon die Alten wussten, die Griechen im Athen vor mehr als tausend Jahren! Das alles war in der dunklen Zeit vergessen worden! Und die Lehrer erst, die ich hatte! Da war einer, Nikolaus de Cretacio, ein hässlicher kleiner Mann, ein fetter Gnom. Doch was für einen faszinierenden Verstand er hatte, und er war immer freundlich, immer ausgeglichen.»
«Wie habt ihr denn nun gelernt, Menschen zu behandeln, wenn man euch nur anhand von Büchern und Schweinebraten hat studieren lassen?», wollte Jeanne wissen.
«Wir haben schon an Menschen gelernt, mit der Zeit. Diejenigen unter uns, die schon ihr Grundstudium der Philosophie, Arithmetik und Astrologie hinter sich gebracht hatten, die durften die Lehrer auf ihren morgendlichen Krankenbesuchen begleiten. Es gab zahlreiche Hospitäler in der Stadt, und die Schule betrieb selber das größte davon. Jeden Morgen und jeden Abend gingen die Ärzte und Lehrer von der Schule mit ausgesuchten Schülern hinüber ins Hospital, und da durften wir zuschauen und lernen. Ich ging auch mit Bruder Nikolaus zu den Armen. Die behandelte er umsonst.»
«Ach, an die haben sie dann euch Grünschnäbel rangelassen! Natürlich nicht an die hohen Herrschaften, aber die armen Leute mussten sich das wohl gefallen lassen?»
«Nein, nicht ganz so, Annik. Bruder Nikolaus war ja dabei und überwachte jeden Handgriff, den wir taten. Und vorher hat er uns vorgestellt und sie gefragt, ob es ihnen recht wäre. Manche sagten ja, andere sagten nein.
Ach, und wie anregend die Gesellschaft war! Wir Studenten lebten in Dormitorien, das heißt, es gab ein großes Haus für die Jungen und nur ein sehr kleines, in dem die weiblichen Studenten zusammen mit den Lehrerinnen wohnten, damit unsere Eltern uns behütet und bewacht wussten. Die älteren und berühmten Lehrer hatten schöne Villen in der Stadt. Die ganz jungen Lehrer und Ärzte, die lebten ebenfalls auf dem Gelände der Schule und aßen mit uns im Speisesaal. Die Diskussionen, die da geführt wurden! Und manchmal ziemlich raue Scherze …» Danielle lächelte in sich hinein. «Ich hätte lieber dort bleiben und weiter Lehrbücher verfassen sollen.»
«Dann hast du das Buch dort geschrieben?», rief Jeanne.
«Welches Buch?», fragte Gebba.
«Oh, sie hat ein wunderbares Buch über Frauenleiden geschrieben! Ich wünschte, jeder Arzt und jede Hebamme hätte es. Wie viel besser könnte den Frauen dann geholfen werden!», schwärmte Jeanne.
«Ach, das ist nicht mein Verdienst», wehrte Danielle bescheiden ab. «Ich hatte ja in Salerno eine riesige Bibliothek zur Verfügung mit den Schriften der berühmtesten Gelehrten: Hippokrates, Aristoteles, der Jude Maimonides; Soranus, der Hofarzt bei Königin Cleopatra war, Johannes Akturios, Ibn Ruschd aus dem alten Bagdad und Abulkasim aus Córdoba; eine lateinische Übersetzung der Pharmakologie des Dioskurides und sogar indische Schriften hatten sie dort …»
Annes Augen wurden groß und sehnsüchtig. «Ach, wenn ich doch nur einmal in eine solche Bibliothek käme!»
«Und hast du alle diese Autoren gelesen?», fragte Jeanne beeindruckt. Die Schwestern lauschten atemlos.
Niemand bemerkte, wie Gebba aufstand und leise hinausging.
«Ich habe sie alle gelesen und zusammengetragen, was sie über die weiblichen Organe und über Frauenleiden geschrieben haben. Bei allem Respekt muss ich doch sagen: das war nicht eben viel. Sie haben sich nicht allzu sehr für Frauen interessiert, doch aus den Bruchstücken und dem, was die Lehrerinnen mir beigebracht haben, ergab sich ein ziemlich genaues Bild.»
«Ja, wärst du doch Lehrerin geworden!»
«Warum hast du es nicht getan?»
«Ich fand, es sei nicht genug, sich bequem in der Welt der Wissenschaft und Lehre zu bewegen. Ich meinte, das Wissen hinaustragen zu müssen. Ich wollte es dorthin bringen, wo es am nötigsten war, dorthin, wo es den Frauen nicht zur Verfügung stand. Ja, vielleicht war ich auch stolz. Ich meinte, mit meiner königlichen Lizenz in der Tasche stünde mir nun die ganze Welt offen. Ich wollte der Welt beweisen, dass auch Frauen gute Ärztinnen sein können. Und weil ich geglaubt habe, dass ich mit meinem frischerworbenen Wissen den vielen Frauen helfen sollte, die von Kurpfuschern und abergläubischen alten Weibern zu Tode behandelt wurden und immer noch werden. Ich wollte es der Welt zeigen.»
«Und was war dann?»
«Dann bin ich nach Paris gegangen. Der Stern von Salerno ist im Sinken begriffen. Die Universität von Neapel nimmt der Schule mehr und mehr Studenten fort. Und man sprach viel von der Sorbonne. Aber an den französischen und alemannischen Universitäten sind Frauen nicht erwünscht.
Ich ging also nach Paris. Ich nahm Abschied von meinen Eltern und Brüdern und schiffte mich auf einer der großen Galeeren nach Genua ein. Ich kann euch sagen, dass ich bei der Gelegenheit das salernitanische Rezept gegen Seekrankheit ausprobiert habe, Wein mit Seewasser vermengt, aber es hat nicht geholfen! Ach, was habe ich gelitten auf der langen Überfahrt. Und immerzu war da das Geräusch der langen Ruder, die ins Wasser eintauchen, tief durchziehen und tropfend wieder hochgezogen werden im stetigen Rhythmus wie riesige Libellenflügel. Als ich in Genua an Land ging, da wankte der feste Boden unter meinen Füßen, so sehr hatte ich mich an die ständige Bewegung gewöhnt. Und ich hatte noch lange das Rauschen und Tropfen der Ruder in meinen Ohren und das Dröhnen der Trommel. Von Genua ging es nach Nizza und dann nach Marseille. Mein Vater hatte mir Papiere für einen Kaufmann mitgegeben, mit dem er Geschäfte machte. Der nahm mich sehr freundlich auf. Wart ihr je in Massilia? Was für eine Masse von Häusern, was für ein Schmutz und was für ein Lärm, und was für ein großartiges Abenteuer für eine junge Frau! Kommt man mit dem Schiff darauf zu, denn gleitet man zunächst entlang an zerklüfteten grauweißen Felsen, an die das Meer gischtet. Zahlreiche Einschnitte hat es ins Land gefressen, so tief, dass sich ganze Flotten von Seeräubern darin verbergen können. Und dann taucht die Stadt auf, ein Häusermeer. Die Hafenmauern umgürten das Wasser, Leuchttürme stehen beiderseits der Einfahrt. Weiter hinten in den Hügeln sieht man eine Anzahl von Windmühlen stehen. Und die Stadt selbst ist dicht bevölkert von einem bunten Menschengemisch. Es gibt wohl keine Sprache der drei Kontinente, die dort nicht gesprochen wird.
Dort blieb ich einige Zeit, bis sich ein schneller Segler fand, der mich die Rhône hinaufbrachte bis Lyon. Und dann fand der Kapitän mir eine Gesellschaft von Kaufleuten, die zu Pferd nach Paris reisten. Ein halbes Jahr lang war ich unterwegs. Im Frühjahr war ich aus Neapel aufgebrochen, als die Feigenkakteen, die Pomeranzenbäume und die Mimosen blühten. Als ich in Paris ankam, fegten die Herbststürme durch kalte graue Gassen. Die Bäume waren fast kahl, und der große Fluss, die Seine, hatte die Farbe von Blei.
An der Sorbonne wies man mich ab. Man unterrichte keine Weiber und habe deshalb auch keinen Bedarf an Lehrerinnen. Also war ich zunächst einmal gestrandet. Mein Geld ging zur Neige. Ich kam bei einer Witwe unter, die Zimmer vermietete. Sie war geizig und gab mir nur wenig Holz, um mein Zimmer zu beheizen. Aber sie kannte viele Leute und verschaffte mir bald meine erste Arbeit. Die Bezahlung war schlecht zuerst, weil man mich nur rief, um Dienstboten zu behandeln, einmal sogar einen Esel! Die Leute meinten, einer Frau nicht so viel bezahlen zu müssen wie einem männlichen Arzt, obwohl ich doch die gleichen Leistungen erbrachte und beim Apotheker gewaltige Rechnungen machte. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Preise die Apotheker in einer großen Stadt für ganz gewöhnliche Kräuter nehmen! Ich habe zuerst kaum genug beiseitebringen können, um meine bescheidene Behausung bezahlen zu können. Paris war schlecht zu mir in diesem Winter. Ich habe gefroren und bin mit allen meinen Kleidern einschließlich Mantel zu Bett gegangen! Ich habe mich von grauem Brot ernährt, aus ungesiebtem Mehl, und von der dünnen bläulichen Milch, die nach dem Buttern übrig bleibt. Sie machen alles mit Butter dort. Das kannte ich nicht, und es ist mir auch nicht gut bekommen. Doch Olivenöl war mir zu teuer zu der Zeit.
Dann hatte ich einmal richtig Glück: Ich kam dazu, als die junge Frau eines reichen adligen Herrn auf der Straße in Ohnmacht fiel, weil sie ein viel zu enges Schnürgewand getragen hatte. Ich ließ sie rasch in ein nahes Gasthaus tragen und öffnete ihr Gewand. Da sah ich, dass sie auch noch schwanger war. Wenn sie so fortfahren würde, dann würde sie das Kind schädigen. Das gab ich ihrem Mann in aller Deutlichkeit zu verstehen. Und als er bei mir Sachverstand erkannte und ich ihm meine Lizenz zeigte, da engagierte er mich vom Fleck. Ich zog in sein Haus und leistete ihm, seiner Frau und seiner Familie gute Dienste. Als ich sie dann von einem gesunden Sohn entband, da belohnte er mich reich, und mein Glück schien gemacht.
Binnen kurzem war ich bekannt als die ‹Frau aus Salerno›. Ich bildete mir ein, jemand zu sein, und war doch nur eine nützliche Kuriosität, wie ich heute weiß. Damals wurde ich stolz. Ich konnte mir nun leisten, ein schönes Haus auf dem rechten Seineufer zu kaufen, nahe der Brücke Notre Dame. Das Haus wurde hübsch eingerichtet, nach und nach mit wertvollen und schönen Dingen gefüllt, mit Truhen aus kostbaren Hölzern, geschnitzten Stühlen, Silberzeug und Wandteppichen. Ein Gärtchen war auch dabei mit einer weinbewachsenen Laube. Es war wieder Frühling, und Paris erschien mir angenehm.
Wenn man etwas Geld in den Taschen hat, dann hat Paris viel zu bieten. Ich ließ mir schöne Kleider schneidern, wurde zu Soireen eingeladen, wo es Konzerte und Theateraufführungen gab, wo Troubadoure sangen. Man machte mir Komplimente, weil ich wie ein Mann über Philosophie zu reden verstand. Und ich konnte mich vor Aufträgen nicht retten. Dass sie oft unter meiner Würde und unter der Würde der ehrwürdigen Schule von Salerno waren, das wollte ich nicht sehen: Ich behandelte die Hysterien junger Frauen, die verdorbenen Mägen ihrer verzogenen und viel zu fetten Kinder; ich rührte Antifaltencremes und solche gegen Sommersprossen und viele solcher läppischen Sachen. Nun gut, ich habe auch alte Damen von ihrer Gicht befreit, indem ich ihnen Diäten und Schlammbäder verschrieb. Ich behandelte Kinder gegen Fieber, Blattern, Blutfluss und einmal einen Fall von Antoniusfeuer. Die Jungfrauen mit ihren Ängsten, die Schwangeren und Frauen mit zu starken Monatsblutungen mochten sich mir lieber anvertrauen als männlichen Ärzten. Aber alles in allem: Ich wurde wohlhabend und habe mir viel zu viel darauf eingebildet.»
«Hast du nicht die Armen behandelt, so wie dein Vorbild, dieser Benediktinermönch?», fragte Jeanne.
«Doch, das habe ich, und ich bin froh, dass ich mir wenigstens das anrechnen kann: Ja, ich habe zweimal in der Woche die Armen besucht und umsonst behandelt, immerhin. Ich konnte es mir ja leisten. Und ich machte mir Feinde. Es ist wahr: Gerade bei der Behandlung von Frauenleiden stieß ich bei Kollegen auf so viel Unwissen, gepaart mit Aberglauben und Desinteresse, dass es mich wütend machte. Es wäre klüger gewesen, die Missstände still und bescheiden zu korrigieren, statt mich darüber zu verbreiten. Und Spott, war er noch so geistreich, hätte ich lieber unterlassen sollen.
Und einmal wandte sich eine Frau an mich, die nach vier Jahren Ehe kinderlos geblieben war. Ihr Mann wollte sie nun verstoßen und sich eine Jüngere zulegen», erzählte Danielle.
«Ja, ja! Das kenn ich!»
«Wer sagt denn, dass es an ihr lag?!»
«Ganz recht! Das habe ich auch bezweifelt, als ich ihn sah, einen unmäßigen Fresser und Säufer. Ich habe also beide zu einer Probe aufgefordert. Er wollte erst nicht, aber als ich öffentlich gesagt habe, er habe wohl Grund, den Test zu vermeiden, da willigte er endlich ein.»
«Und was hast du getan?»
«Ich habe sie beide Haferkörner in einem Töpfchen mit ihrem jeweiligen Urin benetzen lassen. Das lässt man dann ein paar Tage am Licht stehen. Die Körner von dem unfruchtbaren Teil verfaulen, die vom fruchtbaren Teil keimen.»
«Und das klappt wirklich?»
«Ja. Auch in diesem Fall. Es erwies sich, dass es an ihm lag. Er war nicht sehr erfreut, und ich bekam natürlich kein Honorar von ihm. Aber die halbe Stadt lachte darüber, und mein Ruhm wurde noch gemehrt. Man hat natürlich versucht, mich bloßzustellen. Einmal überreichte mir ein Fürst auf einer großen Gesellschaft einen Becher mit Urin, den er als seinen ausgab, und forderte mich auf, meine Kunst mit einer Harnschau zu beweisen. Ich roch daran und hielt ihn gegen das Licht, und mir war vollkommen klar, dass es nicht seiner war. Ich roch nochmals daran und sagte dann: ‹Messire, Ihr seid nicht nur wohl anzusehen, reich, mächtig, elegant und sehr gebildet, nein, Ihr seid auch ein lebendes Wunder!› Er schaute etwas verblüfft drein. Ich fuhr fort: ‹Sire, ich gratuliere Euch von Herzen: Ihr werdet in einigen Monaten ein Kind zur Welt bringen. Bitte erweist mir die Ehre, Euch beistehen zu dürfen. Meine Dienste wären in diesem Fall kostenlos. Es ist für mich von hohem wissenschaftlichem Interesse!›»
Die Beginen lachten und kicherten.
«Ihr ahnt es schon. Er hatte mir den Urin einer seiner Hofdamen präsentiert. Die Angelegenheit war einigermaßen pikant, denn sicher war das Kind von ihm. Aber er lachte und ließ mir einen Beutel mit Goldstücken überreichen. Derart verlief mein Leben in Paris. Ach, und ich hätte fast vergessen euch zu sagen: Ich verliebte mich in einen jungen Mann von Stand. Der fünfte Sohn eines Adligen, der ebenfalls Medizin studierte an der Sorbonne. Er war – ist – zwei Jahre jünger als ich. Er bewunderte mich und sang des Nachts Liebeslieder unter meinem Fenster. Er schickte mir Rosen. Es war alles gut, zu schön für das neidische Geschick.»
Gebannt hingen die Beginen an Danielles Lippen.
«Was geschah dann? Ist dir ein Fehler unterlaufen?»
«Nein. Das war gar nicht nötig. Meine Konkurrenten brachten mich zu Fall. Einer von ihnen hatte ein armes Weib dabei erwischt, wie sie versucht hatte, ihre Frucht abzutreiben, ja, zuerst mit gekochten Petersiliensamen, dann mit einem spitzen Gegenstand. Sie war zu mir gekommen und hatte mich um ein Mittel gebeten, doch natürlich musste ich es ihr verweigern. Ich redete ihr gut zu und führte ihr vor Augen, dass Abtreibung eine Sünde wäre, dass sie vorher hätte daran denken müssen, ehe sie sich auf eine Liebschaft einließ. Und ich habe ihr gesagt, dass ein Kind doch auch ein Geschenk sei und sie es mit der Zeit liebgewinnen würde. Aber das alles waren nur wohlfeile Worte. Ich hätte ihre Notlage ernster nehmen sollen!»
«Aber du hättest doch kaum in Betracht gezogen …?», sagte Jeanne schockiert und entsetzt.
«Natürlich nicht. Aber ich hätte vielleicht länger mit ihr reden sollen, eindringlicher, ihr Geld anbieten, ich hatte ja welches. Vielleicht hätte ich auch mit dem Vater des Kindes sprechen können. Irgendein Weg hätte sich vielleicht finden lassen. Aber ich habe sie weggeschickt, und da hat sie versucht, die unerwünschte Schwangerschaft selbst zu beenden. Als es arg blutete, da bekam sie es mit der Angst und suchte diesen Arzt auf. Es gelang ihm, die Blutung zu stillen – das muss man immerhin sagen –, doch er überredete diese Frau, mich anzuzeigen. Erpresste sie, das ist eher wahrscheinlich. Er war einer meiner schärfsten Konkurrenten. Ich wurde vor Gericht gezerrt, und sie sagte gegen mich aus. Die Angst stand in ihrem Gesicht. Ich weiß nicht, was man ihr angedroht hat. Sie war Witwe und hatte sich mit einem verheirateten Mann eingelassen; es war ein großer Skandal.»
«Aber wie konnte sie dich beschuldigen, wenn du doch nichts damit zu tun hattest?»
«Aus Angst sicherlich. Sie war nun ausgerechnet bei dem Kollegen gelandet, der mich am meisten hasste, weil ich mich einmal über ihn lustig gemacht hatte und weil ich ihm die Gräfin von – na, lassen wir den Namen weg –, weil ich ihm eine sehr reiche und gute Patientin ausgespannt hatte. So jedenfalls sah er es. Dafür musste ich jetzt büßen. Bei der Verhandlung sagten auch Patienten gegen mich aus, die einfach ihre Rechnungen nicht bezahlen wollten. Ihr würdet überrascht sein, wie schnell die Ratten aus ihren Löchern kriechen, wenn eine erst einmal den Anfang gemacht hat. Es fanden sich andere Ärzte, die meine Eignung und meine Lizenz anzweifelten. Salerno war weit. Ich war ja nichts als eine verdächtige Ausländerin.»
«Gab es denn niemand, der für dich ausgesagt hätte? Wo waren all deine fürstlichen Gönner, wo war dein Verlobter?»
«Das traf mich am härtesten: Er war ein Feigling. Er löste die Verlobung sofort auf, damit kein schlechter Ruf auf ihn fallen sollte, und präsentierte bei der Gerichtsverhandlung eine junge Adelige als seine Verlobte. Und ich habe gehört, dass sein Vater ihn nach Bologna schickte, auf die dortige medizinische Fakultät, um ihn so weit wie möglich von mir zu entfernen. Als man mich nach Monaten im Kerker schließlich herauszerrte, um mich öffentlich zu teeren und zu federn, da war keine Spur und keine Hilfe von ihm.»
Es war ganz still im Raum geworden. Teeren und federn. Wie das wohl war? Keine der Beginen getraute sich zu fragen, nicht einmal Annik.
«Ich wurde aus der Stadt gejagt und mein Vermögen eingezogen. Ich könnte euch nicht sagen, wie sich das angefühlt hat, nackt und mit heißem Teer übergossen, Gänsefedern, die an mir klebten. Der Schmerz, die Rufe, der Dreck, mit dem man mich bewarf, die Steine, ich habe kaum etwas davon gefühlt, als ich durch die Straßen rannte. Ich rannte und rannte und hatte nur Angst, und ich schämte mich entsetzlich! Irgendwann erreichte ich ein Stadttor und rannte hinaus, in südlicher Richtung, einem inneren Streben nach. Inzwischen war es dunkel geworden, und ich fand mich auf der Landstraße wieder. Es war wieder später Herbst, an der Schwelle zum Winter und schon empfindlich kalt. Da hörte ich hinter mir Hufschlag. Ich dachte, dass sie noch nicht genug hatten und mich einer von ihnen verfolgte. Aber ich war zu erschöpft, um noch zu laufen. Mein Verfolger holte mich rasch ein.»
Die Schwestern saßen unbeweglich da, klebten an ihren Stühlen. Annik kaute an einem Fingernagel. Manon knüllte einen Zipfel von ihrem Kittel in den Händen, ohne es zu merken.
«Er holte mich ein und warf mir eine Decke zu. ‹Da! Verhüllt Euch! Habt keine Angst vor mir. Ich bin geschickt worden, um Euch zu helfen. Kennt Ihr mich nicht? Ich bin Jean-Marie.› Ich bedeckte mich notdürftig. Da hob er mich hinter sich auf den Gaul. Wie sich herausstellte, war er der Leibdiener eines meiner wohlhabenden Patienten. Er bracht mich zu einer Hütte, wo seine Mutter mich in Empfang nahm. Sie war Torhüterin auf dem Landsitz meines Patienten. Sie half mir, mich zu waschen, den Teer mit Butter abzureiben und meine Wunden notdürftig zu behandeln. Ohne das hätten die Verbrennungen, die ich erlitten hatte, sich sicher infiziert, oder ich wäre an Hunger und Kälte gestorben. Als ich einigermaßen gesäubert war, gab sie mir Kleidung, einfach, aber warm, und festes Schuhwerk. Der Diener überreichte mir eine kleine Börse mit einer Menge Kupferstücke darin.
‹Mein Herr glaubt nicht, was über Euch gesagt wurde. Er bittet Euch um Vergebung, dass er nicht mehr tun kann›, sagte er.
‹Es ist schon gut. Sag ihm, ich bin ihm sehr dankbar. Gott möge es ihm und seiner Familie vergelten!›, antwortete ich.
Ich durfte dort bleiben, etwas essen und mich ausruhen. Im Morgengrauen gab die Frau mir einen Hanfsack zum Umhängen. Darin waren ein Brot, ein Messerchen und eine Zunderbüchse zum Feuermachen. Die Börse versteckte ich unter meinem weiten Rock. Sie war jetzt mein ganzer Besitz. Ich schlich mich davon, um den guten Leuten nicht zu schaden.»
«Wie hast du gelebt? Wie hast du zu essen bekommen? Wo hast du geschlafen?», wollten die Schwestern wissen.
«Am Anfang habe ich nach Arbeit gefragt. Doch wer würde jemandem Arbeit geben, der so aussah wie ich? Man sah ja ganz deutlich, was mir geschehen war. Später, als sich Schorf bildete und die verbrannte, abgestorbene Haut sich in Schuppen und Fetzen ablöste, da dachten sie wohl, ich hätte Lepra. Die Kinder sind schreiend vor mir weggerannt, und man schrie mir zu, ich solle gefälligst eine Rassel benutzen. Manchmal bewarf man mich mit Steinen. Der Inhalt der geschenkten Börse reichte nicht lange, aber mehr hatten sie mir nicht geben können. Wenn du als Bettler mit Silber erwischt wirst, dann meint jeder, du hättest es gestohlen. Nun, ich bin planlos immer weitergelaufen, immer nach Süden, nur fort von dem schlechten Wetter und der Kälte.
Ich habe gebettelt. Das musste ich erst lernen. Es ist eine Kunst für sich, wisst ihr?»
Danielle lachte ohne Heiterkeit. «Unterwegs habe ich andere Bettler getroffen. Einige waren feindselig und fürchteten, dass ich ihnen ihre Beute streitig machen oder erfolgreicher das Mitleid auf mich ziehen würde, so übel, wie ich zugerichtet war. Andere waren freundlicher und brachten mir das Handwerk bei.
‹Kannst du fromme Lieder singen? Nein? Flöte spielen, das ist immer gut. Auch nicht? Hm, dann musst du eben bedürftig aussehen›, sagten sie.
‹Aber jammere nicht zu sehr. Schau nicht zu elend drein, das mögen die Leute nicht. Dann fühlen sie sich unwohl und sehen woandershin. Du musst hungrig und ein bisschen traurig aussehen, dann greifen sie in die Börse. Und dann lächle ein klein wenig, ganz schüchtern – so … – und lobe sie: Ihr seid ein guter Mensch! Der Herr vergelt’s! Du musst genau das richtige Maß an Elend und Demut zeigen, dann geben sie gern und fühlen sich gut dabei. Manche, ja, die können auch richtige Plagen sein. Sie kreischen und weinen und greifen den Leuten an die Kleider, sodass sie geben, nur um die lästigen Gestalten loszuwerden. Aber du kannst das nicht, also versuch es gar nicht erst.› Sie hatten recht, und ich lernte, dass ein leerer Magen über den Stolz geht.
Und dann ist es gut, wenn man die Tage beachtet. Du musst den Kalender im Kopf haben! An Sonn- und Feiertagen und zu kirchlichen Festen, da versucht man es einzurichten, dass man sich an einer Klosterpforte aufstellen kann. Da gibt es dann Brot. Aber man muss sich umschauen, wer noch da ist. Es sind immer ein paar dabei, die nehmen den Schwächeren das Brot weg, sobald sich die Pforte geschlossen hat. Da heißt es zugreifen und dann schnell wegrennen. Und sich im Laufen den Mund vollstopfen. Schlafen tut man, wo es sich eben ergibt. In leerstehenden Schäferhütten, wenn man Glück hat; unter Bäumen, im Graben. Man muss darauf achten, dass es möglichst niemand sieht, wohin man sich legt, sonst kann es geschehen, dass man nachts bestohlen wird, oder es geschieht noch Schlimmeres, wenn du als Frau zu erkennen bist.
In den Städten, da sind die Bettler organisiert wie eine Zunft. Da musst du als Erstes herausfinden, wer der Chef ist. Den fragt man dann um Erlaubnis. Dafür muss man abends einen Teil vom Tagesverdienst abliefern. Ist man neu und fremd, bekommt man die schlechtesten Plätze, wo kaum jemand langgeht. Aber in den Städten bin ich nicht lange geblieben. Mich hat es immer weiter nach Süden gezogen. Und dann hat mich der Winter eingeholt.»
Gebba war unterdessen wieder hereingekommen. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.
«Oh, die armen Leute! Ich habe mir nie so recht bewusst gemacht, was sie zu erdulden haben», sagte leise Justine. «Und wie gemein die Welt sein kann.»
«Wenn ich es bedenke», sagte Danielle, «dann ist mir auf der Wanderung nicht nur Schlechtes begegnet, im Gegenteil: Viele Menschen haben mir geholfen. Merkwürdigerweise musste ich erst so tief fallen, um zu begreifen, dass es viel mehr Freundlichkeit in der Welt gibt, als ich gedacht hatte.
Da war der Fuhrmann, der anhielt und mich hinten auf der Ladefläche mitfahren ließ. Da war eine Marktfrau, die mir einen zerbrochenen Kuchen gab, einfach so. Ein einsames Gehöft, wo man mich im Stroh schlafen ließ bei den Kühen. Da war es schön warm. Freundlichkeit ist eine Form von Magie.
Und dann wurde ich auch langsam kräftiger, zäher. Einige Male konnte ich Arbeit bekommen gegen eine oder zwei Mahlzeiten am Tag und einen Schlafplatz. So bin ich über den Winter gekommen. Den Rest kennt ihr.»
«Also hast du uns die ganze Zeit über eine Komödie vorgespielt mit deiner verlorenen Erinnerung!», sagte Gebba.
«Nein, zumindest am Anfang nicht», antwortete Danielle. «Als ich in eurem Hospital erwachte, da habe ich mich erst wirklich an nichts mehr erinnern können. Und dann wollte ich es nicht mehr wissen. Es hat mir zu weh getan und meinen Stolz zu sehr verletzt. Ich wollte unbedingt einen ganz neuen Anfang machen. Es erschien mir als ein Gottesgeschenk, versteht ihr das? Und da habe ich alles, was nicht zu diesem neuen, ganz sauberen Leben passte, einfach ganz nach hinten in meinen Kopf geschoben, in einer Rumpelkammer sozusagen, und habe die Tür fest zugemacht. Ich habe euch niemals belügen wollen. Ich wollte nur nicht zurückschauen. Das war alles.»
«Aber nun holen deine Sünden dich ein! Dafür habe ich gesorgt!», rief Gebba.
Alle drehten sich nach ihr um.
«Was hast du nun wieder ausgeheckt?», fragte Juliana.
«Ich habe ihr Buch der Stadtwache gegeben. Sie werden es Abbé Grégoire bringen.»
«Gebba!»
«Nein!» Jeanne sprang auf und wollte zum Tor laufen, doch Gebba hielt sie zurück.
«Es ist bereits unterwegs.»
«Was fällt dir ein? Du bist einfach ins Hospital gegangen und hast in meinen Sachen herumgestöbert, hast mich bestohlen?», schrie Jeanne.
«Ich habe nur Schlimmes verhindert, wie es meine schwesterliche Pflicht ist vor Gott! Wenige Blicke haben mir verraten, dass es ein Buch voller Unflat ist und voller Trug! Ein satanisches Buch von übelster Verkommenheit, ein einziger böser Gestank!»
Einige der Schwestern bekreuzigten sich.
«Darin sind Bilder der gemeinsten Art, Zeichnungen der weiblichen geheimen Orte! Pfui! Und Anleitungen zur Eitelkeit habe ich gesehen und, denkt euch: Es steht sogar darin, wie man eine Frau wieder in eine Jungfrau verwandelt! Lug und Trug! Es war meine Pflicht, dieses Schandwerk aus unserem frommen Hause zu entfernen.»
«Da wird sich die Stadtwache aber freuen», sagte Danielle ungerührt.
«Ich habe das Ding eingewickelt und den Mann schwören lassen beim Heil seiner Seele, dass er es nicht ansieht!»
«Es ist ein medizinisches Buch, nichts weiter! Du intrigante Diebin!»
Jeanne wollte tatsächlich auf Gebba losgehen. Doch Danielle hielt sie zurück.
«Lass sie. Sie ist nur unwissend.»
«Aber das Buch! Wenn der Abbé es in die Finger bekommt!», schrie Jeanne.
«Es ist, wie du sagst, eine Anleitung zum Heilen. Er wird es dir zurückgeben müssen», entgegnete Danielle ruhig.
Jeanne brummte ärgerlich in sich hinein und setzte sich wieder. Doch Juliana war nicht so leicht zu beruhigen. «Gebba. Diesmal bist du zu weit gegangen. Du säst Zwietracht in unserer Gemeinschaft.»
«Das tue nicht ich, das tut sie!»
«Nein, du bist es. Und du bestiehlst eine Schwester. Du hintergehst mich und zeigst eine von uns an. Du befolgst die Hausregeln nicht und weigerst dich, dich vor dem Zubettgehen zu versöhnen. Es wäre vielleicht besser, wenn du unser Haus verlassen würdest», fuhr Juliana zornig fort.
«Wie? Du willst mich hinauswerfen? Mich?!», kreischte Gebba, sodass die anderen aufsprangen. «Ich habe dieses Haus mit dir zusammen gegründet und es aufgebaut! All die Jahre habe ich hier für Ordnung gesorgt und nur Gutes getan. Sie aber ist noch kein halbes Jahr hier, und schon hat sie Gesetze gebrochen, hat uns belogen, die Kirche und die ganze Stadt gegen uns aufgebracht. Sie ist es, die gehen muss! Sie!»