7.

Lang liegt die Straße vor ihr wie ein ausgerolltes Band. Jede Meile bringt Abstand zwischen sie und das, was geschehen ist. Jeder Tag bietet einen neuen Anblick. Die Häuser haben sich verändert: Die Dächer sind flacher, die Fenster kleiner, Säulen schmücken die Eingänge der großen Höfe. Anbauten wuchern kreuz und quer, wo im Norden alles sich zusammendrängt, um der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Menschen haben sich verändert: Sie sind kleiner, gedrungener, viele von ihnen haben die schwarzen Haare, schwarzen Augen und die heftigen Gesten, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Die Pflanzen haben sich verändert: Schwarze Zypressen säumen die Auffahrten statt Pappeln. Tannen, Schwarzkiefern und Heide haben Besenginster, Schirmpinien, flammendem Brautschleier und bläulichem Wacholder Platz gemacht. Die Luft hat sich verändert: Sie ist milder, weicher und duftet selbst so spät im Jahr noch süß. Sie hat sich verändert: Die Wunden sind verschorft, die Haare beginnen stoppelig nachzuwachsen. Ihr Körper ist mager und sehnig geworden, die Augen riesig in dem ausgehungerten Gesicht. Die Schuhe sind längst auseinandergefallen. Lappen um ihre Füße haben sie ersetzt. Sie hat Lyon erreicht, wo sich die Ströme treffen, die Saône und Vater Rhône. Die Halbinsel liegt im Abendlicht vor ihr, mit ihren großen Handelshäusern, den Schiffen, den Anlegestegen und Seilwinden, die aus den Dachluken der Lagerhäuser ragen. Es sind zu viele Menschen dort unten. Unentschlossen schaut sie dem Treiben zu, von ihrem einsamen Aussichtspunkt unter einer vom Wind gebeugten Pinie. Da entdeckt sie eine Herberge am linken Ufer. Es ist eine einfache Herberge für Bauern und Hausierer. Die reichen Handelsherren übernachten in der Stadt, dort, wo es Dienste und Vergnügungen aller Art zu kaufen gibt.

Niemand nimmt von ihr Notiz, als sie den Schankraum betritt. Der Boden ist aus gestampftem Lehm. Die Tische und Bänke sind aus rohen Brettern gefertigt. Es riecht nach Kohlsuppe und Essig. Eine junge Frau mit rosigem Gesicht steht hinter der Theke und füllt trüben Wein in Krüge ab. «Was willst du?», fragt sie.

«Hast du Arbeit für mich? Ich arbeite für ein Essen, einen Platz zum Schlafen …» Unsicher sagt sie es, als ob sie erwartet, fortgejagt zu werden.

«Arbeit gibt es mehr als genug», sagt die Frau. Sie zögert. «Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht servieren lassen, so wie du aussiehst. Kannst du mit Tieren umgehen? Mein Stallknecht hat sich bei einer Prügelei den Arm brechen lassen, der Trottel. Da könnt ich Hilfe brauchen.» Die Bettlerin nickt. «Zwei Mahlzeiten pro Tag; du kannst so viel essen, wie du magst. Der Wein ist für die Gäste. Wasser kannst du haben. Schlafen kannst du im Heu.»

Sie hat es schon schlechter getroffen. Dem Knecht schmerzt der Arm, daher lässt er die Finger von ihr. Sie reibt die verschwitzten Pferde und Maultiere mit Stroh ab, schleppt Wasser und Futter, schaufelt Mist bis zum Umfallen. Die Kohlsuppe ist unerwartet gut, und es gibt Brot dazu, das hart, aber nicht schimmelig ist. Und Wein. «Weil du eine Frau bist», sagt die Wirtin. «Dir kann man trauen. Die Männer wissen nie, wann es genug ist.» Der Wein ist mit Essig und Gewürzen versetzt, doch er betäubt die Gedanken. Es ist nicht übel hier. Nach einer Woche zieht sie weiter. Das Essen und der warme Schlafplatz halten sie nicht. Weiter nach Süden! Die Straße ruft nach ihr.

Danielle erwachte aus ihrem Tagtraum und sah auf die hohen Mauern, die den Beginenhof umgaben. Nach oben, das war die einzige Richtung, in der ein freier Blick möglich war. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte sehnsuchtsvoll in den Himmel, dort, wo die Schwalben pfeilschnell hierhin und dorthin schossen und ganz oben ruhig und erhaben ein Raubvogel seine Kreise zog.

«Wünschst du dir Flügel?», fragte Magdalène hinter ihr leise, schmiegte ihre weiche Brust, ihren üppigen Bauch an ihren Rücken und legte den Arm um ihre Taille. Danielle antwortete nicht. Stattdessen lehnte sie sich in die Umarmung und neigte den Kopf sacht ihrer Schwester zu.

«Ich kann mir vorstellen, wie dir das Eingesperrtsein der Probezeit auf das Gemüt schlägt. Das ging uns allen so. Und dir muss es besonders schwerfallen nach deiner Zeit auf der Straße», sagte Magdalène gutmütig.

«Hmm.»

«Na, da wird es dich sicher freuen, wenn ich dir sage, dass du heute Ausgang haben wirst. Ich habe Juliana schon darum gebeten, und sie hat ja gesagt», lachte Magdalène.

«Und womit habe ich das verdient?»

«Gar nichts hast du verdient, du Undankbare! Heut ist Saint Jean, der 23. Juni! Feiert man das nicht, da wo du herkommst?»

In Danielles Kopf tat sich wieder eine von diesen großen Lücken auf.

«Na, hier jedenfalls ist es eine große Sache, du wirst sehen! Am Vormittag ist die ganze Stadt ein einziger Markt mit Leckereien und Gauklern. Da werden wir Beginen einen eigenen Stand haben und Stoffe und Bänder verkaufen und Kuchen. Von dem Erlös werden die Armen gespeist. Und am Abend lässt der Magistrat auf dem großen Platz an der neuen Kirche Saint Nicolas ein Feuer errichten. Das wird schön! Früher sind wir da immer alle auf die Stadtmauer gestiegen und haben die Johannisfeuer im Land rundum angeschaut!» Sie ließ Danielle los, lupfte ihre weiten Röcke und tanzte summend im Hof umher. Eine Tür knallte. Es war natürlich Gebba, die, gefolgt von ihrer Magd, ihr Haus verließ, um sich den anderen Beginen zum Kirchgang anzuschließen. Schnalzend vor Empörung rauschte sie an der ehemaligen Hure vorbei. «Welch ein schamloses, kindisches Betragen», zischte sie aus zusammengekniffenen Lippen. Doch Magdalène ließ sich den Spaß nicht verderben: «Komm, Gebba, alter Sauertopf, lach einmal und tanz mit mir! Es ist das Fest des heiligen Johannes!» Sie ergriff Gebba bei den Händen und wirbelte sie ein paar Male herum.

«Om no sap tan dous repaire

Com de Rozer tro qu’a Vensa,

Si com claus mars e Durensa

Ni on tan fis jois s’éclaire!», trällerte sie das alte Lied des Troubadours Peire Vidal:

Ich weiß keinen süßeren Aufenthalt, als den zwischen Vence und Durance,

keinen Ort, der von solcher perfekten Freude erstrahlt 

Die Schwestern, die sich bereits im Hof versammelt hatten, lachten, und Gebba musste gute Miene zum Spiel machen. Der Weg der Beginen führte nun quer durch die Stadt, die Rue de la Fontaine de l’Ange und darauf die belebte Rue Saint Jacques entlang, seit die Kirche Saint Nicolas in ihrer neuen Pracht als Hauptkirche fertiggestellt war. Doch heute ließ man die braunen Schwestern in Frieden.

Selbst Abbé Grégoire war ungewöhnlich gut gelaunt. Er ermahnte seine Gemeinde lediglich, einem Übermaß an Wein zu entsagen, dem Heiligen nicht mit Ausschweifungen Kummer zu bereiten, und entließ sie in den Tag. Schon die ganze Woche hatten die Kinder in den Gassen gezündelt und mussten von ihren Eltern unter Kontrolle gehalten werden. Auf dem Vorplatz der Kirche trugen Bedienstete des Magistrats bereits Stroh und Holz zusammen und schichteten es zu einem gewaltigen Scheiterhaufen auf. Jedes noch so kleine Dorf würde sein eigenes Feuer haben, und da durfte sich die aufstrebende Stadt Pertuis nicht lumpen lassen.

Nach dem Frühstück stellten die Beginen ihren Stand auf der Place de l’Ange auf.

Danielle schleppte Stoffballen und fertig Gewebtes, Kleider, bunte Tücher und einen Korb voller Bänder vom Konvent heran. Das Bänderweben war ihr immer ein besonderes Mysterium gewesen. Es sah nach nicht viel aus: ein flaches, viereckiges Hölzchen, über das die Kettfäden gezogen waren. Aber was dann geschah, hatte sie bis heute weder nachahmen noch verstehen können, es ging so flink in Justines Händen. Am Ende kamen die schönsten gemusterten Bänder heraus. Am Stand riss man sie ihnen förmlich aus den Händen, denn einen hübschen bunten Gürtel oder ein Band im Haar konnten sich sogar die Bauersleute leisten.

«Billiges Zeug! Und die Wolle mit Olivenöl gefettet! In Lyon ist das nicht erlaubt», schnappte eine reiche Bürgerin. Sie nahm einen Stoff nach dem anderen mit spitzen Fingern vom Tisch und ließ ihn wieder fallen.

«Und warum nicht», wollte Manon erbost wissen. «Olivenöl ist gut, sauber und gesund. Sollen wir das Garn etwa mit Butter weich machen, wie die Flamen? Das stinkt doch!»

«Hippokrates hat gesagt: Honig innerlich und Olivenöl äußerlich hält jung und schön», murmelte Danielle.

«Da hört Ihr’s!», rief Manon.

«Was so eine schon weiß», gab die Bürgerin hochnäsig zurück.

«Komm, lass uns woanders kaufen», zischte ihre Begleiterin und zog sie am Ärmel fort. «Das ist doch bloß ein Haufen loser Frauenzimmer, die sich als Nonnen verkleiden.»

Danielle sah ihr mit gerunzelter Stirn nach.

«Die kommt wieder», verkündete Philippa. «Sie will bloß den Preis drücken. Da muss sie sich aber ranhalten. Unsere Stoffe sind hübsch und preiswert. Die gehen weg wie frisches Brot!» Womit sie recht hatte. «Kauft, Leute, und lasst euch nicht lumpen, der Erlös geht an die Armen. Gebt für die Armen, kauft für die Armen! Noch nie war es so angenehm, Gutes zu tun! Kommt! Schaut unsere schönen Stoffe, die bunten Bänder, kunstvoll gewebt! Kauft Leute, kauft für die Armen!»

«Du bist ja eine richtige Marktschreierin!», sagte Danielle. «Ich könnte das nicht.»

«Aber die Leute erwarten das. Sie geben mehr Geld aus, wenn sie sich dabei amüsieren», lachte Philippa.

«Ach je, diesen Kuchen kann man aber nicht verkaufen, der ist ja angebrannt», rief Manon und ließ das anstößige Stück in ihrem Mund verschwinden.

Ein junges Paar ging vorbei. Das Mädchen warf einen sehnsüchtigen Blick auf die gewebten Gürtel.

«Na, junger Mann, wollt Ihr Eurem Liebchen nicht etwas Schönes schenken? Es ist zu Eurem eigenen Besten! Wie könnte sie einen anderen umarmen, wenn sie Euren Gürtel in der Taille spürt?!»

Der junge Mann blieb stehen. Das Mädchen schaute ihn hoffnungsvoll an. Sie hob die Gürtel einen nach dem anderen hoch, besah sich die Muster, prüfte die Länge. Einer stach ihr besonders ins Auge, drei Finger breit, mit einem rotbraunen und gelben Rautenmuster. «Oh, ist der schön!» Sie legte ihn sich um.

«Was soll er kosten?» Er machte sich offenbar Sorgen um seine schmale Börse.

«Was Ihr geben wollt, junger Herr», rief Magdalène.

«Drei Deniers?» Das entsprach dem Gegenwert von einem Viertelscheffel Weizen.

«Was? Drei so kleine Kupferstückchen für die Arbeit eines ganzen Tages und die Wolle und die Farbe dazu? Damit können wir nicht die Weberin ernähren, geschweige denn noch einen einzigen Armen füttern!»

Magdalène zwinkerte Danielle zu. «Kommt schon! Ich kenne Euch! Seid Ihr nicht der Sohn des Salzhändlers Frédéric? Ich glaube doch nicht, dass Euer Herr Vater Euch so knapp hält!»

Ein Publikum hatte sich eingefunden. Die Leute lachten.

«Sechs Deniers

«Sechs lumpige Kupferstücke? He! Ist Euer Liebchen Euch keinen ganzen Sou wert? Ihr habt wohl noch eine andere zu unterhalten, Schlingel!»

Die Leute lachten. Das Mädchen schmollte. Der Junge zog seine Börse und warf Magdalène großspurig einen Sou hin. Sein Mädchen fiel ihm um den Hals und küsste ihn vor allen Leuten auf den Mund.

«Ho!», rief ein älterer Mann. «Und was würdest du mir geben, wenn ich dir den ganzen Stand kaufte?» Das Mädchen schaute ihn kokett an und senkte die langen Wimpern. Unter dem Gelächter der Umstehenden zog der Junge seine Braut weiter.

Laura kam an den Stand, am Arm von Marius. «Ein gesegnetes Saint Jean!», rief sie. «Marius! Kauf mir doch einen von diesen lecker aussehenden Früchtekuchen! Ich habe solchen Appetit! Nein, kauf gleich zwei, oder nein: drei! Für Cathi und deine Mutter!»

«Gern, Liebes. Was du magst, Liebes! Ist es dir auch nicht zu viel? Ist dir nicht zu heiß?» Er hielt sie, als könne sie jeden Augenblick zusammenbrechen, und ließ sie keinen Augenblick aus den Augen. Laura lachte ihn aus: «Ach, nun mach doch nicht ein solches Theater, mein Bärchen. Es geht mir gut. Frauen waren zu allen Zeiten schwanger! Das ist doch nichts Besonderes.»

Aber sie setzte sich gern auf einen Schemel hinter dem Stand und ließ sich von Manon einen Minzsirup bringen. «Darf ich?» Magdalène legte ihre Hand auf den vorgewölbten Leib. «Wie weit ist es denn? Wann wird es so weit sein?»

«Ende des siebten Monats, wenn ich richtig gerechnet habe. Ach, ich wünschte, es wäre schon überstanden, der Rücken tut mir weh und …», sie senkte die Stimme zu einem verschämten Kichern, «ich muss dauernd Wasser lassen. Aber ich freue mich schon so sehr auf das Kind! Es wird bestimmt ein Junge. Ich fühle es genau. Und Marius wird stolz sein wie ein Gockel.»

«Es ist mir nicht wichtig, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird», sagte Mestre Marius. «Hauptsache, es ist gesund, und vor allem: Du nimmst keinen Schaden, mein Goldstückchen, mein Juwel, mein Augenstern». Es schien ein wenig übertrieben, aber man musste wohl Verständnis dafür haben, wenn so ein Herr in gesetztem Alter noch einmal jung heiratete.

«Sind sie nicht rührend», flüsterte Magdalène Danielle zu. «Zwei richtige Turteltauben!» Danielle versetzte es einen winzigen Stich: ‹Das hätte ich sein können›, wusste sie auf einmal. ‹Nun werde ich nie ein eigenes Kind in den Armen halten. Nein, das ist nicht mein Geschick.› Aber sie gönnte Laura ihr Glück von Herzen.

Überall auf den Plätzen herrschte Geschiebe und Gedränge. Die jungen Männer führten ihre Liebchen spazieren, Töchter in gesetztem Alter ihre Mütter. Die älteren Männer standen beisammen und führten ruhige, ernste Gespräche. Horden von rotznasigen Kindern rannten schreiend zwischen den Marktständen herum. Es gab Hausierer, Jongleure und Akrobaten, Zigeunerinnen, die allen eine glänzende Zukunft voraussagten. Und Diebe gab es auch.

Am Nachmittag hatten die Beginen all ihre Vorräte verkauft. Sie durften noch ein wenig durch die Straßen schlendern, in Zweier- und Dreiergruppen.

«Zur Vesper sind alle wieder im Hof!», mahnte Manon, die Älteste.

«Aber bleiben wir denn nicht, um das Feuer anzuschauen?», fragte Danielle. Die älteren Beginen sahen sie empört an. «Unter keinen Umständen», antwortete Juliana streng. »Du weißt doch, dass wir nach Sonnenuntergang den Hof nicht verlassen, und heute Abend schon gar nicht. Da wird getanzt und getrunken, es wird wild und ausgelassen zugehen. Nein: Dabei haben wir nichts verloren.» Aber sie steckte Danielle ein paar kleine Geldstücke zu. «Da! Lass dir ein paar neue Schuhe anmessen. Dort am Brunnen habe ich einen fahrenden Schuhmacher gesehen, der preiswert arbeitet.»

«Komm! Ich weiß, wo!» Magdalène zog Danielle hinter sich her. Der Stand hatte gerade keine Kundschaft, als sie ankamen. Danielle genoss den Duft des saubergegerbten Leders und strich mit den Fingern über die Musterstücke. Ein Paar senffarbene Stiefel stachen ihr ins Auge, aber die waren für eine Begine viel zu auffallend. Sie wandte sich den einfachen braunen Häuten zu und hatte sich gerade für ein weiches dunkelbraunes Ziegenleder als Obermaterial entschieden, als ihr das Stück aus der Hand gerissen wurde.

«Das will ich haben!», ertönte dicht neben ihr eine schrille Stimme. Sie schaute auf und erblickte eine aufgeputzte junge Patrizierin.

Der Schuster blickte auf.

«Aber, aber, meine Damen. Es ist doch genug von allem da.»

«Aber ich will gerade dieses.»

Danielle zuckte die Achseln und wollte sich schon ein anderes aussuchen, aber Magdalène wurde zornig. «Nein, meine Freundin hat das zuerst gesehen. Gebt es wieder her.»

«Ich denke nicht daran! Was will denn diese Bettlerin mit einem guten Leder? Soll sie doch barfuß laufen. So ist sie doch hergekommen, oder nicht?»

Magdalène wollte aufbrausen. «Lass sie doch. Es ist nicht wichtig», sagte Danielle.

Sie wollte sich gerade abwenden, als eine tiefe melodiöse Stimme hinter ihnen sagte: «Das ist sehr ungezogen, Angèle! Entschuldigt Euch sofort, sonst sage ich es Eurer Mutter!» Die junge Dame warf den Kopf hoch und knallte das Stück Leder wieder auf den Tisch.

Die Stimme gehörte Carolus. «Was wolltet Ihr Euch machen lassen? Ah, ich sehe schon.»

Etwas verlegen blickte Danielle auf die abgetragenen Sandalen, die sie aus der Kleiderkammer der Beginen erhalten hatte.

«Kommt hier herüber, stellt Euren Fuß auf den Schemel. Ich muss den Abdruck nehmen», sagte der Schuster.

«Lasst Euch lieber erst ihr Geld zeigen!», rief Angèle. «So eine hat doch gar nicht genug für ein Paar neue Schuhe!»

«Darf ich Euch die Schuhe schenken?», fragte Carolus. Angèle, die junge Patrizierin, sah den jungen Arzt empört an und zischte ihrer Freundin etwas zu.

«Nein, danke. Es ist sehr freundlich, aber es wäre wohl kaum recht, so etwas anzunehmen», sagte Danielle leise.

«Warum denn nicht? Wir nehmen Eure Spende für den Konvent gerne an!», lachte Magdalène Carolus an.

«Mir ist es gleich, wer zahlt. Hauptsache ich bekomme meinen Lohn», schmunzelte der Schuster gutmütig und nahm Stift und Leder, um die Umrisse festzuhalten.

Neugierig blieb Carolus stehen und sah zu, wie Danielle ein ganz klein wenig den bodenlangen Rock anlupfte. «Was für feine, schmale Füße Ihr habt!», entfuhr es ihm bewundernd.

Danielle wurde dunkelrot.

«Kusch!», machte Magdalène. «Wirst du dich wohl umdrehen?» Aber sie zwinkerte Carolus zu. «Und ihr geht gefälligst weiter, ihr zwei dummen Hühner.»

Angèle zog ihre Freundin fort. Sie hörten nicht mehr, wie sie raunte: «Sieh an, der Herr Carolus ist großzügig! Er wird schon was dafür bekommen. Na, warte nur, das sollen gewisse Leute erfahren!»

 

Danielle hatte genug. «Danke, ich komme ein anderes Mal wieder», sagte sie und trat den Rückzug an. Enttäuscht schaute Carolus ihr hinterher. Magdalène beeilte sich, Danielle einzuholen. Als sie außer Hörweite waren, sagte sie:

«Warum läufst du denn weg? Ich glaube, Carolus hat sich gefreut, dich zu sehen. Wir hätten ein paar Schritte mit ihm gehen können.»

Danielle beschleunigte nur ihren Schritt. Das Ganze war ihr peinlich.

«Diese dumme Pute hat es doch nur darauf angelegt, Streit mit uns anzufangen», versuchte Magdalène sie zu beruhigen

«Eben, und ich will keinen», entgegnete Danielle.

Sie schlenderten noch eine Weile in den Gassen herum, probierten reife Mispeln, die ein Bauer ihnen schenkte, und sahen sich ein Puppenspiel an.

«Psst!» Magdalène hielt Danielle am Ärmel zurück, als die Beginen in den Speisesaal strömten. «Ich gehe aber doch die Feuer anschauen – heimlich. Willst du mitkommen?»

«Aber was ist, wenn es jemand bemerkt?»

«Ach, das merkt niemand. Ich mache das jedes Jahr so – als ob ich mir Saint Jean verderben lassen würde! Wir müssen uns nur nach dem Essen freiwillig zum Aufräumen melden. Dann putzen und räumen wir so lange, bis Annik einschläft. Das dauert nie lang. Die ist abends völlig erschöpft! Und dann schleichen wir uns hinaus.»

«Und die Torhüterin?»

«Heute Abend hat Alix Torwache. Wenn wir ihr eine Extraration Wein bringen, schaut sie in die andere Richtung.»

Danielle sah besorgt aus, doch sie hatte das Eingesperrtsein satt.

«Gut», flüsterte sie. «Ich bin dabei. Aber nur auf eine halbe Stunde.»

«Sicher! Wir wollen nur zuschauen, wie sie das Feuer anzünden, und kurz auf die Mauer steigen. Dann gehen wir gleich wieder in den Konvent zurück, und die anderen im Schlafsaal werden denken, wir hätten so lange noch putzen müssen.»

Einige der jüngeren Schwestern wären auch gern noch in der Stadt geblieben, wie man an ihren langen Gesichtern erkennen konnte. «Was würde es schon schaden? Wenn wir zusammenblieben, könnte doch niemand etwas Böses denken», flüsterte Philippa.

«Kommt, kommt», Juliana hatte es gehört und klatschte in die Hände. «Wir haben solche Vergnügungen nicht nötig. Lasst uns beten und essen und eine erbauliche Geschichte hören stattdessen.»

Zum Trost hatte Annik ein Festmahl vorbereitet: gefüllte Schafsfüße mit Steckrüben und einen Brotpudding mit Kirschen und Zimt. Anschließend las Anne ein Kapitel aus der Vita einer Heiligen vor, ein Buch, das dermaßen erbaulich war, dass die Hälfte der guten Beginen bereits schnarchten, bevor sie zum Ende gekommen war. Danielle und Magdalène meldeten sich zum Küchendienst wie verabredet.

«Eine von uns sollte wenigstens morgen früh gehen und etwas Holzkohle vom Johannisfeuer holen, das schützt das Vieh bis nächsten Johannis vor Krankheiten. Nun, vielleicht ist ja morgen früh noch was davon da, wenn wir zur Kirche gehen. Man sagt, das sei ein Aberglaube, aber bei uns hat es immer gewirkt! Also stimmt es», plapperte Annik, während sie das Brot für den nächsten Morgen knetete. «Als ich klein war, hat mein Vater immer einen Walnusszweig über dem Stalleingang verbrannt, und wir mussten alle darunter durchlaufen, während er brannte. Einmal ist meiner Großmutter dabei ein Funken ins Haar gefallen, und sie ist zum Trog gelaufen und hat den Kopf hineingesteckt, um sich zu löschen.» Sie gähnte und rieb sich die Augen mit bemehlten Händen, sodass sie wie eine Schneeeule aussah.

«Arme Annik. Was für ein langer Tag! Du siehst müde aus. Warum legst du dich nicht schon hin. Wir erledigen den Rest», sagte Magdalène.

«Ja, wirklich? Das würdet ihr tun?»

«Aber gewiss, liebe Schwester. Hast du dir nicht heute besonders viel Mühe gegeben und uns mit einer köstlichen Mahlzeit verwöhnt? Dafür wollen wir dich gern etwas entlasten.»

Annik zögerte, ließ den letzten Teigklumpen in die Schüssel fallen und schaute sich in der Küche um. «Nun ja, es müssen noch die Pfannen eingeölt werden und die Ziegenkäslein gewendet und die gedämpften Pflaumen aus der Kammer geholt und in Schüsseln verteilt werden für das Frühstück – sie sind in dem blauen irdenen Topf im zweiten Regal unter dem kleinen Fenster –, und ich wollte auch noch ausfegen, es soll doch alles sauber sein an Saint Jean …»

«Das machen wir alles», beteuerte Magdalène und schob sie sanft hinaus. Als Annik unter Gähnen und Danksagungen verschwunden war, beendeten die zwei Jüngeren rasch ihre Aufgaben. Magdalène füllte einen kleinen Krug mit Wein aus dem Fass im Keller. Unter den Putzlumpen zog sie zwei bestickte Kopftücher hervor, von der Art, wie sie die Bäuerinnen an Festtagen trugen. «Da, leg das um und zieh es dir recht weit ins Gesicht. Dann erkennt uns auf der Straße keiner», flüsterte sie.

Kichernd huschte sie voraus, durch den dämmrigen Hof, zum Tor. Aus Julianas Haus drang noch Kerzenlicht. Das Schwein rumorte in seinem Verschlag. Sonst war alles still.

Als sie durch die Gasse, vorbei am Hospital zum Tor kamen, schaute Alix ihnen schon erwartungsvoll entgegen. Sie streckte beide Hände nach dem Weinkrug aus.

«Ach, Kinder, ihr seid gut zu einer alten Frau», sagte sie. «Es ist ja nicht so, als ob ich eine Säuferin wäre, aber es betäubt meine höllischen Gliederschmerzen, ja, ich trinke lediglich für meine Gesundheit: Wein brennt die ungesunde Dämpfigkeit aus dem Körper, auch wenn Jeanne das nicht einsehen will!» Sie nahm gleich einen tiefen Zug und setzte den Krug dann ab.

«Ah! Das tut gut. So, Kinder, jetzt muss ich zum Abort. Ihr werdet mir in der Zwischenzeit doch keinen Unsinn anstellen, etwa hinausgehen in diesen Trubel da?»

«Nein», beteuerte Magdalène mit unschuldig aufgerissenen Augen. Alix zwinkerte ihnen zu und schlurfte über den Hof zu den Latrinen. Magdalène zog den Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spalt. «Es ist niemand auf der Straße.» Sie schlüpften hinaus. Die Hahnengasse war ruhig, bis auf ein Liebespaar, das engumschlungen in einem Hauseingang stand. Doch von der Place de l’Ange her klang schon ausgelassener Lärm.

Die beiden sorores betraten den Platz. Wo am Tage Marktstände gewesen waren, hatten jetzt Garküchen ihren Betrieb aufgenommen: geröstete Kuttelwürste und gekochte Eier wurden feilgeboten, eine Hammelseite drehte sich am Spieß, Fett tropfte in das Holzkohlenfeuer und in die Pfanne mit dem gekochten Korn und verbreitete einen appetitlichen Duft.

«Hier, Mädchen, esst mit uns! Trinkt!» Becher wurden ihnen entgegengehalten und Messer, an denen Stücke gebratenen Fleisches staken.

«Später!», rief Magdalène. «Wir wollen erst das Johannis-Feuer sehen!»

Sie drängten sich durch die Straßen und wurden mehrmals aufgehalten. Danielle fühlte sich von hinten gepackt und spürte einen heißen Atem an ihrem Hals. Jähe Angst stieg in ihr auf. Ohne nachzudenken stieß sie mit dem Ellbogen zu. Ein Schmerzensschrei zeigte, dass sie allzu gut getroffen hatte. «Au! Wildkatze! Sei doch nicht so grob. Man wird doch noch sein Glück versuchen dürfen?»

Sie riss sich los. Atemlos rannte sie Magdalène hinterher. Gerade rechtzeitig langten sie auf der Place Saint Nicolas an, um zu sehen, wie Abbé Grégoire eine Fackel an die Reisigbündel hielt. Der Scheiterhaufen war übermannshoch, aus Wacholder und gutabgelagertem Obstbaumholz sorgsam aufgebaut. Er fing sofort Feuer. Flammen züngelten an den Scheiten entlang, fraßen sich hinein, nahmen sie in Besitz. Rauch stieg geradewegs zum Nachthimmel. Ein zufriedenes Aufseufzen ging durch die Menge.

Abbé Grégoires Blick glitt über die Zuschauer. Danielle drückte sich in einen Hausschatten. Doch der Priester schien die beiden Beginen nicht zu erkennen.

«Komm», flüsterte Magdalène. «Lass uns auf die Mauer steigen. Ich kenne einige Männer von der Stadtwache, die lassen uns hinauf und verraten uns nicht.»

Danielle mochte nicht darüber nachdenken, auf welche Weise die ehemalige Hure diese Soldaten kennengelernt hatte. Doch was immer früher vorgefallen war: Sie benahmen sich gesittet und forderten keine Gefälligkeiten.

«Guten Abend, Magdalène! Na, wieder mal ausgerückt?» Und: «Grüß dich, du Hübsche. Ach, es ist ein Jammer, dass du unter die Betschwestern gegangen bist!», sagten sie freundlich.

Sie ließen die beiden Beginen in den Wachturm am Schloss, von dem aus sie die beste Sicht ins Tal der Durance haben würden.

«Sie haben nicht einmal versucht, einen Kuss zu stehlen», wunderte sich Danielle halblaut, als die beiden die enge Holztreppe hochstiegen. Ihre Schritte klangen hell und hohl und hallten wider von den Wänden.

«Warum auch? Sie haben akzeptiert, dass ich meine Wahl getroffen habe», erwiderte Magdalène.

«Hm!» Danielle ließ einen Laut des Zweifels hören.

«Ach, warum denkst du nur immer, alle Männer seien schlecht und nur ihren Trieben unterworfen?», fragte ihre Freundin.

Eine Grotte, eine Katakombe, ein Gewölbe unter der Stadt. Die Flammen beleuchten ein Gesicht aus der Vorhölle: Narbig, brutal, die Ohrmuscheln fehlen. «Glaubst du, meinen Schutz kriegst du umsonst?»

Danielle antwortete nicht. Sie waren oben angekommen und betraten die Plattform. Die Luft war cremig und süß wie Butter. Ein goldener Schein erleuchtete den Horizont und würde die ganze Nacht lang nicht vergehen: Es war der längste Tag des Jahres. Rund umher im Land, vom Mont Aventure, über die Durance bis hin zum Rand der Welt, wo die Alpilles im gelben Dunst verschwammen, sprangen nach und nach kleine Feuer auf. Jeder Ort, jedes Dorf, jede einsame Schäferei und jedes mas, die selbstgenügsamen Bauernhöfe in den Hügeln, hatte sein eigenes Johannisfeuer, in dem die Sünden des vergangenen Jahres verbrannten und das die Wünsche mit seinem Rauch in den Himmel trug. Tausend kleine Feuer, tausend mal tausend Feuer – sie verwandelten die weite Ebene in einen irdischen Sternenhimmel.

«Da unten sammeln sie jetzt Johanniskräuter, als ob sie im Dunklen etwas rechtes erkennen könnten! Und morgen müssen die Großmütter das alles auseinandersortieren, was sie da zusammengerupft haben», lachte Magdalène. «Und manches Kind wird heute Nacht gemacht.»

Sie lehnten sich über die Brüstung und schauten, hinter ihnen die Musik und die Stimmen der Stadt, vor ihnen zirpten die Grillen ihren Schattengesang.

«Um nichts in der Welt möchte ich diesen Anblick missen», sagte Magdalène.

In der Stadt war die Stimmung inzwischen ausgelassen. Die hohen Herren samt dem Priester von Saint Nicolas speisten zweifellos im Schloss. Der Scheiterhaufen brannte lichterloh, und die Menge jauchzte jedes Mal, wenn es darin knallte und die Funken stoben. Auf dem Vorplatz der Kirche und in den Straßen wurde getanzt zu galoubet, Flöte und Tambourin. Die Umstehenden klatschten im Takt und ermunterten die Tänzer zu immer wilderen Figuren. Aus den Wirtshäusern klangen die Stimmen jetzt lauter und das Gelächter greller als zuvor. Weiber kreischten in der Rue Galante. Die erste Schlägerei brach aus.

Die Beginen rafften ihre langen Röcke und beeilten sich, nach Hause zu gelangen.

Plötzlich öffnete sich mit einem Ruck die Tür einer Herberge von schlechtem Ruf. Ein menschliches Bündel flog unsanft die Stufen herunter, Danielle vor die Füße. Oben in der Tür erschien ein Männergesicht, aufgedunsen und betrunken, puterrot vor Wut: «Pack dich! Ich tu noch immer, was mir passt, wann immer es mir passt! Jetzt kommst du mir schon ins Freudenhaus hinterhergekrochen! Verschwinde endlich, du hässliche alte Vettel! Ich will dich nie wieder sehen!»

Die Tür krachte ins Schloss. Das Bündel zu Danielles Füßen regte sich und schluchzte. Es war eine Frau, gut gekleidet, mit einer Flechtfrisur, wie sie die besseren Bürgerinnen trugen, nur dass die schöne Haartracht halb aufgelöst war. Strähnen hingen ihr ins Gesicht, und als sie es hob, sah man im Schein der Fackeln, dass sich auf ihrer Wange ein dunkler Fleck zu bilden begann. Danielle biss die Zähne zusammen vor Wut. Gemeinsam halfen sie der Frau auf die unsicheren Füße.

«Habt Ihr Euch weh getan? Könnt Ihr laufen?», fragte Magdalène.

Die Frau nickte benommen.

«Wo sollen wir Euch hinbringen?»

Sie wies mit einer zitternden Hand und schwieg. Danielle und Magdalène stützten sie rechts und links, und so steuerten die drei Frauen durch die Rue de la Fontaine auf das Haus eines stadtbekannten Ölmüllers zu. Davor blieben sie stehen.

«Habt Ihr Hilfe im Haus? Bedienstete? Braucht Ihr ärztlichen Beistand?»

Die Frau sah jetzt erst ihre Retterinnen an.

«Beginen? Ihr seid Beginen? Ihr gehört zu denen aus der Hahnengasse, nicht wahr?»

Danielle nickte und erwartete schon, mit Verachtung fortgescheucht zu werden. Doch die Frau richtete sich auf und rief: «Das ist ein Zeichen des Himmels. Ich will eine von euch werden! Nie und nimmer kehre ich zu meinem Mann zurück. Wartet einen Moment auf mich. Ich bin gleich wieder da!»

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sie die kleine Treppe hoch und bediente heftig den bronzenen Türklopfer. Eine Magd tat ihr auf. Sie stürmte an der verdutzten Bediensteten vorbei und kam nach kurzer Zeit zurück, beladen mit Kleidern und einem Brokattuch, in das sie offenbar eine Reihe von Gegenständen eingewickelt hatte.

«Das ist meine Aussteuer. Sie gehört mir allein! Die lasse ich ihm nicht», erklärte sie. «Und jetzt bringt mich bitte zu eurer Mutter Oberin oder Äbtissin, oder wie immer das bei euch heißt.» Sie stürmte voran, stieß in ihrem Eifer und in ihrer Erregung Passanten rechts und links beiseite. Den beiden erstaunten Beginen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

«Ho! Die hat es aber eilig, von ihrem Alten wegzukommen!», grinste Magdalène.

«Ja, kann sie denn das denn einfach tun?», fragte Danielle etwas atemlos.

«Schon», antwortete Magdalène, die sich mühte, mit der Frau Schritt zu halten, über die Schulter. «Wenn das ihr Ehemann war, den wir vorhin erlebt haben, dann hat er sie verstoßen, und zahllose Zeugen haben es mit angehört.»

Sie erreichten das Tor von Sainte Douceline.

«Aufmachen! Lasst mich sofort ein!», rief die Frau ungeduldig. Alix schaute misstrauisch durch das Fensterchen, sah Danielle und Magdalène und öffnete das Tor. Juliana wurde geweckt. Sie hörte sich die ganze Geschichte an und sagte dann: «Nun gut. Natürlich kannst du heute Nacht bei uns bleiben. Doch gleich morgen früh müssen wir den Vorfall beim Magistrat anzeigen. Du musst deine Aussage machen, und wir müssen Zeugen finden. Aber vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal, wenn du erst eine Nacht darüber geschlafen hast.»

«Auf keinen Fall!», schrie die Frau wie wild. «Ich bleibe nicht bei diesem Vieh!» Sie schlug das Tuch auf und schüttete die darin mitgeschleppten Gegenstände vor Juliana auf den Tisch. Münzen, zwei silberne Kerzenleuchter, ein Bronzeteller, feingetriebene Zinnbecher und allerlei Zierrat polterten heraus, eine mit wertvollen Steinen besetzte Halskette, passende Armbänder und goldene Ohrgehänge. «Da! Ich kann für meinen Unterhalt bezahlen!»

«Das ist gut, aber es geht hier nicht ums Bezahlen. Wir sind keine Herberge», sagte Juliana. «Du musst erst verstehen, worauf du dich hier mit uns einlässt. Es ist bei uns auch nicht eitel Zuckerschlecken! Hast du Kinder?»

«Nicht mehr. Von den acht Kindern, die ich geboren habe, leben drei Söhne, und die sind erwachsen.»

«Dann hast du also niemanden im Stich gelassen. Gut. Schlaf dich erst einmal aus. Morgen reden wir weiter.»

Sie wandte sich an Danielle und Magdalène: «Und ihr beide? Was hattet ihr auf der Straße zu suchen? Des Nachts? In solch einer Nacht noch dazu? Schämt euch, was wirft das für ein Licht auf uns alle? Ich werde mir eine geeignete Strafe für euch ausdenken müssen!»

Damit wandte sie sich um und kehrte kopfschüttelnd in ihr Haus und in ihr Bett zurück. Die Ruhe währte nicht lange:

«Aufmachen! Aufmachen!» Fäuste hämmerten gegen das Tor des Beginenhofes. Das kleine Torhaus hallte davon wider wie ein Glockenturm.

«Wer? Was ist?», stammelte Alix, die ebenfalls eingeschlafen war.

«Garsende! Garsende! Komm sofort heraus!», schrie eine wütende Stimme.

Alix öffnete das Guckloch und spähte hinaus. Drei Kerle standen vor dem Tor, doch sie machten Lärm für mindestens zehn. Es war die graue Stunde kurz vor Sonnenaufgang. Pertuis lag in trunkener Betäubung nach den Ausschweifungen der letzten Nacht. Die Nachbarn fluchten in ihren Betten, mochten sich aber nicht erheben und hofften, dass der Lärm da draußen von selbst aufhören würde.

«Kommt zu einer vernünftigen Zeit wieder, meine Herren! Dann kann man über alles reden», versuchte Alix die Männer zu beruhigen.

«Was gibt es da zu reden, alte Vettel? Gebt mein Weib heraus, oder es soll euch übel bekommen!»

Es blieb nichts anderes übrig, als Juliana zu wecken, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Natürlich war sie davon wenig erbaut. Alix rüttelte die Neue wach. Auch Danielle erwachte.

«Ich komme mit», sagte sie. «Je mehr von uns am Tor sind, desto besser wird es sein!» Sie zog sich ein Überkleid über das Hemd, in dem sie geschlafen hatte. Die Neue klammerte sich verzweifelt an Danielle, während sie zum Tor gingen.

«Ihr werdet mich doch nicht ausliefern?», fragte sie mit zitternder Stimme.

«Wer spricht denn von ‹ausliefern›? Wo denkst du hin?», sagte Juliana. «Hier wird niemand ausgeliefert. Wenn du bei uns bleiben willst, dann ist das dein gutes Recht!»

«Recht haben und Recht behalten sind zweierlei Dinge», murmelte Garsende vor sich hin, als sie am Garten vorbei über den Hof gingen. Sie ließ Danielles Arm nicht einen Augenblick los. Danielle ging sehr gerade.

«Aufmachen! Ihr Jesusschlampen! Gebt meine Garsende heraus!» Die Kerle grölten noch immer in der Gasse herum. Inzwischen schauten doch einige Nachbarn aus den Fenstern.

«Geht nach Hause und schlaft euren Rausch aus!», schrien sie, und: «Hört sofort mit dem Krach auf, sonst komm ich runter!» Erst als der Inhalt eines Nachttopfes über die Tobenden geleert war, wurden sie ein wenig ruhiger.

«Sprich mit ihm!», befahl Juliana Garsende, die am ganzen Körper zitterte.

«Geh nach Hause, Maudru», sagte sie so leise, dass man sie kaum verstand.

«Bist du das, Garsende?», kam es von draußen. Ein erneuter Fausthieb ließ das Tor beben. Die Frau zuckte zurück. «Was fällt dir ein, so einfach fortzulaufen, mitten in der Nacht? Und dich auch noch zu diesen Beginen zu gesellen? Willst du mich zum Gespött der ganzen Stadt machen, Garsende? Sofort kommst du heraus, hörst du?»

«Ich komme nicht», sagte Garsende.

«Dann kommen wir hinein, und gnade dir Gott, wenn du mich dazu zwingst, Weib!»

«Das würde ich euch aber nicht raten», rief Danielle, «dass ihr gewaltsam hier einzudringen versucht! Wir haben hier ein hübsches Mörderloch. Auf euch wartet ein Kessel siedenden Öls, solltet ihr es doch wagen!» Juliana schaute streng: «Du sollst nicht lügen», formten ihre Lippen, doch die Drohung tat ihre Wirkung, und Danielle glaubte, ein leises Lächeln um Julianas Lippen ausmachen zu können.

«Ihr seid ja verrückt, ihr Beginen-Weiber! Es ist eine Schande, dass man euch gewähren lässt. Lockt brave Ehefrauen von ihren Männern und Kindern fort! Morgen kommen wir mit der Stadtwache wieder, und dann müsst ihr sie herausgeben. Hörst du, Garsende, und dann kriegst du die Prügel deines Lebens, das schwöre ich dir!»

«Gebt Ruhe! Wir wollen schlafen!», riefen die Nachbarn.

Ein letzter Fausthieb, von dem die Tür erzitterte. Garsende zuckte zusammen.

Die Kerle zogen ab.

Garsende schmiegte sich an Danielle, die schützend einen Arm um sie gelegt hatte.

«Diesmal bringt er mich ganz gewiss um», schluchzte sie. «Ich hasse ihn!»

«Nun, nun, es ist nicht gut, von Hass zu reden oder ihn in sich zuzulassen», sagte Juliana, «sei er auch noch so verständlich. Jetzt geht schlafen, Kinder, nur noch ein Stündchen, bis unser Tag beginnt. Dann sehen wir weiter.»

Garsende ließ sich von Danielle in den Schlafsaal geleiten, ins Bett bringen und zudecken wie ein Kind. Erst als sie erschöpft einschlief, ließ sie Danielles Hand los.

Magdalène hatte alles von ihrem Lager aus beobachtet.

«Häng nur nicht dein Herz an sie», flüsterte sie, als Danielle sich neben sie legte. «Die geht zurück zu ihrem Mann.»

«Das glaube ich nicht», antwortete Danielle leise. «Hast du nicht gehört und gesehen, wie er sie behandelt hat?»

«Ach, das ist leider gar nicht ungewöhnlich. Und die meisten von ihnen bleiben lieber bei ihren Peinigern, als die Unsicherheiten eines selbstbestimmten Lebens auf sich zu nehmen.»

Danielle drehte Magdalène den Rücken zu.