52. KAPITEL

Taylor und Baldwin wühlten sich durch Reese Connollys Leben. Sein kleiner Zweizimmer-Bungalow im West End war einfach, sauber und enthielt nur wenige Hinweise auf die Persönlichkeit des Mörders, der innerhalb dieser Wände wohnte. Im Moment wurde gerade der hintere Garten umgegraben. Marcus war frisch aufgeworfene Erde aufgefallen, und weitere Untersuchungen hatten sechs perfekte Hügel gezeigt, die in vollkommener Symmetrie nebeneinanderlagen. Im ersten Grab fanden sie eine verweste Frauenhand. Sehr vorsichtig wurden danach die Überreste aus den anderen Minigräbern ausgehoben.

Taylors Handy klingelte, und seufzend hielt sie inne und ging ran. Sogar die einfachste Tätigkeit war ermüdend. Auf das, was sie zu hören bekam, war sie nicht vorbereitet.

Quinn Buckley schrie hysterisch ins Telefon. Vergeblich versuchte Taylor, sie zu beruhigen. Sie schnappte nur ein paar Informationsbrocken auf – dass Quinns Kinder vermisst wurden und dass Quinn per Telefon angewiesen worden war, sich an den Platz zu begeben, wo sie und ihre Schwester an dem Tag gespielt hatten, als sie entführt worden waren. Taylor erinnerte sich aus der Akte, dass sich dieser Ort hinter dem alten Elternhaus draußen am Belle Meade Boulevard befand.

Die Mordkommission teilte sich auf. Taylor und Baldwin rasten zu dem Park. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Reeses Haus hatte guten Anschluss an die Hauptstraßen, und ohne Probleme segelten sie durch die Nacht.

Taylor und Baldwin waren angespannt. Sie sprachen nicht, stimmten sich aufeinander ein, bereiteten sich emotional auf die Situation vor. Wenn Kinder involviert waren, konnten die Ergebnisse herzzerreißend schlecht sein. Sie hatten beide schon gesehen, was häusliche Gewalt anrichten konnte. Wenn das, was Quinn sagte, stimmte, mussten sie ihre ganze Energie darauf konzentrieren, die Kinder sicher aus der Situation herauszubekommen.

Sie bogen in den Belle Meade Boulevard ein, und Taylor zählte die Hausnummern runter, bis sie das Haus erreicht hatten, das den Connollys gehört hatte, als die beiden noch Kinder gewesen waren. Sie fuhren die Auffahrt hinauf. Quinn hatte erwähnt, dass das Haus vor Kurzem verkauft worden war, aber noch leer stand. Mit etwas Glück waren die neuen Hausbesitzer also heute Abend nicht anwesend.

Taylor setzte wieder auf die Straße zurück und fuhr an den Rand des Boulevards. Dort schaltete sie die Scheinwerfer aus. Die vor ihnen ausgebreitete Schattenwelt schimmerte im Licht des Vollmonds. Baldwin und sie sprangen über den Zaun und suchten sich vorsichtig einen Weg hinauf zum Haus. Zwei Autos standen in der kiesbedeckten Einfahrt.

Taylor erkannte den flaschengrünen Jaguar, der in Quinns Einfahrt gestanden hatte. Den anderen Wagen, einen schwarzer Wrangler Jeep mit Stoffverdeck, hatte sie noch nie gesehen. Per Funk gab sie die Kennzeichen durch. Das Auto war auf Reese Connolly registriert.

Es war also so weit. Alle Spuren, die Fehltritte, die Tode der letzten zwei Wochen würden in diesem letzten Augenblick zusammenkommen. Reese Connollys letztes Duell mit der Welt. Und seine Adjutanten dabei, das waren zwei unschuldige Kinder.

Taylor und Baldwin schlichen um das Haus herum, das still in der Dunkelheit lag. Ihre einzige Chance, Quinn und den Kindern zu helfen, war, das Überraschungsmoment zu nutzen. Reese wusste nicht, dass sie hierherkommen würden, bereit, ihn zu verhaften. Oder Schlimmeres, wenn nötig.

“Wie willst du es angehen?”, flüsterte Taylor, deren Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten. Der Mond gab genug Licht, um einigermaßen sehen zu können.

“Lass es uns langsam angehen. Durch den Wald. Mit etwas Glück hat Quinn übertrieben. Wir schleichen uns an und gucken erst mal, was los ist. Vielleicht müssen wir gar nicht eingreifen.”

Taylors Hand fand wie von selbst den vertrauten Weg zu ihrer Glock, die zu allem bereit im Holster an ihrer rechten Hüfte steckte. Sie öffnete den Verschluss des Holsters und hörte an einem Echo von rechts, dass Baldwin es ihr gleich getan hatte. Sie bedeutete ihm, voranzugehen. Dann schaltete sie ihre Taschenlampe ein und bedeckte sie seitlich mit ihrer freien Hand, damit sie nicht gesehen würden. Langsam arbeiteten sie sich zu dem großen Garten auf der Rückseite des Hauses vor.

“Da hindurch”, flüsterte Baldwin und zeigte auf eine kleine Öffnung zwischen den Bäumen. “Das sollte der Weg zu der Lichtung sein.”

Sie schlichen weiter, wischten sich Äste und Spinnenweben von ihren Gesichtern. Nach ungefähr fünfzig Metern wurde der Weg breiter. Vor sich konnten sie die Lichtung sehen.

Vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen, glitt Taylor hinter einem Baum hervor. Baldwin folgte ihr auf den Fersen. Sie konnte bereits die Schluchzer hören, ein Bitten, und die kräftige Stimme des Mannes, der acht Leben auf dem Gewissen hatte.

“Hör auf zu heulen, Quinn, davon bekommst du nur ein aufgequollenes Gesicht. Du willst doch aber morgen gut aussehen für die Kameras, oder? Du willst die frische und hübsche Mom von nebenan sein, die auf ihre zurückhaltende Art um den Tod ihrer Kinder und ihres einzigen Bruders trauert und weint. Oh, aber das stimmt ja so nicht, oder? Ich bin gar nicht dein Bruder. Sondern nur ein armes Kind, dem niemand zutraute, mit der Wahrheit umgehen zu können. Du und Whitney, ihr habt es zugelassen, Quinn. Ihr habt ihnen erlaubt, die Lüge zu verbreiten.” Ein Rascheln und ein dünnes, hohes Quieken klangen durch die Dunkelheit. Eines der Kinder hatte aufgeschrien und war zum Schweigen gebracht worden.

Quinns Stimme erstickte vor Gefühlen. “Reese, du verstehst das nicht. Du kannst es auch nicht verstehen. Wir waren zwölf Jahre alt, Reese. Zwölf! Unsere Unschuld wurde uns auf einer Couch genommen, die nach Bier und Schweiß stank. Bitte, Reese, meine Kinder haben hiermit nichts zu tun. Du und ich, wir haben viel, worüber wir reden müssen, was wir verarbeiten müssen. Ich werde dir auf jede nur erdenkliche Weise helfen. Ich bringe dich außer Landes, damit du nicht vor Gericht musst. Aber bitte, Reese, lass meine Kinder gehen. Sie sind unschuldig und sollten nicht für die Sünden ihrer Mutter bestraft werden.”

Quinn bettelte jetzt. Ihre Stimme als Deckung nutzend, trat Taylor noch ein Stückchen näher heran. Mit gezogener und entsicherter Waffe lehnte sie sich gegen einen jungen Baum. Vorsichtig spähte sie um den Stamm herum. Quinn stand ungefähr zehn Meter von ihr entfernt. Sie konnte sie im Mondlicht deutlich erkennen. Reese hingegen war außerhalb ihres Sichtfelds; eine körperlose Stimme, die durch die Nacht schallte. Auch die Kinder konnte sie nicht sehen. Mist. Das wäre ein Schuss ins Blaue. Das konnte sie nicht riskieren. Noch nicht.

Quinn versuchte weiter, Reese zu überreden, ihr die Kinder zu geben. Sie musste angefangen haben sich zu bewegen, denn plötzlich ertönte Reeses Stimme, klar und kalt.

“Keinen Schritt weiter, Quinn. Das Messer, das ich an die Kehle des süßen Jake Junior halte, könnte ausrutschen, und seine Zeit wird schnell ablaufen, wenn du noch näher kommst.”

In einer Geste der Unterwerfung hob Quinn die Hände und trat dann ein paar Schritte zurück. Sie gab es auf, um das Leben ihrer Kinder zu verhandeln, und versuchte stattdessen, Antworten von Reese zu erhalten. Gutes Mädchen, dachte Taylor. Sorg dafür, dass er weiterredet, damit wir ihn einkreisen und abschneiden können. Sie schickte diese mentale Botschaft an Quinn und hoffte, dass die Frau ihre Gegenwart spürte.

Baldwin fing Taylors Blick auf. Er hielt eine Hand mit gespreizten Fingern hoch. Fünf Minuten, wollte er damit sagen. Gib mir fünf Minuten, um meinen Platz einzunehmen, dann holen wir ihn uns. Sie nickte und beobachtete, wie Baldwin davonkroch. Hoffentlich konnte Quinn ihn noch für fünf Minuten ablenken.

Taylor richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Unterhaltung, die Quinn und Reese führten.

“Reese, Honey, bitte sag mir, warum. Warum hast du all diese Mädchen getötet? Was hat dich so verrückt werden lassen?”

“ICH BIN NICHT VERRÜCKT!”, brüllte er, und eines der Kinder stieß einen wimmernden Schrei aus. “Halts Maul, du kleiner Scheißer. Halts Maul, oder ich bring dich um, hast du mich verstanden? Quinn, Bemerkungen wie diese können deine Kinder umbringen. Aber ich beantworte deine Frage trotzdem. Ich habe es für meine Mutter getan.”

“Reese, du weißt nicht …”

Er unterbrach sie. “Sag mir nicht, was ich nicht weiß. Ich weiß es, okay? Ich weiß es, seit ich vierzehn bin. Alt genug, um es zu verstehen, meine ich. Mommy ist vergewaltigt worden und hat ein Baby bekommen. Ich wusste damals schon alles über Bienen und Blumen, Quinn. Alles, was du hättest tun müssen, alles, was ihr alle hättet tun müssen, wäre gewesen, mir die Wahrheit zu sagen. Dann würden wir jetzt nicht hier stehen. Aber das habt ihr nicht getan. Ihr habt es vertuscht, euch für mich geschämt; euch für das geschämt, was passiert ist.

An dem Tag, an dem eure Eltern gestorben sind, habe ich Whitneys Tagebuch gelesen. Da habe ich es endlich verstanden. Sie war so stark, wollte die Welt so gerne wissen lassen, dass ich ihr Sohn bin. Auch wenn sie es nie zugegeben hat, ich wusste es. Ich konnte es an der Art sehen, wie sie mich angeschaut hat. Als ich älter wurde, hat sie sich mir entzogen. Sie wollte nicht zugeben müssen, wie falsch sie gehandelt hatte. Aber ich hätte ihr vergeben, Quinn. Ich hätte meiner Mutter alles vergeben.”

Taylor schob sich ein Stück um den Baum herum und versuchte, eine Position zu finden, in der sie Reese sehen konnte. Wohlüberlegt huschte sie von einem Baum zum nächsten. Nach zwei Minuten konnte sie Quinn beinahe berühren, so nah war sie ihr. Noch drei Minuten.

Reese fuhr in seiner Tirade fort. “Ich habe das Naheliegende getan. Wenn meine Mommy mich nicht anerkennen wollte, vielleicht würde es ja mein Vater tun. Und das hat er. Du erinnerst dich an Daddy, oder nicht, Quinn? Nathan Chase? Ich bin sicher, dass er sich gerne an euch erinnert. Nein, versteh mich nicht falsch, ich sage nicht, dass es richtig war, was er getan hat.” Für einen kurzen Augenblick brach seine Stimme. “Ich sage auch nicht, dass es richtig war, was ich getan habe. Aber es musste sein. Ich musste meiner Mutter helfen.” Seine Stimme wurde wieder stärker.

“Das war meine beste Idee. Etwas, das Whitneys Aufmerksamkeit wecken würde. Etwas, das sie zum Star machen würde. Du weißt, wie sehr sie Reporterin bei einem nationalen Fernsehsender sein wollte. Du weißt auch, was sie alles auf sich genommen hat, um perfekt zu sein. Sie brauchte nur diese eine Story, mit der sie aus der Masse herausstechen konnte. Und die habe ich ihr gegeben.”

Quinns Atem wurde flach. “Du willst mir erzählen, dass du acht Mädchen getötet hast, um Whitney zu einer Story zu verhelfen? Das ist alles, worum es ging?”

“Sieben. Die eine kleine Schlampe ist mir einfach weggestorben. Es war eine wundervolle Idee. Etwas, das nationale Aufmerksamkeit erringen würde. Vor allem das Transportieren der Leichen von einem Staat zum anderen und das Hinterlassen einer Hand. Ich wusste, dass dadurch die richtigen Leute hinzugezogen und alles herrlich dramatisiert werden würde. Ich dachte, es wäre passend, da doch meine echte Mutter mich nie mit ihren Händen berührt, mich nie als ihren Sohn in den Armen gehalten hat. Anfangs fehlte mir der Mut, aber je öfter ich es tat, desto mehr habe ich mich daran gewöhnt.”

Das Erbrochene, dachte Taylor. Am ersten Tatort. Er war so verängstigt und nervös gewesen, dass er sich übergeben hatte. Das erklärte auch, warum er an Susan Palmers Handgelenken mehrfach angesetzt hatte. Wenn er damals doch nur aufgehört hätte.

Aber Reese fing jetzt an aufzuschneiden. Und es gab keine Hoffnung mehr, dass er gesund im Kopf war.

“Ich wurde richtig gut darin. Fing sogar an Spaß daran zu haben. Und gleichzeitig habe ich deinen blöden Mann aus dem Weg geräumt. Ich hab ihn so perfekt in die Falle gelockt.” Reese klang wie ein kleines Kind. Ein Kind, das für sein gutes Benehmen einen Klaps auf die Schulter haben wollte.

“Ich hab das alles für sie getan, Quinn. Tief in mir wusste ich, wenn ich ihr helfen würde, würde sie mich wieder lieben, so wie früher, als wir noch Kinder waren. Ich bin ihr Sohn, verdammt noch mal. Jetzt ist sie auch weg, und meine ganze harte Arbeit war umsonst. Umsonst!” Sein Schrei hallte durch die dunkle Leere des Parks, und Taylor nutzte den Moment, um aus den Schatten zu treten, die Waffe in die Richtung von Reeses Stimme gerichtet. In der Sekunde, als sie hinter Quinn war, konnte sie ihn sehen, eine Silhouette gegen den Nachthimmel. Sie konnte auch Baldwin sehen, der sich langsam von links auf Reese zubewegte. Sie waren in Position, würden ihn aufhalten können.

Quinn hatte die letzten paar Minuten geschwiegen. Jetzt sprach sie wieder, ihre Stimme klar und kräftig, als wenn sie tief in ihrer Seele eine Entscheidung getroffen hätte. “Gib mir meine Kinder, Reese. Ich werde dafür sorgen, dass du nicht ins Gefängnis kommst. Dass du frei bleibst. Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist. Es tut mir leid, dass du dich genötigt gefühlt hast, zu töten, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken. Sei dir sicher, du hast sie jetzt. Du warst böse, Reese, ein sehr böser Junge. Aber ich kann dich da rausholen. Lass nur die Zwillinge gehen, und ich werde dir helfen.”

Quinn begann auf Reese zuzugehen. Aus dem Augenwinkel sah Taylor etwas in ihrer Hand aufblitzen. Oh verdammt, das war genau das, was sie jetzt brauchten: Quinn wollte die Heldin spielen! Sie hatte sich eine Waffe verschafft und sie zu dem Duell mit Reese mitgebracht. Taylor musste sie aufhalten, bevor es zu spät war. Sie trat aus dem Schatten hinter Quinn, und Reese sah sie zum ersten Mal. Er bekam Panik.

“Quinn, wer zum Teufel ist das? Hast du die Cops gerufen? Ich habe dir gesagt, dass du die Cops da raushalten sollst. Ich wollte mir dir reden. Jetzt sieh, was du getan hast. Du lässt mir keine andere Wahl.”

Taylor hörte das Messer zischen und brüllte Reese an.

“Lassen Sie das Messer fallen! Lassen Sie es los, Reese! Es gibt keinen Ausweg für Sie, wenn Sie nicht das Messer fallen und die Kinder gehen lassen. Wenn Sie das getan haben, können wir reden. Aber jetzt lassen Sie das Messer los, Reese.” Sie trat näher an Quinn heran. “Bewegen Sie sich nicht, Quinn. Bleiben Sie, wo Sie sind. Lassen Sie uns die Sache regeln.”

Langsam und vorsichtig näherte sie sich Reese. Er sah überrascht aus, verwirrt, und plötzlich ertönte Baldwins Stimme hinter ihm.

“Wir haben Sie umzingelt, Reese. Lassen Sie das Messer fallen, und Sie kommen lebend aus dieser Situation heraus.”

Quinn ignorierte Taylors Anweisungen und sprach weiter zu ihrem Bruder, wobei sie sich ihm langsam, aber stetig näherte, verzweifelt bemüht, ihre Kinder zu retten. “Reese, das kannst du nicht tun. Du kannst nicht deinen eigenen Bruder töten. Reese, hör mir zu. Jake Junior ist dein Bruder, Jillian ist deine Schwester. Verstehst du, was ich sage? Es sind deine Geschwister, Reese. Du kannst sie nicht töten.” Kurz blitzte Licht in Quinns Augen auf, zeigte die Tränen, die ihr über die Wangen rollten. “Bitte, Reese. Bitte.”

Reese wurde immer nervöser. Taylor sah, wie die Spitze des Messers verschwand und ein schmaler Blutstropfen an Jake Juniors Hals herunterrann. Jillian fing an zu weinen. Dieser Anblick war zu viel für Quinn.

Sie rannte los, überbrückte die letzten Meter in wenigen Sekunden. Taylor versuchte sie zu fassen, aber sie war zu schnell. Wie ein Reh, das aus dem Gebüsch aufgeschreckt wurde. Die Waffe war jetzt klar sichtbar und auf Reese gerichtet.

“Quinn, nicht!”, schrie Taylor, aber es war zu spät. Quinn blieb ein paar Schritte vor Reese stehen, zielte und drückte ab. Reese fiel zu Boden, bevor Taylors Schrei ganz verklungen war. Die Kinder liefen zu ihrer Mutter, schlangen ihre Arme um ihre Beine und verbargen ihre Köpfe an ihrer Taille.

Taylor eilte zu Reese. Er lag still auf dem Boden, ein Loch in der Brust, aus dem das Blut wie eine Fontäne schoss. Taylor erkannte, dass er zu schnell Blut verlor. Sie würden ihn nicht retten können, wenn nicht sofort Hilfe einträfe. Sie nahm ihr Funkgerät und gab die Meldung durch, dass dringend ein Krankenwagen für ein Schussopfer benötigt wurde.

Baldwin tastete Reese ab, um sicherzustellen, dass er keine weiteren Waffen bei sich trug. Das Messer, das Reese vorher in der Hand gehalten hatten, steckte er ein und nickte Taylor dann zu. Er war sauber. Vorsichtshalber hielt er seine Waffe weiter auf Reese gerichtet, auch wenn es nicht so aussah, als wäre es notwendig.

Taylor drehte sich zu Quinn um, die ihre Waffe immer noch auf Brusthöhe hielt. “Gib mir jetzt die Pistole, Quinn. Ja, genau, so ist es richtig. Gutes Mädchen.” Quinn schaute Taylor an, als wäre sie eine Fremde. Die Hand mit der Waffe war ganz schlaff, und sie leistete keinen Widerstand, als Taylor ihr die Pistole entwand. Sobald sie die Waffe nicht mehr hielt, brach Quinn zusammen. Sie schlang die Arme um ihre Kinder und weinte vor Erleichterung. Taylor sicherte die Waffe, entnahm das Magazin und die Kugeln, die sie dann in ihre Tasche steckte. Die Pistole wanderte in den Hosenbund ihrer Jeans.

Quinn riss sich zusammen und sprach zu ihren Kindern. “Bleibt einen Moment bei der Lady. Ich muss mit eurem Onkel reden.” Die Kinder gehorchten. Sie waren viel zu verängstigt, um zu widersprechen, und drängten sich dicht an Taylors Beine. Abwesend tätschelte Taylor ihre Köpfe, während sie Quinn beobachtete.

Für einen Augenblick stand Quinn über dem Mann, den sie angeschossen hatte, und wartete darauf, dass ihre Blicke sich trafen. Endlich schaffte er es, seine Augen auf sie zu fokussieren. Sie schaute sich auf der Suche nach Anleitung zu Baldwin und Taylor um.

“Berühren Sie ihn bitte nicht, Quinn. Sie haben ihn in die Brust getroffen, seine Lunge ist bereits kollabiert. Ich weiß nicht, ob er es schafft.”

“Ich muss nur kurz mit ihm sprechen.” Tränen rannen ihre Wange hinab. Sie kniete sich neben Reese, ihre Stimme war leise, aber bestimmt.

“Reese, ich bin deine Mutter. Es tut mir so leid. Du hattest recht, wir hätten es dir sagen sollen.”

Reeses Stimme klang pfeifend, schmerzerfüllt. “Nein, da liegst du falsch. Whitney war’s. Whitney war meine Mutter.” Er hustete, und eine Blutblase erschien auf seinen Lippen. Er war schwer verletzt.

Quinn schüttelte den Kopf. “Nein, das stimmt nicht. Ich war es. Sie haben uns beide nach der Entführung abgeschirmt, aber ich war diejenige, die schwanger war.”

Reese versuchte zu sprechen und stöhnte vor Schmerz. “Aber … Nathan … hat mir gesagt … er hätte Whitney … vergewaltigt, nicht … dich.”

“Oh Reese. Wir sind eineiige Zwillinge. Er wusste nicht, wer von uns wer war. Wir haben es ihm nie gesagt.”

Aus der Ferne drang schwach das Heulen der Sirenen an ihre Ohren und wurde stetig lauter. Taylor flüsterte den Kindern zu, dort stehen zu bleiben, und ging zu Quinn hinüber.

“Sie müssen jetzt zurücktreten, Quinn. Wir müssen Platz machen, damit die Ärzte sich um Reese kümmern können.” Taylor bemerkte, wie wächsern seine Haut bereits war, und sah das Licht in seinen Augen schwächer werden, als er um Luft rang. Seltsam, weder sie noch Baldwin hatten irgendwelche Anstalten gemacht, ihm zu helfen. Sie nahm an, dass es der Situation angemessen war.

Quinn hockte auf dem Boden, strich Reese das Haar aus der Stirn, murmelte tröstende Worte. Das Blut floss stetig und stark aus der Wunde in seiner Brust, und Taylor konnte den Schweiß auf seiner Oberlippe glitzern sehen. Flüsternd antwortete er Quinn, wiederholte dieselben Wörter wieder und wieder. “Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.”

Die Sirene durchschnitt die Nacht. Der Krankenwagen hielt auf der Straße, und die Sanitäter kamen durch den Wald gelaufen. Taylor zog Quinn zurück.

“Wir müssen ihnen etwas Platz lassen, Quinn. Bleiben Sie einen Moment hier bei mir.”

Baldwin trat ins Licht und legte eine Hand auf Quinns Arm. “Lassen Sie die Männer ihre Arbeit tun, Quinn. Sie müssen jetzt bitte mit mir hier zur Seite treten.”

Baldwin winkte dem Streifenpolizisten, der den Krankenwagen begleitet hatte. “Bitte bringen Sie Mrs. Buckley zu ihrem Auto. Sie muss sich setzen.” Der Mann führte sie galant davon.

Taylor hob eine Augenbraue. “Werden wir sie anklagen müssen?”

“Sie hat gerade einen Menschen angeschossen. Ich denke, es gibt ausreichende Beweise, um auf Selbstverteidigung zu plädieren, aber wir müssen sie erst mal von hier fortschaffen.”

Quinn setzte sich mit niedergeschlagenen Augen in den Streifenwagen. Baldwin bedeutete einem anderen Polizisten, sich um die Kinder zu kümmern. Sie waren zum Glück nicht verletzt, sondern nur erschrocken und durcheinander. Einer der Sanitäter untersuchte sie kurz. Sie würden wieder in Ordnung kommen. Sie wurden zu ihrer Mutter in den Wagen gesetzt, die sie in die Arme nahm und ihre Köpfe an ihre Schulter drückte. Baldwin beobachtete sie einen Moment. An diese Nacht würden sie sich ein Leben lang erinnern, dessen war er sicher. Er wandte sich wieder dem Mittelpunkt der heutigen Ereignisse zu.

Die Sanitäter hoben Reese auf eine Trage, um ihn zum Krankenwagen zu bringen. Taylor ging zu ihnen.

“Wird er es schaffen?”

Die Hände der Sanitäter waren glitschig von Reeses Blut. “Ja, wir sollten ihn eigentlich ohne größere Probleme ins Krankenhaus bringen können. Ein Zentimeter weiter unten, und er hätte es nicht geschafft. Verdammtes Glück gehabt, der Bursche.”

“Dann warten Sie bitte einen Moment.” Sie zog die Handschellen aus ihrer hinteren Hosentasche und griff nach Reeses Arm. Er stöhnte und fluchte, verwirrt vor Schmerz und Blutverlust. Sie ließ die Handschelle um sein Handgelenk schnappen und befestigte das andere Ende an der Trage.

“Er steht unter Arrest. Sie dürfen ihm die Handschelle auf keinen Fall abnehmen, haben Sie das verstanden?”

Der Sanitäter setzte an, zu protestieren. “Aber wir können doch nicht …”

“Denken Sie nicht einmal daran, mit mir diskutieren zu wollen. Ich treffe Sie am Krankenhaus. Und jetzt ab mit Ihnen.”

Sie ging die paar Schritte zu Baldwin zurück, ein Lächeln auf dem Gesicht.

“Wir haben ihn.”