14. KAPITEL
Als Baldwin und Grimes auf dem Parkplatz des Community Hospitals ankamen, sah Baldwin eine Schar Leute in der nordöstlichen Ecke stehen. Hitzewellen strahlten vom Asphalt ab. Grimes stellte den Wagen ein paar Parklücken entfernt ab, stieg aus und ging direkt auf einen großen, dunkelhäutigen Mann mit beeindruckenden Schultern und rasiertem Schädel zu. Er hielt sich kerzengrade, und aus der Entfernung schätzte Baldwin ihn als ehemaligen Militärangehörigen ein. Er folgte Grimes und streckte die Hand für die üblichen Vorstellungs- und Begrüßungsrituale aus. Zu seiner Überraschung schenkte der Sheriff ihm jedoch ein breites Lächeln. Er war jünger, als er anfangs ausgesehen hatte, und Baldwin atmete erleichtert aus. Manchmal waren die Polizisten vor Ort nicht begeistert darüber, mit dem FBI zusammenarbeiten zu müssen, und manchmal störte sie es auch nicht.
“Sheriff Terrence Pascoe”, donnerte der Mann. “Sie müssen John Baldwin sein. Ich habe ihren Artikel über wutmotivierte, sadistische Mörder im Law Enforcement Bulletin gelesen. Sehr gut. Schön, Sie hierzuhaben. Und tut mir leid, dass es so heiß ist.”
“Danke, Sheriff. Um diese Jahreszeit ist es in Nashville nicht viel besser. Agent Grimes hat mir gesagt, dass Sie das Auto abschleppen lassen wollen. Danke, dass Sie damit auf uns gewartet haben.”
“Kein Problem.” Er reichte Baldwin einen Umschlag. “Hier, die Fotos vom Fundort. Hat sich nicht viel verändert, außer dass wir die Schlüssel unter dem Wagen hervorgeholt und ihr Handy herausgenommen haben, für den Fall, dass irgendwelche Anrufe eingehen.” Er hielt eine Tüte mit dem Handy hoch. “Ist bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden, also hab ich es einfach bei mir behalten, bis ich es den Jungs von der Beweissicherung übergebe. Wir haben darauf nur die Abdrücke des Opfers gefunden. Genau wie am Auto. Keine anderen Abdrücke außer ihre und die ihres Verlobten, was nicht weiter überraschend ist. Wir haben mit ihm gesprochen und ihn dann nach Hause geschickt. Er betet, dass sie ihn anruft. Scheint ein feiner Kerl zu sein. Ich bezweifle, dass er hiermit etwas zu tun hat.”
Noble mochte zwar vielleicht eine kleine, arme Stadt sein, aber sie hatte einen erstklassigen Sheriff. Baldwin nickte ihm dankbar zu, nahm den Umschlag und warf einen Blick auf die hochauflösenden Fotos darin. Der Sheriff hatte recht; außer den Schlüsseln unter dem Wagen war die Szenerie genau dieselbe.
Baldwin zog ein Paar Handschuhe aus seiner Tasche und quetschte sich in den kleinen BMW. Er war dankbar, dass sie die Tür offen gelassen hatten, es mussten knapp fünfzig Grad hier drin geherrscht haben. Er fühlte zwischen den Sitzen, bemerkte den Mangel an Chaos, den man normalerweise in einem von einer Frau gefahrenen Auto vorfand. Es war sehr sauber, perfekt organisiert und erzählte eine eindeutige Geschichte über Marni Fischer.
Sie hielt sich in Form. Da lag eine Sporttasche auf dem Rücksitz. Baldwin schaute kurz rein – Lycra-Shorts, ein T-Shirt, Socken und professionelle Laufschuhe. Eine Bürste, ein Föhn und kleine Duschgel- und Haarshampooflaschen vervollständigten den Inhalt. Neben der Tasche lagen medizinische Lehrbücher. Auf der Mittelkonsole fand er einen Lippenstift, Haargummis und die klassische Aviator-Sonnenbrille von Ray-Ban. Das Übliche.
Baldwin arbeitete sich durch das Auto und fand nichts Ungewöhnliches. Als er das Handschuhfach öffnete, flatterte ein Stück Papier zu Boden. Er fasste es vorsichtig an einer Ecke an und warf dem Sheriff einen fragenden Blick zu. “Haben Ihre Jungs das gesehen?”
“Ist noch nicht auf Fingerabdrücke untersucht worden, falls Sie das meinen. Ich hab’s gelesen, ist nur ein Gedicht. Ich nehme an, dass ihr Freund es ihr geschenkt hat.”
Baldwin stieg aus dem Auto und betrachtete den Zettel eingehend. Es war ein Gedicht. Ein Liebesgedicht. Auf ein schlichtes weißes Stück Papier gedruckt. Er war nicht überrascht, dass der Sheriff nicht darüber gestolpert war; unter normalen Umständen würde es keinem auffallen. Aber Baldwin war ein Profiler, und seine Alarmglocken begannen zu schrillen, als er die Zeilen las.
So gefangen zu sein,
so beherrscht vom rohen Blut der Luft,
hatte sie sich sein Wissen mit seiner Macht angeeignet,
bevor der gleichgültige Schnabel sie fallen lassen konnte?
“Yeats”, murmelte er. Grimes und der Sheriff schauten ihn neugierig an.
“Glauben Sie wirklich, dass ein Gedicht die Wende in diesem Fall bringen kann?” Grimes verlagerte sein Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen. Ihm wurde klar, dass sie vielleicht ihren ersten Durchbruch in dem Fall hatten – und das leider nicht seinetwegen.
“Grimes, haben Sie an den anderen Tatorten irgendwelche Gedichte gefunden?”
“Nicht bei den Leichen. Ich weiß nicht, ob irgendjemand die Sachen der Mädchen durchgesehen hat. Scheiße!”
Er zog sein Telefon aus der Tasche und wählte eine Nummer. “Thomas, Grimes hier.” Baldwin erkannte, wen Grimes angerufen hatte. Thomas Petty war dessen Partner und hatte die Ermittlungen zu Anfang geleitet. Er war bei zwei der Morde am Fund- sowie am Tatort gewesen.
Grimes lief in Kreisen auf dem Parkplatz, während er telefonierte. “Du bist immer noch in Alabama an dem Fall des vermissten Jungen, richtig? Hast du ein paar heiße Kontakte, die uns einen Gefallen tun können? Gut, wir brauchen Folgendes: Du musst mit der Polizei in Alabama, Louisiana und Mississippi Kontakt aufnehmen. Sie sollen noch einmal alle Sachen der Mädchen durchsehen. Wenn sie dazu die Familien aufsuchen müssen, sollen sie es tun. Sie sollen nach einem Stück Papier Ausschau halten, auf dem ein Gedicht steht. Richtig, ein Gedicht. Stell sicher, dass sie auch in den Autos der Mädchen nachgucken.” Er räusperte sich, seine Stimme klang angespannt und nervös. Baldwin konnte seinen Gesichtsausdruck lesen – hatte er den wichtigsten Hinweis des Falles übersehen? “Besonders die Handschuhfächer. Ruf mich so schnell du kannst wieder an.”
Er legte auf und schüttelte den Kopf. “Glauben Sie wirklich, dass das vom Mörder ist?”
Baldwin nickte. “Dieser Kerl spielt Spiele. Sicher würde er uns nicht mit gar nichts ins Rennen schicken. Der Tausch der Hände ist ein Hinweis. Jetzt schauen wir mal, ob das hier ein anderer ist.” Er holte sein Notizbuch heraus und schrieb die Zeilen ab, auch wenn er das Gedicht auswendig konnte. Es war eines der faszinierendsten Gedichte, die er kannte. Das Originalpapier reichte er dann dem Sheriff. “Können Sie es für mich auf Fingerabdrücke untersuchen lassen?”
“Aber sicher. Tut mir leid, dass wir es übersehen haben.”
“Vielleicht liege ich ja falsch. Aber es scheint so gar nicht zu Marni zu passen.”
“Warum?”, wollte Grimes wissen. Er sah verblüfft aus.
“Ein Mädchen, das so strukturiert ist … Ein loses Blatt Papier mag in einem normalen Auto nicht ungewöhnlich sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach etwas in ihrem Handschuhfach herumliegen lässt. Alle ihre Zettel sind in verschiedene Umschläge sortiert, es liegt kein einsames Rezept herum oder sonst etwas.” Er schaute Grimes an. Okay, er war zwar Profiler, aber man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass Marni Fischer ein Kontrollfreak gewesen war. “Alles hat seinen festen Platz.”
Der Sheriff zog eine Plastiktüte aus dem Spurensicherungskoffer, der im Kofferraum seines Streifenwagens stand, und steckte das Gedicht hinein. Dann reichte er den Beutel einem seiner Deputies. Der Mann rannte beinahe zu seinem Auto und fuhr davon.
“Wir werden es bald wissen. Ich habe einen guten Mann in meinem Labor, der alles findet, was es zu finden gibt.”
“Ich danke Ihnen.” Baldwin beschirmte die Augen mit einer Hand und schaute zum Krankenhaus hinüber. Bisher war das Einzige, was die Mädchen verband, ihr ausgeübter oder zukünftiger Beruf. Wenn es noch weitere Nachrichten gäbe, hätten sie vielleicht endlich etwas, womit sie arbeiten könnten.
“Keine Spuren in Marnis Wohnung?”, fragte Baldwin.
“Absolut nichts. Ich weiß von den anderen Fällen, dass sie aus ihren Wohnungen entführt worden sind. Aber das hier sieht aus, als wenn sie direkt hier geschnappt worden wäre, gerade als sie in ihr Auto steigen wollte.” Der Sheriff schüttelte nachdenklich den Kopf. “Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Ich muss den Tatort hier freimachen und eine Suche organisieren. Ich weiß, dass Sie glauben, der Kerl hätte sie schon über die Staatsgrenze gebracht, aber ich muss einfach sichergehen.” Sheriff Pascoe war bereit, seinen Teil der Untersuchung ins Rollen zu bringen. Hier gab es auch nichts mehr für ihn zu tun. Baldwin schüttelte also den Kopf und dankte ihm noch einmal für seine Hilfe.
Den Weg zurück in die Stadt legten Baldwin und Grimes schweigend zurück. Grimes parkte vor dem Motel, und zu Fuß gingen sie im gleißenden Sonnenlicht los, um etwas zu essen zu kaufen und ihre nächsten Schritte zu besprechen. Grimes sah erschöpft aus, unrasiert und mit rot unterlaufenen Augen. Wenn Baldwin ihn aus psychologischer Sicht hätte begutachten müssen, hätte er gesagt, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Sie kehrten bei Jo’s Diner ein, einem alteingesessenen Laden, dem man seine Jahre ansah. Das komplette Restaurant hätte in die Lobby ihres Motels gepasst. Bilder von Lokalgrößen zierten die Wände, einige frisch und neu, andere so alt und körnig, dass die Schwarz-Weiß-Aufnahmen nur noch zart auf die Abgebildeten hinwiesen. Die Wände waren vom Nikotin gelb gefärbt, und die ehemals weißen Spitzengardinen hingen grau und unglücklich vor verschmierten Fenstern. Baldwin und Grimes ernteten einige Blicke von müden Männern, die mit den Barhockern am Tresen verwachsen zu sein schienen. Der Geruch war berauschend, und Baldwin fiel auf, dass er beinahe am Verhungern war.
Sie setzten sich an einen mit Flecken und gebrochenem Resopal überzogenen Tisch. Eine riesige Frau mit schulterlangen Zöpfen tänzelte auf sie zu. Baldwin konnte kaum glauben, wie leichtfüßig sie sich trotz ihrer Masse bewegte. Ihre Uniform war makellos, und der Name Lurene stand, in schicker schwarzer Schrift, über ihrer mächtigen linken Brust eingestickt. Sie knallte zwei Becher auf den Tisch, füllte sie mit starkem schwarzen Kaffee und schaute die Männer an.
“Guten Morgen”, sagte Baldwin. “Wir hätten gerne …”
“Lass mich raten, Süßer. Das Übliche.” Sie rief die Bestellung über ihre Schulter zu einem schwarzen Mann mit wässrigen Augen und krausen grauen Haaren, den man von hier aus in der Küche stehen sehen konnte. “Eugene, zwei volle Teller.” Sie drehte sich wieder zu ihnen um.
“Wenn Sie danach noch etwas wollen, lassen Sie es mich einfach wissen.” Sie kicherte, ein aus tiefster Kehle kommendes Geräusch, das Baldwin zum Lächeln brachte. Sie schenkte ihm ihrerseits ein strahlendes Lächeln und ging wieder zurück hinter den Tresen. Aller Augen waren auf sie gerichtet, und sie wusste es. Sie war vielleicht eine massige Frau, aber sie verströmte pure Sinnlichkeit.
Baldwin schaute zu Grimes und amüsierte sich über den anerkennenden Ausdruck auf dessen Gesicht.
“Das ist mal ein Vollweib, was?” Er genoss die Röte, die sich über Grimes’ Wangen zog.
Die Kellnerin kam mit zwei Tellern zurück, die sich unter dem Essen beinahe bogen. Pfannkuchen, Rühreier, Bacon, Würstchen und eine Schüssel Maisgrütze füllten die Teller, die groß genug für zehn Männer waren. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, balancierten Biskuitkekse auf den Tellerrändern.
Baldwin konnte ein Lachen nicht unterdrücken. “Das ist alles, oder?”
“Das ist es, Süßer, und wenn du was übrig lässt, versohle ich dir deinen kleinen süßen Hintern. Ihr zwei seht aus, als ob ihr ein gutes Essen vertragen könntet.” Mit Grazie setzte sie die Teller auf dem Tisch ab, zog eine Auswahl an Marmeladen aus ihrer Kittelschürze, griff hinter sich nach der Kaffeekanne und füllte ihre Tassen auf, und alles, ohne ihren Blick von Baldwin zu lösen. Er spürte, dass mehr dahintersteckte, also saß er schweigend da und rührte seinen Teller nicht an. Er hatte recht.
“Süßer, haben Sie von der netten jungen Ärztin gehört, die vermisst wird?”
“Ja, Ma’am, das haben wir.” Grimes schaute Baldwin an, in seinen Augen leuchteten Aufregung und Hoffnung. Eine Kellnerin mit Ma’am anzusprechen war das universelle Zeichen für “Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen”. Sie tat wie ihr geheißen.
“Wissen Sie, sie ist andauernd hergekommen. Hatte eine Schwäche für die Pfannkuchen von meinem Eugene. Hat gesagt, es wären die besten, die sie je gegessen hätte.” Missbilligend zog sie eine Augenbraue hoch. “Sie probieren Ihre ja gar nicht.”
Baldwin stach mit seiner Gabel in den luftigen Teig und steckte sich einen Bissen in den Mund. Es war himmlisch. Was Eugenes Pfannkuchen anging, hatte Marni goldrichtig gelegen. Das sagte er auch Lurene.
Sie nickte ernsthaft. “Er hat ein Geheimnis, will es mir aber nicht verraten. Wir führen diesen Laden schon seit zwanzig Jahren zusammen, und trotzdem sagt er mir nicht, was er mit ihnen anstellt.”
Grimes hatte den Wortwechsel geistesabwesend verfolgt, während er sich das Essen in den Mund schaufelte. Er versuchte, eine Frage herauszukrächzen, aber Lurene warf ihm einen ernsten Blick zu.
“Man spricht nicht mit vollem Mund.” Verlegen bedeckte Grimes seinen Mund mit der Hand und schickte stattdessen Baldwin eine mentale Nachricht. Bringen Sie sie zum Reden, baten seine Augen. Das könnte die wichtigste Information werden, die sie nur erhalten konnten.
“Lurene, Sie sagten, dass Marni Fischer oft hierherkam. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?”
“Freitagfrüh. Sie kommt jeden Freitag vor der Arbeit hierher; es ist ihre Belohnung für die Woche, sagt sie. Junge, das Mädchen konnte aber auch Berge verdrücken. Hatte jedes Mal das Gleiche wie ihr, hat immer aufgegessen und normalerweise nach mehr Biskuits gefragt. Das ist mein Rezept, wissen Sie.”
Baldwin verstand den Hinweis und biss in einen Keks. Er war erstaunt; etwas so Gutes hatte er noch nie probiert. Und für jemanden, der im Süden aufgewachsen war, bedeutete das eine ganze Menge. Er lobte Lurene entsprechend, und sie schnurrte beinahe. Baldwin stellte sich vor, dass Eugene mit ihr alle Hände voll zu tun hatte.
“Also haben Sie Marni am Freitag gesehen. Samstag kam sie nicht vorbei?”
“Nein, Süßer, Samstag nicht.”
“Irgendeine Chance, dass am Freitag ein Fremder hier war? Vielleicht ein Mann?”
Sie schürzte die Lippen und überlegte, wobei sie die Luft leise pfeifend durch das kleine O ausstieß, das ihr Mund gebildet hatte. “Honey, wir haben hier jeden Tag Fremde. Da war ein Junge, süßer Kerl, den ich noch nie gesehen habe. Aber er war nur ein Junge. Vielleicht siebzehn, achtzehn. Auf jeden Fall noch nicht volljährig, das kann ich Ihnen sagen. Ich nehme an, er hat hier gewartet, während seine Mutter einen Termin hatte oder so.”
“Wie sah er aus?” Achtzehn war jünger, als Baldwin den Mörder einschätzte, aber es schadete ja nicht, nachzufragen.
“Hübscher Junge, dunkle Haare, so wie Sie. An sein Gesicht erinnere ich mich nicht mehr so gut. Einfach ein gut aussehender Teenager. Er kam rein, aß und ging wieder, war höchstens zwanzig Minuten hier, wenn’s hochkommt. Hat sich nicht festgequatscht wie Sie beide gerade.” Sie zwinkerte ihm zu. “Es tut mir so leid um das Mädchen. Ich mochte sie. Und Sie essen jetzt Ihr Frühstück auf, haben Sie gehört?” Sie schenkte noch einmal Kaffee nach und überließ sie dann ihren Gedanken. Sie aßen so viel sie konnten, und Grimes war so klug, den Rest seiner Eiscreme mit dem letzten Biskuitkeks aufzuwischen. Dann standen sie auf und wollten zahlen, aber Lurene winkte ab.
“Finden Sie einfach nur das Mädchen, okay?”
“Wir werden unser Bestes geben, Ma’am. Ihnen vielen Dank für ein wundervolles Frühstück.” Heimlich schob Baldwin eine Zwanzigdollarnote unter den Salzstreuer auf dem Tresen, dann traten beide hinaus auf die ruhige Straße.
Sie saßen in Baldwins Motelzimmer und warteten. Zumindest Baldwin saß. Dachte darüber nach, wie jung der Mörder tatsächlich sein könnte. Ein Teenager, das würde nicht passen. Dieser Kerl war zu organisiert, zu mobil, um so jung zu sein. Er benötigte eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto und eine Menge Bargeld, um durch den Südosten zu reisen. Nein, das funktionierte nicht.
Grimes lief ein paar Schritte entfernt auf und ab. Vor wenigen Minuten hatte ein Mitglied seines Teams angerufen. Sie hatten Shauna Davidsons Apartment durchsucht und in ihrer Schreibtischschublade ein Gedicht gefunden. Baldwin las die Zeilen, die Grimes ihm gegeben hatte, immer und immer wieder.
Wie können diese entsetzten schwachen Finger
die gefederte Pracht von ihren
sich lösenden Schenkeln drücken?
Wie kann irgendjemand,
in diesen weißen Rausch gebettet,
das fremde Herz nicht schlagen fühlen?
Das war gar nicht gut. Baldwin schloss die Augen, um das Bild des sinnlos auf und ab laufenden Grimes auszublenden. Er konnte aber immer noch die Schuhe über den Teppich gleiten hören – sch-sch-sch-sch.
Als Grimes sich erneut umdrehte, klingelte sein Telefon. Er schaute Baldwin an. “Endlich.” Er klappte das Telefon auf. “Grimes.” Er hörte zu, dann bedeutete er Baldwin, ihm einen Zettel und einen Stift zu reichen. Er schrieb hektisch mit, nickte und murmelte hier und da zustimmend, dann legte er auf und schaute Baldwin an.
“Ich hab’s echt vermasselt, was?”
Dass Grimes einen Fehler zugab, war höchst erstaunlich. Von Anfang an hatte ein leicht feindlicher Unterton ihre Beziehung bestimmt, und jetzt stand er hier und war bereit, alle seine Sünden zu beichten, um von dem Mann die Absolution zu erhalten, den er gar nicht bei seinen Ermittlungen dabeihaben wollte. Verzweifelte Zeiten verlangten verzweifelte Maßnahmen. Baldwin konnte den Fehler nicht entschuldigen, aber er konnte ihn verstehen.
“Grimes, Sie hatten es mit drei verschiedenen Polizeibehörden in drei verschiedenen Staaten zu tun. Unzählige Leute, höchste Stresssituation. Jeder hätte es übersehen können.”
“Aber Sie haben es nicht übersehen”, merkte er kläglich an. “Sehen Sie, ich war in dieser ganzen Sache nicht auf dem Höhepunkt meiner Leistung. Ich hatte Ärger zu Hause, habe darüber nachgedacht, mich zur Ruhe zu setzen. Die Marke gegen ein echtes Leben einzutauschen.” Die Melancholie in seiner Stimme war alarmierend. “Ich hätte mich selbst von dem Fall abziehen sollen. Ich hätte alles vermasseln können. Vielleicht wären wir sonst in der Lage gewesen, eines der Mädchen zu retten.”
Baldwin gab ihm einen Klaps auf die Schulter. “Hey, ich habe die Nachricht in Nashville im Zusammenhang mit Shauna Davidsons Tod auch nicht gefunden.” Er wartete, bis Grimes ihm in die Augen sah. “Hören Sie zu, ich brauche Sie in diesem Spiel. Ja, es war ein Fehler. Ein großer Fehler. Aber wir müssen jetzt nach vorne schauen, okay? Ich will Sie in diesem Fall. Lesen Sie mir vor, was sie gefunden haben.”
Grimes nickte und schluckte einmal schwer.
Jesus, dachte Baldwin. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Grimes schüttelte den Kopf, räusperte sich und versuchte, ein wenig Würde und Kontrolle zurückzuerlangen. “Okay. Mal sehen, was Sie aus diesem hier machen.”
“Mehr Gedichte?” Baldwin fühlte, wie sein Herz ein kleines bisschen heftiger schlug. Sein Instinkt hatte richtiggelegen.
“Jupp. Die Nachrichten sind die ganze Zeit vor Ort gewesen. Jedes Mädchen hatte eine in ihren persönlichen Sachen. Nach Pettys Aussage waren die von Lernier und Palmer in ihren Sporttaschen, Jessica Porters war in ihrem Terminkalender. Wir haben sie einfach nur übersehen. Gott, wie konnten wir so etwas übersehen? Sie sind alle eingesammelt und auch schon auf Fingerabdrücke untersucht worden, aber ohne Erfolg. Jesus, ich habe den ganzen Fall vermasselt.” Grimes hatte wieder in den Schuldmodus geschaltet, und Baldwin wurde ungeduldig.
“Grimes. Die Gedichte.”
“Ja, ja, lassen Sie sie mich vorlesen. Bereit?”
“Okay, legen Sie los.”
“Das hier war in Susan Palmers Auto.” Er las die Zeilen laut vor.
Eine perfekte Frau,
edel erdacht,
um zu warnen, zu trösten
und zu befehlen;
und doch ein Geist,
still und hell,
mit einem engelhaften Glanz.
Baldwin schrieb mit und nickte, murmelte vor sich hin. “Wordsworth. Okay, was kommt als Nächstes?”
“Jeanette Lernier. Da fand man das hier:
Ein Wesen, nicht zu klug oder zu gut,
um des Menschen täglich Brot zu sein,
für vorübergehende Trauer einfache Listen:
Lob, Schuld, Liebe, Küsse, Tränen und Lächeln.”
Baldwin lächelte. “Eine weitere Strophe aus dem gleichen Gedicht. Was hat man in Jessicas Kalender gefunden?”
Grimes blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um. “Jessica, Jessica … Hier.
Ein plötzlicher Hieb, die großen Flügel
schlagen immer noch
über dem schwankenden Mädchen.
Ihre Schenkel werden liebkost
von seinen dunklen Netzen,
ihr Nacken gefangen in seinem Schnabel,
hält er ihre hilflose Brust an seiner Brust.”
“Gleiches Gedicht?”, fragte Grimes.
“Nein, das ist von Yeats. Exzellenter Poet, Yeats.” Er streckte die Hand nach Grimes’ Notizbuch aus. “Lassen Sie mich das mal sehen.” Grimes gab es ihm, und Baldwin las die Zeilen noch einmal.
“Jessicas, Shaunas und Marnis Strophen sind aus ‘Leda und der Schwan’, William Butler Yeats. Jeanettes und Susans Zeilen sind William Wordsworths Gedicht ‘Phantom der Freude sie mir war’ entnommen. Unser Mörder kennt also einige Klassiker.”
Grimes kratzte sich am Kopf. “Sie offensichtlich auch. Aber was soll das bedeuten?”
“Tja, genau das ist das Problem. Für verschiedene Menschen hat es verschiedene Bedeutungen. Ich bin besorgt über die Strophe, die man bei Marni gefunden hat. So gefangen zu sein, so beherrscht vom rohen Blut der Luft … der gleichgültige Schnabel … Als er angefangen hat, mit Susan und Jeanette und Jessica, hat er hart gearbeitet. Er hat sie beobachtet, sich Zeit gelassen, sie verführt. Jetzt nimmt er Fahrt auf, wird zu schnell, um eine persönliche Beziehung zu seinen Opfern aufzubauen. Diese Mädchen sind jetzt nur noch Mittel zum Zweck, nicht länger ein Objekt der Bewunderung oder Begierde. Und wenn er ihrer Notlage gegenüber indifferent geworden ist, werden wir bald eine Eskalation der Gewalt sehen. ‘Leda und der Schwan’ ist klassischerweise als Vergewaltigungsgedicht anerkannt, ein gewalttätiges Gedicht. Bei Marni wird das erste Mal Blut erwähnt. Es würde mich nicht überraschen, wenn ihr etwas Schlimmeres zugefügt worden wäre als den anderen Mädchen. Aber ich rate auch nur, Jerry.”
Grimes hatte die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und hielt den Kopf gesenkt. “Ich hätte nichts davon gewusst. War in der Schule nicht so gut in dem Kram.”
Baldwin sog die Luft ein. “Ich denke, wir formieren uns noch mal neu. Das gibt Ihnen ein bisschen Zeit, sich wieder einzukriegen. Und mir, über all das nachzudenken.”