32. KAPITEL

Als Taylor erwachte, verspürte sie eine gewisse Zielstrebigkeit. Sie duschte, zog sich an und frühstückte eine Kleinigkeit, dann holte sie sich den Tennessean von den Eingangsstufen und ließ sich aufs Sofa fallen. Lee Mayfield, eine Polizeireporterin, mit der Taylor nicht sonderlich gut zurechtkam, hatte den Leitartikel über den Rainman-Fall geschrieben. Verächtlich las sie den Artikel. Wie meistens hatte Mayfield die Details durcheinandergebracht. Es war nicht nur die Polizei, die sie nicht ausstehen konnte, auch ihre Reporterkollegen konnten sie nicht gut leiden. Sie war berüchtigt dafür, erst am Ende einer Pressekonferenz aufzutauchen, oder nachdem alle Einstellungen an einem Tatort im Kasten waren, und sich ihre Geschichten von den anderen Presseleuten zu holen, anstatt ihre Arbeit selbst zu tun.

Taylor machte sich nicht die Mühe, den Artikel, oder gar die Zeitung, zu Ende zu lesen. Angewidert schleuderte sie die Ausgabe auf den Boden und wandte sich einer Arbeit zu, über die sie wenigstens ein bisschen Kontrolle hatte. Whitney Connollys Handy. Sie blätterte durchs Menü und fand das Diktiergerät. Sie drückte die Play-Taste. Whitneys Stimme flutete durch die Luft, sie ratterte eine To-do-Liste runter. Der letzte Punkt war interessant, und Taylor spulte ein paarmal auf ihn zurück.

“Mit Quinn über die Nachrichten sprechen.”

Das war alles. Keine Hinweise, keine anderen Anweisungen. Es klang nicht einmal so, als wenn es sonderlich wichtig wäre. Hatte sie die E-Mails gemeint?

Taylor nahm das Telefon zur Hand und rief Quinn Buckley an. Sie antwortet nach dem ersten Klingeln.

“Quinn? Taylor Jackson hier. Ich bin Whitneys persönliche Sachen aus dem Auto durchgegangen und habe das Handy ihrer Schwester hier. Da ist eine gesprochene Notiz drauf, die ich Ihnen gerne vorspielen würde, um eine Einschätzung von Ihnen zu bekommen. Okay, ich spiele sie jetzt ab.”

Sie hielt das Handy an ihr Telefon und spielte die Nachricht noch einmal ab. Whitneys Stimme hallte wie ein Schuss durch die Luft. Taylor bekam eine Gänsehaut. Normalerweise kommunizierte sie nicht mit den Toten, das war Sams Job. Sie hob den Hörer wieder an ihr Ohr und hörte Quinn leise weinen.

“Oh verdammt, Quinn, es tut mir leid. Ich hätte Sie warnen sollen, dass es Whitneys Stimme ist.”

“Nein, ist schon okay.” Quinn schniefte durchs Telefon. “Ich war nur nicht darauf vorbereitet, noch einmal ihre Stimme zu hören. Gab es sonst nichts anderes?”

Taylor schüttelte den Kopf, obwohl niemand da war, der es sehen konnte. “Nein, Quinn, sonst war da nichts. Wissen Sie, wovon sie spricht?”

“Wer kennt sich mit Whitney schon aus? Ich habe für uns beide bedruckte Notizkarten bestellt, vielleicht meinte sie die? Bestimmt hatte sie ihre Meinung über den Stil oder die Schrift oder so geändert. Ich hatte so sehr gehofft, dass wir mehr finden würden.”

“Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich verspreche Ihnen, dass ich weitersuchen werde. Es tut mir leid.”

“Nein, Taylor, Sie tun wirklich alles, was in Ihrer Macht steht. Ich bin sehr dankbar für Ihre Hilfe. Heute wird Whitneys Leichnam freigegeben. Ich denke, wir werden nächste Woche einen Trauergottesdienst für sie abhalten. Sobald ich meinen Mann und meinen kleinen Bruder erreicht habe, um die Einzelheiten abzusprechen, werde ich einen Termin festsetzen. Sie sind beide nicht in der Stadt. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie auch zur Beerdigung kommen.”

“Natürlich. Hinterlassen Sie mir einfach eine Nachricht mit Zeitpunkt und Ort, und ich werde da sein.”

Sie legten auf, und Taylor fühlte sich fürchterlich. Die Schwester der armen Frau war tot, ihr Mann ständig geschäftlich unterwegs, und sie konnte noch nicht einmal ihren jüngeren Bruder erreichen, um Unterstützung bei der Vorbereitung des Begräbnisses zu bekommen. Für ein privilegiertes Leben erschien es ihr sehr einsam zu verlaufen.

Taylor dachte, das Beste, was sie jetzt tun konnte, wäre, ins Büro zu fahren. Sie fasste ihre immer noch nassen Haare in einem Pferdeschwanz zusammen, schnappte sich eine Cola light und die Schlüssel.

Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, um das Haus zu verlassen, da klingelte das Telefon. Sie stellte ihre Sachen ab und ging ran. Baldwins Stimme drang durch die Leitung, als wäre er im Zimmer nebenan, und sie fühlte plötzlich eine überwältigende Einsamkeit. Dummes Ding, schalt sie sich, er ist doch bald wieder zu Hause.

“Hi, Honey. Alles okay in North Carolina?”

“Na ja, heute Morgen ist niemand vermisst gemeldet worden, also scheinen wir Fortschritte zu machen. Ich kann in diesem Fall keine Vorhersagen treffen, Taylor, und das macht mich wahnsinnig.”

“Dann setz dich hin und schreib mir ein Liebesgedicht”, zog sie ihn auf. “Das sollte deine Gedanken ablenken und auf eine genauso wichtige Spur bringen: die Spur, die zu mir führt.”

Die Antwort war Schweigen. Taylor war nicht wirklich verletzt, aber sie fühlte einen kleinen Stich. Normalerweise erwiderte Baldwin ihre Neckereien immer sofort. Aber bevor sie etwas sagen konnte, sprach er.

“Wie bist du auf diese Idee gekommen?”

“Tut mir leid, Honey, ich hab nur ein wenig gescherzt. Das geht mir durch den Kopf, seitdem ich die Gedichte bei Whitney Connolly gesehen habe. Sie hatte einen Freund oder Verehrer, der ihr per E-Mail Liebesgedichte geschickt hat. Ich habe ein paar davon gelesen, als ich ihre Sachen durchgesehen habe.”

Taylor konnte die Eindringlichkeit, die Baldwin ausstrahlte, sogar durch das Telefon fühlen. “Taylor, erinnerst du dich daran, was für Gedichte es waren? Irgendeine Besonderheit?”

“Nein, ich habe nicht wirklich drauf geachtet. Warum, Baldwin, was ist los?”

“Wir haben es noch nicht an die Presse weitergegeben, also musst du darüber absolutes Stillschweigen bewahren. Der Mörder hinterlässt Gedichte bei den Opfern. Liebesgedichte. Klassiker von Wordsworth, Coleridge, Yeats. Du musst mir die Gedichte von Whitneys Computer besorgen.”

“Er hinterlässt die an den Tatorten? Ich kann mich an nichts in der Art in Shauna Davidsons Apartment erinnern.”

“Einer von Grimes’ Männern hat es in der Schreibtischschublade gefunden. Sie sind total unverfänglich, und wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss, kann man sie leicht übersehen.”

“Jesus, Baldwin, wenn du mir davon erzählt hättest, hätte ich dir all das schon gestern sagen können. Mir ist es nicht mal aufgefallen. Ich habe nur ein paar von ihnen überflogen. Mist.”

In Taylors Kopf drehte sich alles. Sie liebte es, diesen Adrenalinrausch, der den großen Durchbruch begleitete. Langsam fingen die Dinge an, einen Sinn zu ergeben. Die Nachrichten … klar.

“Baldwin, Whitney hat am Tag ihres Todes verzweifelt versucht, ihre Schwester zu erreichen, erinnerst du dich? Ich habe die Memofunktion ihres Handys überprüft, wie du gestern vorgeschlagen hast. Da gab es eine Aufzeichnung, dass sie mit Quinn über die Nachrichten sprechen müsse. Wir dachten, dass es sich um etwas Unwichtiges handelt, wie Grußkarten oder so. Vielleicht lagen wir damit falsch. Was meinst du?”

“Ich will keine übereilten Schlüsse ziehen, aber ich brauche die Gedichte, damit ich sie mit denen vergleichen kann, die wir an den Tatorten gefunden haben. Vielleicht ist der Mörder ein Fan von Whitney Connolly, wer weiß? Kommst du an den Computer ran?”

“Ja, lass mich eben Quinn Buckley anrufen und mir die Erlaubnis holen, noch einmal in Whitneys Haus gehen zu dürfen. Ich rufe dich an, wenn ich den Computer vor mir habe.”

Baldwin schaltete die Nachrichten an, versuchte, einen Eindruck zu bekommen, wie ihre Arbeit in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Der Southern Strangler war das Leitthema. Die sensationsheischende Ausführung der Morde, die Tatsache, dass alle Opfer irgendetwas mit Medizin zu tun hatten, die Geschwindigkeit, mit der der Mörder vorging. Jeder war ratlos, alle suchten verzweifelt nach Antworten. Waffenverkäufe stiegen sprunghaft an, und Schlosser machten entlang des südöstlichen Korridors das Geschäft ihres Lebens. Großartig, nichts vereinfachte die Ermittlungen so sehr, wie die Angst in der Bevölkerung zu schüren. Und woher bekamen die Medien überhaupt all diese Informationen? Nur ein paar Auserwählte wussten von dem medizinischen Bezug; das Leck musste sich also sehr weit oben in der Nahrungskette befinden. Damit würde er sich eher früher als später beschäftigen müssen.

Ungläubig saß Baldwin ein paar Minuten auf dem Bett. Dann kam ihm ein Gedanke. Er öffnete seinen Computer und ging auf die Website von Health Partners. Er hatte die Informationen letzte Nacht nur kurz überflogen, aber irgendetwas rührte sich in seinem Hinterkopf. Er surfte über die Seite, bis er den Menüpunkt “Kontakt” fand. Er öffnete ihn, und da war es. Das Hauptbüro von Health Partners lag in Nashville.

Er durchforstete die Seite, konnte aber keine weiteren Informationen mehr entdecken. Die Firma musste eine Liste mit ihren Büros und Mitarbeitern haben, doch online konnte er sie nicht finden. Aber das war nichts, was nicht mit einem kurzen Telefonat behoben werden konnte.

Er wählte die Nummer, die Health Partners auf ihrer Kontaktseite angegeben hatte. Eine angenehme Südstaatenstimme antwortete, aber schnell merkte Baldwin, dass es sich um einen Anrufbeantworter handelte. Verdammt, er hatte gehofft, an eine Sekretärin zu gelangen. Die Stimme eröffnete ihm die Möglichkeit, die Null zu wählen, um direkt mit jemandem zu sprechen, und genau das tat er auch. Fahrstuhlmusik erklang aus dem Hörer, und er rollte mit den Augen. Eine Synthesizerversion von Aerosmith zu hören – das ging irgendwie gar nicht. “Dude (Looks Like A Lady)” funktionierte in den sanften Klängen von Fahrstuhlmusik einfach nicht.

Nach ein paar Minuten hörte die Musik auf, und eine echte Stimme kam ans Telefon.

“Health Partners, kann ich Ihnen helfen?”

Baldwin räusperte sich und gab eine sehr sachliche Erwiderung. “Ja, das können Sie. Hier ist Special Agent John Baldwin vom Federal Bureau of Investigation. Ich brauche ein Organigramm Ihrer Firma.”

“Sir, gibt es ein Problem?”

Großartig, er war ausgerechnet an jemanden geraten, der sich von seiner ernsten Stimme und den Referenzen nicht beeindrucken ließ. “Nein, Ma’am, kein Problem, aber ich möchte mehr über Ihre Mitarbeiter herausfinden. Können Sie mir diesbezüglich Informationen geben?”

“Ja, das kann ich, aber warum will das FBI etwas über uns wissen? Sind wir Gegenstand irgendwelcher Ermittlungen? Ich denke, ich stelle Sie besser durch zu Louis Sherwood. Er ist der Geschäftsführer und sollte Ihnen alles geben können, was Sie benötigen. Bleiben Sie bitte kurz in der Leitung.” Das Gedudel setzte erneut ein, diese Mal The Scorpions mit “Rock You Like A Hurricane”. Baldwin musste lachen. Wer auch immer entschieden hatte, dass Hardrock eine beruhigende Hintergrundmusik war, musste verrückt sein.

Es kam ihm vor, als ob er schon seit mindestens einer Stunde in der Warteschleife hing, aber sehr wahrscheinlich waren es nur fünf Minuten, bis eine Stimme erklang. “Ich bin Louis Sherwood. Kann ich Ihnen helfen, Agent Baldwin?”

“Ja, Sir. Ich hätte gerne einige Informationen über Ihre reisenden Mitarbeiter. Ich stecke mitten in einer Untersuchung, und im Zuge der Ermittlungen ist der Name Ihrer Firma aufgetaucht. Wären Sie bereit, mit die gewünschten Informationen zu geben?”

Sherwood zögerte nicht eine Sekunde. “Es geht um den Southern Strangler, nicht wahr?”

“Ja, Sir, das ist der Fall, an dem ich arbeite. Sie haben davon gehört?” Blöde Frage, das wusste er, denn jeder, der einen Fernseher besaß, neben jemandem mit einem Fernseher wohnte, ein Auto mit Radio fuhr, irgendwo ging, schlief oder aß – der wusste von dem Fall. Die Segnung der modernen Medienberieselung.

“Ja, ich habe davon gehört, und ich bin froh, dass Sie sich bei mir melden. Wenn ich richtig informiert bin, waren drei der Opfer auf die eine oder andere Art für uns tätig. Ich denke, das ist ein persönliches Treffen wert, meinen Sie nicht?”

Baldwin nahm diesen Vorschlag erfreut zur Kenntnis. Alles, was Licht auf irgendeinen Aspekt des Falles werfen konnte, war wichtig. “Absolut, Sir. Wann hätten Sie Zeit?”

“Für Sie stehe ich jederzeit zur Verfügung. Sind Sie in der Stadt?”

“Nein, Sir, ich bin in North Carolina, aber hatte vor, heute nach Nashville zurückzukehren. Falls nicht irgendetwas dazwischenkommt.” Wie ein weiteres entführtes Mädchen.

“Zurück nach Nashville? Haben Sie bereits irgendwelche Belange in der Stadt?”

“Oh, entschuldigen Sie, ich wohne in Nashville. Ich arbeite in dem Büro dort vor Ort und übernehme nationale Fälle, wenn es sich anbietet. Ich kann am späten Nachmittag in Nashville sein. Würde Ihnen das passen?”

“Ich werde auf Sie warten. Soll ich Ihnen sagen, wo Sie uns finden?”

Baldwin schrieb sich die Wegbeschreibung auf und dankte Sherwood. Es fühlte sich gut an, mal wieder ein wenig altmodische Detektivarbeit zu betreiben, anstatt seine Zeit in der Gesellschaft toter Mädchen zu verbringen. Jetzt brauchte er nur noch die Information über die Gedichte von Taylor, dann wurde es langsam Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Er überlegte, dass er genauso gut einen Mietwagen nehmen und zurückfahren konnte, anstatt zu fliegen. Grimes würde noch ein paar Tage in Asheville bleiben, den Abschluss der Autopsie von Christina Dale und die weiteren Ermittlungsergebnisse abwarten. Baldwin brauchte ein bisschen Zeit, um nachzudenken, und die vierstündige Fahrt nach Nashville wäre dafür nahezu perfekt.

Er rief Grimes an und erzählte ihm von seinen Plänen. Er informierte ihn auch über das anstehende Treffen mit Sherwood. Grimes fand, dass sich das großartig anhörte, und bat Baldwin, ihn auf dem Laufenden zu halten. Die Gedichte auf Whitney Connollys Computer erwähnte Baldwin ihm gegenüber nicht. Er fand, es wäre besser, auf irgendeine Art von Bestätigung zu warten, bevor er diese Informationen in den Topf warf.

Sie legten auf, und Baldwin rief an der Rezeption an, dass man ihm einen Mietwagen bestelle. Man teilte ihm mit, dass es schneller ginge, wenn er sich selbst darum kümmerte, da sich die Mietwagenfirma gleich die Straße hinunter befand. Er stimmte zu und räumte dann sein Zimmer. Innerhalb von zehn Minuten bekam er das Auto und war auf dem Weg nach Hause.