22. KAPITEL

Taylor hatte den schlimmsten Kater ihres Lebens. Sie erinnerte sich nur noch dumpf an den letzten Abend, dass sie erst in ihr Bier und später in den Whiskey geweint hatte. Das war ein Fehler gewesen, sie hasste Whiskey. Er schmeckte wie Feuerholz, das in billigen Korn eingelegt worden war; als wenn man auf Holzspänen herumkaute. Sie hatte sich beinahe sofort nach dem letzten Schluck übergeben. Das war der Moment, in dem Sam entschieden hatte, dass Kat ihnen in Taylors Kombi nach Hause folgen sollte. Es war eine kurze Fahrt, und Sam hatte Taylor ins Bett gebracht. Heute Morgen war sie mit Kopfschmerzen aufgewacht, ihr war schlecht, und die nagende Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmte, verdunkelte ihre Gedanken. Dann erinnerte sie sich, und ihr wurde wieder übel.

Nach ihrem kurzen Telefonat mit Baldwin hatte sie es geschafft, unter die Dusche zu springen und sich dann auf den Weg zur Arbeit zu machen. Eine sehr dunkel getönte Sonnenbrille sollte ihre Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht schützen. Wann war die Sonne eigentlich so kräftig geworden und hatte angefangen, schon am frühen Morgen ihr pralles Nachmittagslicht scheinen zu lassen? Sie war sicher, dass die Sonne noch nie mit solcher Macht geschienen hatte.

Sie öffnete die Tür ihres Xterra und stieg mit verzerrtem Gesicht ein. Sie setzte sich hin, schaltete das Radio ein, wechselte zu Lucy, ihrem liebsten Sender für alternativen Rock, stellte die Lautstärke auf ein erträgliches Maß ein und verlor sich in der Musik.

Sie hatte schon oft versucht, den genauen Moment zu bestimmen, in dem sie sich in Baldwin verliebt hatte. Anfangs war es seine Verletzlichkeit gewesen, die sie so angezogen hatte. In dem Augenblick, in dem sie ihm das erste Mal begegnete, hatte sie diese Leere in ihm gespürt, gefühlt, wie sie sich in ihrem eigenen Herzen widerspiegelte. War es Liebe auf den ersten Blick? War es, als sie sich das erste Mal berührten, ein flüchtiges Streifen ihrer Hände? Sie wurde von seiner gemarterten Seele angezogen, suchte ihre eigene Erlösung, als sie ihm half, die seine zu finden.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach. Baldwin. Er war jetzt ihr Mann. Sie wünschte, er wäre hier bei ihr. Er würde sie mit seinen starken Händen beruhigen, die Haare in ihrem Nacken anheben, ihr ins Ohr flüstern, während er ihren Körper liebkoste. Und sie würden ihn gewähren lassen. Aber jetzt, so früh in ihrem gemeinsamen Glück, war sie dabei, alles kaputt zu machen. Sie stützte ihre Hand gegen die Stirn, als eine Welle der Übelkeit durch ihren Körper lief. Mist.

Sie startete den Motor und legte einen Gang ein. Auf der Fahrt zum West End versuchte sie sich auf die Neuigkeiten zu konzentrieren, die sie erhalten hatte, aber es gelang ihr nicht. Irgendetwas fühlte sich heute anders an, aber sie schob es auf ihren Monsterkater. Sie schaute in den Rückspiegel und beschenkte sich mit einem schiefen Grinsen. Sie würde sich später um ihr Privatleben kümmern. Wenn ihr Kopf sich nicht mehr anfühlte, als würde er jeden Moment explodieren.

Sie bahnte sich ihren Weg durch den Verkehr im West End und fuhr in den Randbezirk von Belle Meade. Bevor sie gestern komplett weggetreten war, hatte sie Sam versprochen, sie hier auf einen Kaffee bei Starbucks zu treffen.

Taylor bog auf den Parkplatz ein und stellte den Kombi ab. Vorbei an den Highschool-Mädchen mit ihren grünen Faltenröcken, weißen Socken und Birkenstocksandalen, die alle Tische draußen besetzt hatten, ging sie zur Tür. Ein älterer Herr, der ein Tablett mit Kaffeetassen balancierte, hielt ihr netterweise die Tür mit seiner Hüfte auf. Sofort brach ihre Südstaatenerziehung durch, und sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, als sie an ihm vorbeiging. Er grinste ein wenig schief zurück. Mit ihrem Hundertwattlächeln konnte Taylor den stärksten Mann in die Knie zwingen. Sie erblickte Sam in einer gemütlichen Ecke mit Polstersesseln und einem kleinen Tisch, der sich unter Getränken, Zimtrollen, einem Stück geeisten Zitronenkuchen und einem einsamen Kleie-Muffin bog. Taylor unterdrückte ein Lachen. Sams Schwangerschaft übernahm langsam die Kontrolle, und sie aß alles an Süßem, dessen sie habhaft werden konnte.

“Das ist sie, die Frau, die jeder Mann haben und jede Frau sein will. Setz dich, bevor dein Latte kalt wird, Mädchen.”

“Heute wünsche ich keinem, ich zu sein. Ich fühle mich fürchterlich.”

“Ja, du siehst auch ein bisschen fertig aus. Aber ’ne coole Sonnenbrille.”

Taylor beugte sich vor und umarmte Sam. Im Gesicht ihrer Freundin suchte sie sodann nach Spuren, ob gestern noch etwas vorgefallen war, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sam schien jedoch nicht beunruhigt, also entspannte sich Taylor und ließ sich dankbar in den dick gepolsterten grünen Samtsessel sinken.

Als sie nach ihrem Latte Macchiato griff, hörte sie die Sirenen. Sie wurden von Minute zu Minute lauter, und sie schalt sich dafür, sich zu fragen, ob das bedeutete, dass sie gleich an einen Tatort gerufen würde.

“Hörst du das? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.”

“Ja. Sehr wahrscheinlich hat eine Hausfrau aus Belle Meade einen Nietnagel.” Sie beide lachten. Es war aber auch zu einfach, sich über Nashvilles Elite-Gemeinde lustig zu machen, so zu tun, als würden sie nicht auch aus genau dieser Enklave von Nashvilles Gesellschaft stammen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, bemerkte Taylor, dass Sam beinahe vor Neuigkeiten platzte. Und sie wusste auch gleich, worum es ging.

“Ich bin heute Morgen beim Ultraschall gewesen.”

“Oh, konnten sie sehen, was es wird?” Sams Begeisterung war ansteckend. Sie hatten fieberhaft auf die Ultraschalluntersuchung gewartet, um endlich das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. Simon hatte es nicht wissen wollen, aber Sams konstantes Betteln hatte ihn schlussendlich überstimmt.

“Nun ja, sozusagen. Es besteht eine fünfzig-fünfzig Chance, dass wir ein Mädchen bekommen.” Auf Taylors Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Sofort fragte sie sich, ob es wohl auch so ein Wildfang wie seine Mutter werden würde. Beinahe hätte sie Sams nächsten Satz verpasst.

“Und außerdem stehen die Chancen gut, dass wir zusätzlich noch einen Jungen kriegen.”

Taylor erstarrte für einen Moment, ließ die Worte sacken. “Zwillinge? Zwillinge! Oh mein Gott, Sam, du willst wirklich keine Zeit verlieren, oder? Die Fertigfamilie! Simon stirbt doch bestimmt.”

“Das tut er, aber er ist superglücklich. Er sagt, jetzt können wir wenigstens aufhören, uns über den perfekten Namen Gedanken zu machen. Wir nennen sie Eins und Zwei, und fertig. Ich hab gesagt, das klingt, als würde man Petrischalen benennen, aber er hat nur gelacht.” Simon Loughley gehörte ein forensisches Labor in der Stadt. Private Match. Und genau das war es: privat und sehr diskret. Und sehr teuer. Metro Nashville hatte in der Vergangenheit schon bei schwierigen Fällen oder wenn es aus anderen Gründen angebracht war auf seine Dienstleistungen zurückgegriffen.

Zu Taylors Amüsement plapperte Sam in einem fort. Sie wusste, dass Sam immer hatte Mutter werden wollen, und sie freute sich, dass sie nun gleich zwei Kinder auf einmal bekam. Es war noch zu früh, um das Geschlecht zu bestimmen, aber der zweite Herzschlag war außergewöhnlich kräftig gewesen, sodass es keinen Zweifel an der Zwillingsnummer gab. Taylor konnte allerdings auch die Furcht in Sams Augen sehen. Sich um zwei Neugeborene kümmern zu müssen war eine ganz andere Herausforderung, als nur ein Baby zu haben. Aber sie wusste, dass Sam eine großartige Mutter sein würde. Sie fragte sich kurz, ob das bei ihr auch so wäre, schob den Gedanken dann aber energisch beiseite.

“… Also habe ich dem Arzt gesagt, geschieht mir ganz recht, nachdem ich jahrelang verhütet habe. Als die Eier merkten, dass sie nun endlich rauskommen können, haben sie sich alle am Eingang gedrängelt. Es ist verrückt, aber ich kann spüren, dass es Bruder und Schwester sind.”

Taylor beugte sich zu Sam und nahm sie in den Arm. “Das wird ganz wunderbar, meine Süße. Wir werden eine tolle Zeit haben.”

Sam schaute sie an, suchte ein Anzeichen dafür, dass Taylor ihre kleinen Dämonen bezüglich ihrer eigenen Situation besiegt hatte. Mit perfektem Timing klingelte genau in diesem Augenblick Taylors Handy und gab ihr die Entschuldigung, den Blick zu lösen. Sie öffnete das Handy und schaute auf einen Punkt über Sams linker Schulter.

“Taylor Jackson.” Sofort begann sie, unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. “Hallo, Dr. Gregory. Nein, mir geht’s gut.” Sie schwieg einen Moment. Dann noch einen. “Sind Sie sicher?” Die Leichtigkeit, die sich in ihre Stimme geschlichen hatte, brachte Sam dazu, ihr einen scharfen Blick zuzuwerfen. Taylors Grinsen reichte von einer Seite des Raumes zur anderen. “Danke. Nein, wirklich. Danke vielmals.”

Sie legte auf und biss sich auf die Lippe.

“Gute Neuigkeiten?”, fragte Sam.

Taylor lehnte sich zurück. “Offenbar hat seine Helferin, Shelby, einige Testergebnisse durcheinandergebracht. Eine Frau mit dem Nachnamen Taylor ist schwanger, nicht ich.”

“So etwas dachte ich mir schon. Du sahst irgendwie nicht schwanger aus.”

“Und das hast du mir nicht gesagt? Letzte Nacht hätte ich ein paar Zweifel gut vertragen können.” Taylor wusste nicht recht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber die Erleichterung, die sie fühlte, war einfach überwältigend. Die Zeit war einfach noch nicht reif für sie und Baldwin. Vielleicht später, wer wusste das schon?

In ihrer beruhigenden Art streckte Sam eine Hand aus und tätschelte Taylors Arm. Sie musste nichts sagen.

Nach einer ganzen Weile setzte Taylor zu sprechen an, aber als sie den Mund öffnete, ging Sams Pager los. Sie klemmte ihn von ihrem Handtaschenhenkel ab, sah auf das Display und griff nach ihrem Handy. Während sie eine Nummer eintippte, wurde sie von der aufgeregten werdenden Mutter zur seriösen Gerichtsmedizinerin. Sie hörte zu, legte dann auf und schüttelte den Kopf.

“Verdammt, ich muss los. Tödlicher Verkehrsunfall an der Einfahrt zum Belle Meade Boulevard. Daher auch die ganzen Sirenen. Willst du mitkommen?”

“Sicher, warum nicht. Ich warte sowieso darauf, dass Lincoln und Marcus mich anrufen.”

Die beiden Frauen standen schnell auf, warfen ihren Müll in die Behälter am Eingang und gingen zu ihren Autos. Sam rief: “Fahr mir nach”, bevor sie in ihrem neuen, silbernen BMW 330Ci Cabrio verschwand, einem Hochzeitsgeschenk von Simon.

Die Unfallszenerie war so grauenhaft, wie es die Lautstärke der Sirenen hatte vermuten lassen. Tücher bedeckten Opfer, Blut breitete sich auf dem warmen Asphalt aus, Glas und Splitter automobiler Wunderwerke waren achtlos verstreut. Eine Kinderpuppe lag vergessen in der Mitte der Straße unter einer Scheibe zerborstenem Verbundglas.

Taylor bewunderte Sams Fähigkeit, ihr normales Leben abzuschütteln, wenn die Arbeit rief. Sie gab Befehle, schaute unter die Laken, bewegte sich durch das Chaos wie ein Schwan auf einem schimmernden See. Als Gerichtsmedizinerin war es ihr Job, mit Blutbädern und Verstümmelungen umzugehen, aber sie war so geschmeidig und gewandt, dass in der Minute, in der sie die Szene betrat, alles unter Kontrolle schien. Taylor saß einfach auf der Motorhaube eines Streifenwagens und versuchte, nicht im Weg zu stehen. Das hier war nicht ihr Fall, und es liefen genügend Leute herum, sodass sie sich nicht auch noch dazwischendrängen musste.

Sam kam zu ihr hinüber, etwas blass im Gesicht.

“Geht es dir gut?”, fragte Taylor besorgt.

Sam nickte und zuckte die Achseln. “Mir geht es gut, aber das hier ist die Hölle. Die Frau in dem X5 ist wie mit einem Panzer über den Audi drübergefahren. Alle Insassen waren sofort tot. Der Führerschein sagt, dass die Mom Tina Young heißt. Sie identifizieren die Kinder gerade anhand der Namen auf ihren Schulranzen. Meredith und Jason. Grundschule. Es ist echt schlimm, der Kopf der Mutter ist einfach abgetrennt worden. Zumindest kann ich dem Rest der Familie sagen, dass es schnell gegangen ist. Ich glaube, sie hatte keine Sekunde Zeit zu überlegen, was sie da getroffen hat.”

“Und wer ist die Frau im X5? Und was ist das überhaupt mit den BMWs hier in der Stadt? Bin ich wirklich die Einzige, die keinen hat?”

“Bist du fertig? Die Fahrerin des X5 war Whitney Connolly. War nicht angeschnallt, ist direkt über den Airbag und durch die Windschutzscheibe geflogen.”

Taylor fühlte den Schock wie einen Blitz durch ihren Körper fahren. “Whitney Connolly, die Reporterin von Channel Five?”

“Ja, genau die.”

“Oh Sam, dann wird es hier bald nur so vor Übertragungswagen wimmeln. Kann ich irgendwie helfen?”

“Versuch einfach sie abzulenken, während ich mich um sie kümmer, okay? Falls jemand von Channel Five kommt, werden sie ihr Auto sofort erkennen.”

“Willst du ‘Kein Kommentar’ oder soll ich bestätigen, dass sie es war?”

Sam betrachtete die Szene für einen Moment. “Du kannst ihre Identität genauso gut bestätigen. Aber nur den Channel-Five-Mitarbeitern gegenüber. Sie müssen es sowieso so schnell wie möglich erfahren. Ansonsten handle nach eigenem Ermessen.” Sie ging zur Unfallstelle zurück und beeilte sich, die gelben Planen über die Körper zu breiten.

Taylor überquerte die Straße. Uniformierte Polizisten hatten sie bereits weiträumig abgesperrt. Niemand kam mehr durch außer den Übertragungswagen der Nachrichtensender. Und da kamen sie auch schon angerollt. Erleichtert stellte Taylor fest, dass gleich der erste von Channel Five stammte. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie auch die Rainman-Story hatten. Oh, oh, dieses Thema erwähnten die Damen und Herren ihr gegenüber besser nicht. Sie bedeutete ihnen, langsamer zu werden, und wies sie dann zu einem Platz am Straßenrand.

Sie erkannte die Reporterin und ihren Kameramann. Gott sei Dank, es war nicht die winzige Edith, aber diese spezielle Reporterin hatte schon über viele von Taylors Fällen berichtet und war mindestens genauso unausstehlich. Taylor wusste, dass sie sich beeilen musste, damit die beiden nicht einfach abrauschten und sie ignorierten. Sie forderte den Fahrer auf, das Fenster herunterzulassen, und steckte den Kopf in den Van.

“Tommy, Stacy, schön euch zu sehen.”

“Wann waren Sie denn jemals froh, uns vor Ort zu sehen, Lieutenant? Und warum sind Sie hier? Ich dachte, es handelt sich nur um einen Autounfall?” Stacy Harper hatte blondierte Haare, eine eckige Hornbrille und einen ausgeprägten Nordstaatenakzent. Sie war letztes Jahr von Channel Two abgeworben worden und kannte sich in Nashville ganz gut aus. Aber für Taylors Geschmack klang sie etwas zu schrill. Die Gerüchteküche besagte, dass sie mit einem Footballspieler der Tennessee Titans ausging, was die wenigsten überraschen würde. Sie hatte diesen perfekten kleinen Überbiss, der die Männer verrückt machte.

“Es ist ein Autounfall, aber ich muss euch etwas sagen.”

Stacy und der Kameramann wurden ungeduldig. Sie wollten einfach nur die Kamera in Position bringen und ihr Material für Stacys Beitrag schießen. Je mehr Rohmaterial sie bekamen, desto besser.

“Was denn, Lieutenant? Wir müssen langsam mit unserer Arbeit anfangen, damit wir es in die Mittagsnachrichten schaffen. Hey, wollen Sie vielleicht etwas zum Rainman sagen?”

“Lass es einfach, Stacy. Konzentrier dich. Whitney Connolly war in den Unfall verwickelt. Ihr X5 hat ein anderes Auto gerammt und dabei alle drei Insassen getötet.”

Für einen Moment leuchteten Stacys Augen auf. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – das war die Regel, nach der alle Sender spielten. Und es gab doch nichts besseres als einen kleinen Skandal, um die Einschaltquoten der Mittagssendungen in die Höhe schießen zu lassen. “Also verhaften Sie Whitney wegen Totschlags? War sie betrunken? Ich muss sofort meinen Producer anrufen, der flippt aus.” Sie suchte nach ihrem Telefon, aber dann bemerkte sie Taylors Blick und hielt inne. Auf ihrem Gesicht dämmerte die Erkenntnis.

“Oh, Sie machen Witze. Sie ist nicht …”

“Doch, das ist sie. Also denke ich auch, dass du deinen Produzenten anrufen solltest. Für den Augenblick seid ihr die Einzigen, denen wir es erzählen, damit du es dem Sender mitteilen kannst und alles Entsprechende eingeleitet werden kann, was auch immer das sein mag.”

Tommy und Stacy schauten sich eine ganze Weile an. Es würde ein sehr komplizierter Tag werden. Dann brach der Bann, und sie machten sich an die Arbeit, indem sie sich erst einmal in den hinteren Teil des Vans zurückzogen und Anrufe tätigten.

Taylor trat in dem Moment vom Van zurück, als der Übertragungswagen von Channel Four vorfuhr. Am Ende der Straße konnte sie schon den nächsten Sender anrollen sehen. Sie bedeutete Stacy und Tommy, sich zu beeilen, und ging dem Channel-Four-Truck entgegen.

Als er anhielt, erkannte Taylor, dass sie wussten, was los war. Laura McPherson, die hübsche Brünette, von der Taylor dachte, sie wäre eine der Klügeren auf dem Markt, stieg aus und kam direkt auf sie zu. Taylor rüstet sich für den Ansturm.

“Stimmt es, dass Whitney Connolly bei dem Unfall getötet worden ist?”

Es erstaunte sie immer wieder, wie schnell sich Nachrichten in Nashville verbreiteten. Taylor setzte gerade dazu an, “Kein Kommentar” zu sagen, als Laura ihre Hand hochhielt.

“Wir werden keine Aufnahmen machen, also können Sie sich entspannen. Wir haben gehört, dass Whitney und drei weitere Personen getötet worden sind. Jemand hat mich vom Unfallort aus angerufen und mir erzählt, sie glaube Whitney erkannt zu haben, bevor sie abgedeckt worden ist.”

Taylor musterte Laura. Jung, klug, so ambitioniert wie jeder andere Reporter, und dennoch hatte das Mädchen sie noch nie reingelegt. Damit gehörte sie zu einem ganz kleinen Kreis, und auch wenn Taylor nicht davon ausging, dass es niemals passieren würde, respektierte sie, dass diese Frau sie bisher noch nie falsch zitiert oder einen Bericht manipuliert hatte. Taylor wusste, dass der Rest der Truppe genauso dachte. Es war allgemein bekannt, wem man vertrauen konnte und wem nicht. Laura hatte ihren Job immer einwandfrei erledigt. Integrität bei einem Reporter. Beinahe musste Taylor lachen.

“Okay, aber nur weil Sie es sind. Whitney Connolly ist tatsächlich tot. Was werden Sie jetzt machen?”

Laura warf ihr einen Blick zu. “Natürlich mit meinem Producer sprechen. Whitney war eine Ikone, und wir werden ein Band mit ihren besten Beiträgen zusammenstellen, um sie entsprechend zu würdigen. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Gedanken über die anderen von uns machen. Jeder wird seine Kamera ausgeschaltet lassen. Respekt für eine Kollegin, wenn Sie verstehen.”

“Warum seid ihr nicht allem gegenüber so respektvoll?”

“Ach kommen Sie, Lieutenant, Sie wissen doch, wie es ist. Wir wollen bestimmt keinen der Zuschauer verärgern. Außerdem, es ist einfach nicht richtig, Kapital aus ihrem Tod zu schlagen. Ich habe sie verehrt.”

Damit drehte Laura sich um und stieg wieder in den Übertragungswagen. Weitere Vans rollten an, die ganze versammelte Mannschaft der Fernsehnachrichten: ABC, CBS, NBC und Fox, alle hatten ihre Lokalsender geschickt. Doch keiner machte Anstalten, sich der Unfallszene zu nähern. Keine Satellitenantennen, die sich ausrichteten. Es wurden keine Kabel ausgerollt, keine Anmoderationen geschrieben. Sie drängten sich zusammen, die Loyalität den einzelnen Sendern gegenüber vergessend, und betrauerten den Tod einer der ihren. Ein ungeplanter Trauerzug auf der West End. So machen wir es auch, dachte Taylor. Wenn einer unserer Polizisten stirbt, verhalten wir uns genauso. Alle Feindseligkeiten sind vergessen, der ganze Hass und die Angst sind fort. Wir trauern gemeinsam. Zumindest meistens. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Presse sich auch so verhalten würde.

Und Gott sei Dank setzte ihr niemand wegen weiterer Informationen über den Rainman-Fall zu. Dieses eine Mal waren sie zu geschockt, um klar denken zu können. Taylor wandte sich von ihnen ab, überquerte die Straße und ging zurück zu Sam. Sie fand, dass ihre Freundin immer noch ein wenig blass aussah, und konnte sich ungefähr vorstellen, wie sie selber aussehen musste. Der erste Adrenalinschub war verebbt, der Kater war mit aller Macht zurückgekehrt, und sie war unglaublich müde. Als sie Sam erreichte, wollte sie ihr den Arm um die Schulter legen, als ihr der Blutfleck auf ihrem Ärmel auffiel.

“Du hast Blut am Hemd.”

Sam schaute überrascht nach unten. “Hm, wie ungeschickt von mir. Ach, das geht schon wieder raus. Wie läuft’s mit den Nachrichtenjungs?”

“Sie halten alle den Ball flach. Keine Fotos, kein Film. Sie sind ziemlich geschockt. Die meisten überlegen, wie sie die Neuigkeiten aufbereiten können, ohne die ganze Stadt in Trauer zu versetzen. Endlich mal benehmen sie sich nicht wie die Geier, was eine angenehme Abwechslung ist. Du musst dir also keine Gedanken machen.”

Sam lächelte sie an. “Danke, T., du bist die Beste. Ich muss jetzt ins Leichenschauhaus. Bei dir alles okay?”

“Ja. Ich fahre jetzt ins Büro. Nehme ein paar Aspirin. Hole ein bisschen Arbeit auf. Ich hoffe, dass die Jungs alle meine Fälle gelöst haben, damit ich meinen Kopf auf den Schreibtisch legen und ein bisschen schlafen kann.”

“So viele Männer auf der Welt und so wenig Zeit. Grüß Baldwin von mir.” Sam drückte zum Abschied Taylors Arm und ging.