33. KAPITEL
Taylor saß vor Whitneys Laptop und ging die E-Mails durch, die sich in den zwei Tagen seit Whitneys Unfall angehäuft hatten. Sie war etwas abgelenkt, machte sich Sorgen. Baldwins Fall war völlig außer Kontrolle, aber hoffentlich brachten diese Nachrichten den Durchbruch. Sie musste sich durch mindestens zweihundert E-Mails arbeiten – einige langweilig, andere interessant, die meisten völlig irrelevant. Sie schaute weiter und fand endlich die sechs Originalnachrichten mit den Gedichten. Sie druckte sie für Baldwin aus.
Als sie den Laptop schließen wollte, sah sie, dass noch eine weitere E-Mail vom gleichen Absender eingetroffen war. Die hatte sie vorhin übersehen. Sie war als ungelesen markiert, was bedeutete, dass sie eingetroffen sein musste, nachdem Taylor und Quinn das Haus gestern verlassen hatten.
Sie öffnete die E-Mail und fand ein weiteres Gedicht. Auch das druckte sie aus. Zu wissen, dass es sich vielleicht um Kopien der Nachrichten handelte, die an den Tatorten hinterlassen worden waren, verstörte sie. Und Baldwin hatte ihr nicht genügend darüber mitgeteilt, um irgendetwas aus ihnen ableiten zu können. Sie dachte, dass es wohl am besten wäre, wenn sie die E-Mails an Baldwin weiterleiten würde, damit er sich ein direktes Bild machen konnte.
Sie begann die E-Mails weiterzuleiten und schickte sie parallel auch an ihre private E-Mail-Adresse. Ach, warum nahm sie nicht einfach den kompletten Computer mit? Dann könnte sie auch endlich das Haus verlassen. Hier zu sein war ihr irgendwie unheimlich. Es war sowieso sinnvoller, so vorzugehen. Vielleicht bekäme Whitney weitere Nachrichten, und dann müssten sie nicht jedes Mal hierherkommen, um nachzuschauen.
Taylor sah sich um und entdecke die schmale Tasche für den Laptop. Sie zog die Stecker und packte alles hinein. In einer Schublade fand sie einen großen Briefumschlag, in den sie die ausgedruckten Gedichte steckte. Nur kurz hielt sie inne, um das letzte Werk zu lesen; das Gedicht, das nach Whitneys Tod eingetroffen war.
Sieh an den Floh, und du erfährst,
wie wenig das ist, was du mir verwehrst.
Er saugte erst mich aus und nun dich,
und unser Blut, im Floh vermischt es sich.
Taylor erkannte das Gedicht. Es war von John Donne und hieß “Der Floh”. Ein sehr beliebtes Gedicht in der Highschool. Das ganze Saugen hatte jeden Jungen im Englischunterricht knallrot werden lassen, als die Lehrerin – eine hübsche, junge Frau – es vorlas. Baldwin hatte gesagt, dass es sich bei den Gedichten um Klassiker handelte. Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, was für eine Bedeutung sie für Whitney und den Mann, der sie ihr schickte, hatten. Taylor holte ihr Handy hervor und wählte Baldwins Nummer. Sie erreichte nur seine Mailbox und hinterließ ihm die Bitte, sie so bald wie möglich zurückzurufen. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Sie trug den Laptop zu ihrem Kombi und ging dann noch einmal ins Haus, um sicherzustellen, dass sie nichts vergessen hatte. Zufrieden, dass sie nicht noch einmal würde herkommen müssen, verließ sie das Haus, schloss hinter sich ab und legte den Schlüssel unter die Fußmatte. Genau so, wie sie ihn am ersten Tag vorgefunden hatte, als sie mit Quinn hier gewesen war.
“Ich muss Quinn Bescheid sagen, dass ich den Laptop mitgenommen habe”, dachte sie laut. Eine Nachbarin, die ihren flauschigen weißen Schoßhund Gassi führte, warf ihr einen Blick zu. Taylor lächelte sie an und winkte, dann stieg sie in ihren Kombi, ließ den Motor an und legte einen Gang ein. Sie würde Quinn später anrufen, nachdem sie die Gelegenheit gehabt hatte, mit Baldwin über die E-Mails zu sprechen.
Baldwin fuhr durch East Tennessee, genoss den Ausblick und die Fahrt so gut es ging und dachte über die Situation nach, in der er sich befand. Sechs tote Mädchen, und er konnte nicht einen einzigen Verdächtigen vorweisen. Das würde sich hoffentlich ändern, wenn er in Nashville war und mit dem CEO von Health Partners gesprochen hatte. Vielleicht auch schon, wenn Taylor ihn wegen der Gedichte anrief. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass die beiden Sachen etwas miteinander zu tun hatten. Er musste sich jetzt nur hinsetzen und versuchen, herauszufinden, was.
Er war früh aus Asheville losgefahren und gut durchgekommen. Er fuhr gerade durch Crossville auf der Interstate 40, als sein Telefon klingelte. Es war nur noch ungefähr eine Stunde bis Nashville, aber er war auf der Fahrt immer wieder in Funklöcher geraten, sodass er nun auf den Seitenstreifen fuhr und den Anruf dort entgegennahm. Auf dem Display sah er, dass es Taylor war.
“Hi, Honey, wie geht …”
“Baldwin, ich habe versucht, dich zu erreichen. Wo bist du?”
“Auf der 40 kurz hinter Crossville. Ich hatte beschlossen, mir ein Auto zu mieten und nach Nashville zurückzukommen, um ein paar Dinge zu erledigen. Wenn der Verkehr so bleibt, werde ich in einer Stunde zu Hause sein. Warum, was ist passiert?”
“Ich bin zu Whitneys Haus gefahren, um die E-Mails auszudrucken. Gestern ist noch eine weitere eingetroffen, nachdem Quinn und ich das Haus schon verlassen hatten. Wenn die E-Mails und Gedichte mit deinen Gedichten zusammenhängen, haben wir vielleicht großen Ärger.”
Baldwin biss die Zähne zusammen. Verdammt. Es war gut möglich, dass ein weiteres Mädchen aus Asheville entführt, aber noch nicht als vermisst gemeldet worden war. “Was für ein Gedicht war es?”
“Ich habe es zufällig erkannt, es sind ein paar Zeilen aus ‘Der Floh’ von John Donne. Kennst du es?”
“Ja, das kenne ich tatsächlich. Ich hab’s früher immer bei den Mädchen eingesetzt. Okay, du musst mir einen Gefallen tun. Du hast die Gedichte doch gerade vor dir, oder?”
“Ja, ich hab einfach den gesamten Laptop mitgebracht. Ich dachte, wenn noch weitere E-Mails von diesem Absender eintreffen, wäre es gut, wenn wir den Computer bei uns hätten.”
“Okay, ich werde dich jetzt auf Lautsprecher schalten und weiterfahren. Warte eine Sekunde. Falls die Verbindung abbricht, rufe ich dich sofort wieder an.” Er startete den Motor und fuhr wieder auf den Highway. “Okay, ich will, dass du mir alle E-Mails vorliest und mit der ältesten anfängst.”
Er hörte Taylor durch die Seiten blättern. Die Gedichte würden übereinstimmen, das wusste er jetzt schon. Er fing an, es zu spüren, dieses Gefühl, dass die Puzzleteile begannen, an ihren Platz zu fallen. Taylor kam wieder an den Hörer zurück.
“Die erste Nachricht ist von vor einem Monat. Sie lautet:
’Eine perfekte Frau, edel erdacht,
um zu warnen, zu trösten und zu befehlen;
und doch ein Geist, still und hell,
mit einem engelhaften Glanz.’
Oh, und da ist noch ein Postscript, das mir vorher nicht aufgefallen ist. Ich habe sie vorher nur auf dem Bildschirm angeschaut, jetzt sehe ich sie das erste Mal ausgedruckt vor mir. ‘Das lag am Tatort.’“ Sie hielt einen Moment inne. “Baldwin, sie wusste es. Sie wusste es und ist nicht zu uns gekommen. Verdammte Journalisten!”
Baldwins Herz klopfte heftiger. “Das ist die gleiche Nachricht, die in Susan Palmers Tasche gefunden wurde. Natürlich ohne das PS”, sagte er leise.
“Gut, die nächste kam vor zwei Wochen. Darin steht:
’Ein Wesen, nicht zu klug oder zu gut,
um des Menschen täglich Brot zu sein,
für vorübergehende Trauer einfache Listen:
Lob, Schuld, Liebe, Küsse, Tränen und Lächeln.’
Das PS lautet: ‘Das hier war von L. A..’“
“Das ist Jeanette Lerniers. Mist. Dieser Kerl hat Whitney Connolly die gleichen Gedichte geschickt, die er an den Orten zurückgelassen hat, von denen er die Mädchen entführte. Das zweite PS lässt es so klingen, als wenn sie es noch nicht herausgefunden hatte und er ihr mehr Infos liefern wollte. Taylor, Liebling, du bist die Beste. Bitte fahr fort.”
“Die nächste ist von Samstag, direkt nachdem wir Jessica gefunden hatten.
’Ein plötzlicher Hieb,
die großen Flügel schlagen immer noch
über dem schwankenden Mädchen.
Ihre Schenkel werden liebkost
von seinen dunklen Netzen,
ihr Nacken gefangen in seinem Schnabel,
hält er ihre hilflose Brust
an seiner Brust.’
Das PS sagt: ‘Haben Sie es schon herausgefunden?’.”
Baldwin war ganz aufgeregt. “Das ist das Gedicht, das wir bei Jessicas Sachen gefunden haben. Was kommt als Nächstes?”
Taylor las die nächste E-Mail vor.
“Wie können diese entsetzten schwachen Finger
die gefederte Pracht von ihren
sich lösenden Schenkeln drücken?
Wie kann irgendjemand,
in diesen weißen Rausch gebettet,
das fremde Herz nicht schlagen fühlen?
PS Aus Ihrem Hinterhof.’“
“Kein Zweifel, das ist Shauna Davidson. Sonst noch was?”
“Das nächste lautet:
’So gefangen zu sein,
so beherrscht vom rohen Blut der Luft,
hatte sie sich sein Wissen mit seiner Macht angeeignet,
bevor der gleichgültige Schnabel
sie fallen lassen konnte?’“
Taylor hielt einen Moment inne. “Marni Fischer?”
“Ja, genau. Kein PS?”
“Nein, hier gibt es nur das Gedicht. Was hat es damit auf sich?”
“Ich weiß es nicht. Entweder hatte er das Gefühl, genug erklärt zu haben, oder er war in Eile. Was haben wir noch?”
“Das nächste stammt von vor zwei Tagen. Es geht so:
’Halb umschloss sie mich mit ihren Armen,
drückte mich bescheiden an sich;
und den Kopf zurücklegend schaute sie auf
und sah mir direkt ins Gesicht.
Es war teils Liebe und teils Angst
und teils eine schamhafte Geste,
damit ich eher fühlte, als sah,
wie ihr Herz sich mir öffnete.’“
Taylor hörte etwas, was sich wie Papier anhörte, das gegen den Hörer raschelte. Sie stellte sich Baldwin vor, wie er sich mit der Hand durch die Haare fuhr.
“Das haben wir in dem Motelzimmer gefunden, in dem Christina Dale getötet worden ist. Aber du hast gesagt, gestern Abend ist ‘Der Floh’ gekommen?”
“Ich muss es noch mal aufrufen, um die genaue Uhrzeit nachzugucken, aber es kam auf jeden Fall, nachdem Quinn und ich Whitneys Haus gestern Abend verlassen hatten. Ich nehme an, du hattest keine Vermisstenmeldung vorliegen, als du aus Asheville weggefahren bist?”
“Nein, hatten wir nicht. Aber wenn das hier dem Muster folgt, dann hat er sich ein weiteres Mädchen geschnappt. Verdammt, dieser Kerl hat den Turbo eingeschaltet. Ich sage besser Grimes Bescheid, aber wir können nicht hundertprozentig sicher sein, dass er in Asheville zugeschlagen hat. Natürlich, es kann auch sein, dass er jemanden mitgenommen hat, der bisher nicht vermisst wird. Hör zu, ich habe eine Verabredung, sobald ich in Nashville ankomme. Ich muss mit dem Geschäftsführer einer Firma sprechen, der einige der Krankenhäuser gehören, in denen drei der Mädchen gearbeitet haben. Die Firma heißt Health Partners, und wir wollen uns gemeinsam ein paar …”
“Was hast du gerade gesagt?”
“Dass ich mich mit dem Geschäftsführer von Health Partners treffen werde”, sagte er und hörte, wie Taylor nach Luft schnappte. Als sie anfing zu sprechen, klang sie ganz vorsichtig.
“Baldwin, Quinn Buckleys Mann arbeitet für Health Partners. Er ist Vizepräsident. Da muss es einfach eine Verbindung geben, das ist es bestimmt auch, was Whitney herausgefunden hat. Meinst du, dass …”
“Er ist Vizepräsident, sagst du? Ich wette, er reist viel. Wir müssen uns sehen, bevor ich dahin fahre. Kannst du mich in deinem Büro treffen? Ich bin in weniger als dreißig Minuten da.”
“Beeil dich, Baldwin.”