44. KAPITEL

Quinn Buckley begann sich Sorgen zu machen. Jake hätte schon längst zu Hause sein sollen. Das FBI suchte nach ihm, es war eine landesweite Fahndung nach seinem Auto ausgeschrieben worden, und nichts passierte. Sie saß allein in ihrer leeren Küche, trank einen Tee und versuchte ihr gebrochenes Herz zusammenzuhalten. Seit Tagen schon konnte sie ihren Bruder nicht erreichen, und sie hatte auch noch keine Pläne für die Beerdigung ihrer Schwester machen können. Die Kinder waren zum Spielen bei Freunden. Sie konnte sich kaum daran erinnern, es ihnen erlaubt zu haben, aber da war diese kurz angebundene Nachricht von Gabrielle, die besagte, dass die Kinder bei Nachbarn in der Straße zum Spielen waren. Das große Haus war still und düster, und sie hatte das Gefühl, langsam den Verstand zu verlieren.

Sie wusste, dass Jake auf gar keinen Fall all diese Mädchen umgebracht hatte. Jake mochte vieles sein, ein Feigling, ein Fremdgeher, ein schlechter Ehemann, ja, all das war er. Aber er war kein Mörder! Und als John Baldwin vom FBI angerufen hatte, um zu fragen, ob er vorbeikommen und sich mit ihr unterhalten könne, hatte sie nur zu gerne zugestimmt. Er wollte noch ein paar Details über Jake klären, für die er bisher noch keine Bestätigung erhalten hatte. Vielleicht war sie nur einsam und brauchte jemanden, der bei ihr saß, ihre Hand hielt und ihr sagte, dass er sie verstand.

Sie ging hinüber ins Büro, den einzigen Raum im Haus, von dem sie das Gefühl hatte, ihn ihr Eigen zu nennen. Vielleicht würde ein Buch sie ja aufheitern? Sie betrat das Zimmer und atmete tief ein. Dann zuckte sie zusammen und stieß einen erschrockenen Schrei aus. In der Mitte des Raumes stand Reese, ihr kleiner Bruder. Er sah sie nur aus unergründlich traurigen Augen an.

“Mein Gott, Reese, du hast mich zu Tode erschreckt. Wann hast du dich hineingeschlichen? Ich habe nicht einmal die Türglocke gehört. Oh, es tut so gut, dich zu sehen. Wann bist du zurückgekommen?”

Sie ging zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Reese war groß; wie Jake erreichte er ohne Schuhe beinahe einen Meter fünfundneunzig. Er hatte schwarzes, lockiges Haar, das Lächeln eines Ganoven, dunkelblaue Augen und ein Grübchen im Kinn. Sein Kiefer war breit, die Nase wie gemeißelt, und Quinn konnte nicht anders, als ihn bewundernd anzustarren. Er sah einfach so gut aus. Und so unglaublich jung. Einen kurzen Moment lang erfüllte sie Stolz, dann schüttelte sie das Gefühl ab.

“Süßer, ich versuche seit Tagen dich anzurufen, aber habe dich nie erreicht.”

“Es tut mir leid, Quinn. Ich hatte doch gesagt, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten sind. Es war erstaunlich. Wirklich erstaunlich. Ich habe so viel gelernt. Ich bin letzte Nacht angekommen und habe heute Morgen deine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter gehört. Warum hast du versucht, mich zu erreichen?”

Quinn wusste nicht, wie sie das Thema anschneiden sollte. Sie wusste, dass Whitney und Reese sich in keinster Weise nahegestanden hatten. Aber sie waren verwandt, und das musste doch auch etwas bedeuten. Sie nahm seine Hand und führte ihn zu der nächsten Sitzgelegenheit, einem riesigen Schaukelstuhl aus Leder, der mit bronzenen Nieten verziert war. Sie drückte ihn sanft hinunter und setzte sich selbst auf die samtene Ottomane ihm gegenüber. Dann nahm sie auch seine andere Hand und sah ihm direkt in seine wunderschönen Augen.

“Süßer, Whitney hatte einen Unfall. Sie hat ihn nicht überlebt. Es ist passiert, als sie, nun ja, auf dem Weg hierher, zu mir war. Ich wusste nicht, ob irgendjemand anders zu eurem Team durchgedrungen war, ob jemand von u Hause einem der Ärzte etwas erzählt hatte. Ich wollte es dir persönlich sagen.”

Reese zeigte keinerlei Reaktion, und Quinn wurde das Herz schwer. Er konnte sie doch nicht so sehr hassen. Reese schaute sie an, seine Augen blickten aufgewühlt.

Quinn drückte seine Hände. “Ich weiß, Honey, ich weiß. Es ist schrecklich. Aber da ist noch mehr. Die Polizei hat Whitneys Laptop mitgenommen. Offensichtlich ist sie wie auch immer mit diesem fürchterlichen Mann verbunden, der Mädchen im gesamten Südosten getötet hat. Ich weiß nicht, ob du davon etwas gehört hast, obwohl darüber in den landesweiten Nachrichten und Zeitungen berichtet wurde. Ich dachte, vielleicht hättest du etwas davon mitbekommen. Reese? Reese?”

Reese starrte vor sich hin, ohne zu blinzeln, sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Eine einzelne Träne bildete sich in seinem Augenwinkel und rann langsam und von ihm unbeachtet über seine Wange. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Quinn plapperte weiter, versuchte, die unangenehme Stille zu füllen.

“Ich meine, ich verstehe es einfach nicht. Whitney hat etwas mit diesem Mörder zu tun? Ich weiß nicht, wie das möglich sein soll, und die Polizei gibt mir auch nicht gerade viele Informationen. Ich bin sicher, dass sie geplant hat, irgendeine Story darüber zu machen, und sie hat versucht, mich zu erreichen, am Tag bevor …” Ihre Stimme brach, und sie musste sich erst einmal sammeln, bevor sie weitersprechen konnte. “Am Tag bevor sie gestorben ist. Oh Reese, was sollen wir nur tun?”

Endlich schaute Reese ihr in die Augen und entzog ihr sanft seine Hände. “Also wusste sie es nicht?”

“Was wusste sie nicht, Lieber?”

Reese stand auf und trat an eines der Bücherregale. Er streckte einen Finger aus und fuhr damit den aufwendig gestalteten Rücken eines Buchs entlang. “Die ganze Arbeit”, murmelte er.

Quinn hörte es, verstand aber die Bedeutung nicht.

“Was, Süßer? Ich habe dich nicht verstanden. Geht es dir gut?”

Er drehte sich zu ihr um, ein kleines Lächeln auf den Lippen und ein Funkeln in den Augen. “Meine ganze Arbeit. Sie hat es nicht gewusst.” Er fing an zu lachen, und Quinn war unsicher, was sie tun sollte. Trauer nahm alle möglichen Formen an, und auch wenn sie wusste, dass Reese seine Schwester nicht besonders gemocht hatte, so fand sie doch, dass Lachen nicht der beste emotionale Weg war, den er nach der Nachricht über ihren Tod einschlagen konnte.

“Also, Reese Connolly, ich weiß nicht, was mit dir los ist. Ich habe dir gerade gesagt, dass deine Schwester tot ist, und du lachst. Was geht nur in deinem Kopf vor?”

Er lachte jetzt noch lauter, Tränen strömten ihm über das Gesicht. Mit einem Schritt war er bei Quinn, zog sie in eine kurze, aber heftige Umarmung und verließ dann, immer noch lachend, das Zimmer. Quinn hörte, wie das Gelächter leiser wurde, dann schlug die Eingangstür zu. Ein röchelnder Motor erwachte zum Leben, und ein Wagen entfernte sich die Straße hinunter.

Sie ließ sich in den Schaukelstuhl sinken, auf dem er eben noch gesessen hatte, bevor die bizarre Reaktion auf den Tod seiner Schwester ihn dazu gebracht hatte, aufzustehen. Was zum Teufel war da los? Quinn schüttelte den Kopf. Das ging über ihren Verstand. Sie wusste, dass er unmöglich die Wahrheit wissen konnte. Aber vielleicht lag sie damit falsch. Vielleicht hatte Reese sie alle die ganze Zeit über schon getäuscht.

Es klingelte an der Tür. Quinn atmete tief durch, stand auf und ging zur Tür. Als sie öffnete, sah sie sich Taylor Jackson und einem Mann gegenüber, von dem sie annahm, dass es sich bei ihm um den FBI-Agenten handelte, mit dem sie telefoniert hatte. Taylor trug ein blaues Auge und ein angestrengtes Lächeln. Der FBI-Agent sah einfach nur besorgt aus.

“Kommen Sie doch rein, bitte.” Sie ging vor ins Foyer und beobachtete die beiden ganz genau, als sie eintraten. Irgendetwas war hier los. Meine Güte, was konnte denn noch passiert sein? Die Polizei hatte Whitneys Computer konfisziert. Sie suchten nach ihrem Ehemann. Ihr kleiner Bruder hatte sich vor Lachen gar nicht mehr eingekriegt, als er vom Tod seiner Schwester erfuhr. Ihr Leben begann langsam, aber sicher, sich aufzulösen, und sie wusste nicht, wie sie diese Entwicklung aufhalten konnte.

Taylor und Baldwin setzten sich in die Bibliothek und beobachteten, wie Quinn aufgeregt durch die Gegend lief wie eine Feder, die vom Wind getragen wurde. Endlich setzte sie sich ihnen gegenüber hin und atmete durch.

“Bitte sagen Sie mir, was los ist. Was ist der wahre Grund dafür, dass das FBI nach meinem Mann sucht?”

Baldwin lehnte sich ein wenig vor und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. “Mrs. Buckley, wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Mann in mehrere Verbrechen verwickelt ist, die wir in den letzten paar Wochen untersucht haben.”

Quinn warf den Kopf zurück und lachte. “Lassen Sie mich raten. Sie denken, dass Jake der Southern Strangler ist. Bitte, Mr. Baldwin, lassen Sie mich Ihnen versichern, Jake ist genauso wenig der Strangler wie ich. Das ist einfach etwas, was unmöglich sein kann. Jake kann niemanden umbringen. Seinen Schwanz in jede Frau stecken, die des Weges kommt, absolut. Aber töten? Niemals.”

Baldwin ließ sich nicht irritieren. “Mrs. Buckley, Sie scheinen nicht zu verstehen … Ihr Ehemann war in genau den Gegenden, in denen die Mädchen vermisst wurden, und an den genau gleichen Orten, in denen man ihre Leichen gefunden hat. Das an sich ist schon ein starkes Indiz gegen ihn. Haben Sie heute schon etwas von Ihrem Mann gehört?”

“Nein, habe ich nicht, aber das besagt gar nichts. Es können Tage vergehen, an denen Jake sich nicht meldet. Die Hälfte der Zeit habe ich keine Ahnung, wo er sich befindet …” Ihre Stimme verstummte. Einen Moment lang starrte sie aus dem Fenster. “Sie meinen es ernst, oder? Deshalb haben Sie auch Whitneys Computer mitgenommen. Sie glauben, Jake hätte ihr diese Nachrichten, diese Gedichte geschickt. Aber warum um alles in der Welt sollte er das tun? Jake schickt niemandem Gedichte.” Sie unterbrach sich, ihre Stimme klang brüchig. “Zumindest nicht mehr.”

Mit einem Mal riss sie ihre Augen auf. “Dieser Hurensohn. Er hat mit Whitney geschlafen, nicht wahr? Er hat ihr Liebesgedichte geschrieben, wie er es bei mir … Verdammt, ist ihm denn gar nichts heilig? Das würde einen Sinn ergeben. Mein perfekter Ehemann vögelt meine genauso perfekte Schwester. Ist das nicht zum totlachen?”

Baldwin sicherte sich dieses kleine Informationsfitzelchen im Kopf und versuchte, die Befragung wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken. “Mrs. Buckley, ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss. Sie haben Ihre Schwester verloren, und Ihr Mann … nun, wir wissen nicht, wo er ist oder was er die letzten paar Wochen über getrieben hat. Ich hätte gerne Ihre Erlaubnis, ein paar persönliche Dinge von Mr. Buckley mitzunehmen. Wir würden gerne ein paar Tests machen, versuchen herauszufinden, ob wir Proben …”

Quinn erwachte zum Leben, Funken sprühten aus ihren Augen. “Sind Sie verrückt geworden? Glauben Sie wirklich, ich marschiere nach oben und gebe Ihnen irgendetwas, das vielleicht meinen Ehemann mit einem Verbrechen in Verbindung bringen könnte? Besorgen Sie sich einen Durchsuchungsbefehl, Mr. Baldwin. Ich werde Ihnen nicht dabei helfen, meinem Mann ein Verbrechen anzuhängen, das er nicht begangen hat.”

Taylor mischte sich ein. “Quinn, Sie und ich wissen beide, dass das Beste, was Sie tun können, ist, uns ein paar Sachen mitnehmen und im Labor überprüfen zu lassen, um Jake als Verdächtigen auszuschließen. Es würde unser aller Leben erheblich vereinfachen, wenn Sie jetzt mit uns kooperieren würden. Denken Sie darüber nach, Quinn. Sieben junge Mädchen sind ermordet worden. Und ein achtes wird vermisst. Ihr Mann ist von der Bildfläche verschwunden, Ihre Schwester starb bei dem Versuch, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Sie sich Gefahr befinden. Es passt alles zusammen. Helfen Sie uns, ihm zu helfen.”

Quinn schüttelte den Kopf. Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. “Auf gar keinen Fall. Nein. Und jetzt würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie gehen.” Sie stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen leuchteten unnatürlich hell, Tränen des Frusts saßen an ihren Lidern und versuchten sich Bahn zu brechen.

Baldwin und Taylor standen ebenfalls auf. Als sie in den Flur traten, hörten sie ein leises, wimmerndes Geräusch von hinter der Tür. Quinn hörte es auch und ging voran in die marmorgeflieste Eingangshalle. Gabrielle, ihre italienische Studenten-Nanny, saß da mit dem Kopf in den Händen und weinte leise vor sich hin. Für einen Moment wurde Quinns Gesichtsausdruck ganz weich.

“Gabrielle, es ist okay. Alles wird wieder gut. Sarà tutto il di destra, cara. Non si preoccupi.”

Gabrielle hob ihren Kopf und schaute Quinn an.

“Non, es wird nicht wieder alles gut. Sie haben keine Ahnung. Es gibt keinen Weg, dass Signor Buckley diese Sachen getan hat. Ich weiß es.” Sie begann heftiger zu weinen, und ein italienischer Wortschwall ergoss sich aus ihrem Mund. “Sto facendo l’amore con Signor Buckley per parecchi mesi. Siamo nell’amore. Non significo danno a voi. È il mio amante. È il vostro difetto, Signora Buckley. Non è di destra voi non lo ama come.”

Gabrielle richtete sich auf, und Taylor erkannte die Geste sofort. Eine verliebte Frau. Nicht wie Quinn Buckley, resigniert, aber stolz. Dieses junge Mädchen war verrückt vor Liebe zu ihrem Arbeitgeber, und sie hatte einen Weg gefunden, es seine Frau wissen zu lassen.

Taylor schaute zu Quinn. Sie schien drei Zentimeter geschrumpft zu sein und hatte ihre Arme noch fester um ihren dünnen Körper geschlungen.

“Quinn, was hat sie gerade gesagt?”, fragte Taylor mit einem Hauch Besorgnis in der Stimme. Von Frau zu Frau. Vielleicht funktionierte es ja.

Quinn stand immer noch in einem visuellen Duell mit der jungen Nanny ihrer Kinder. Sie atmete tief ein und begann zu sprechen, wobei sie ihre Augen weiter auf Gabrielle gerichtet hielt.

“Sie sagt, dass sie und Jake eine Affäre haben. Dass sie sich lieben. Dass es meine Schuld ist, weil ich ihn nicht genug geliebt habe. Stimmt das so ungefähr, Gabrielle? Ich liebe meinen Ehemann nicht genug, also fühltest du dich bemüßigt, einzugreifen und ihn für mich zu lieben? Verlass sofort mein Haus, voi poco squaldrina. VOI SORCA!”

Gabrielle riss die Augen auf, und Taylor erkannte, dass Quinn sie mit einem fürchterlichen Schimpfwort bedacht haben musste. Das Mädchen schrie auf, warf ihre langen Haare über die Schulter und rannte aus dem Raum.

Quinn brach auf einem antiken Stuhl, der nicht aussah, als könnte er ihr Gewicht tragen, zusammen. Sie sah so dünn, so zerbrechlich aus, dass Taylor einfach den Arm ausstrecken musste und ihr, wie sie hoffte, tröstend die Schulter tätschelte. Quinn versteifte sich sofort. Taylor zog ihre Hand wieder weg.

“Es tut mir leid, Quinn. Es tut mir leid, dass die Dinge so gelaufen sind. Sind Sie sicher, dass es nichts gibt, was Sie uns erzählen wollen?” Taylor sprach leise, beschwörend, als wenn Quinn eine erschreckte Katze wäre, die sie unter der Couch hervorlocken wollte. Einen Moment lang rührte sich Quinn gar nicht, dann seufzte sie. Aller Kampfgeist war aus ihr gewichen.

“Lassen Sie uns zurück in die Bibliothek gehen. Ich werde Ihnen auf jede nur erdenkliche Weise helfen.”

Gemeinsam gingen sie wieder zurück. Taylor und Baldwin nahmen erneut ihre Positionen auf der Couch ein und beobachteten Quinn, die unruhig auf und ab lief. Sie unterbrachen sie nicht, als sie endlich anfing zu sprechen.

“Jake und ich haben jetzt schon seit einiger Zeit Probleme. Nun, seit einigen Jahren, sollte ich wohl besser sagen. Wir hatten einen Streit, einen fürchterlichen, grauenhaften Streit an einem Samstagabend vor zwei Monaten. Jake bereitete sich mal wieder auf eine Geschäftsreise vor. Sie wissen ja, für seine Arbeit ist er beinahe jeden Tag unterwegs. Ich wollte, dass er zu Hause bleibt, sich einmal für mich und nicht für Health Partners entschied. Das war der Moment, wo er zugegeben hat, mich betrogen zu haben. Er hatte sich mit der Praktikantin einer Marketingfirma eingelassen, mit der er zusammenarbeitete. Die Affäre war nur kurz, ein paar Tage, aber es war, als hätte er da beschlossen, dass er nicht mehr mit mir zusammen sein wollte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Welche Frau ist schon darauf vorbereitet, zu erfahren, dass ihr Mann sie nicht mehr liebt? Ich hab das Einzige getan, was mir eingefallen ist. Ich habe die Scheidungspapiere aufsetzen lassen und sie ihm am letzten Montagabend gezeigt. Deshalb bin ich nicht rangegangen, als Whitney mich angerufen hat. Ich habe meinem Mann gesagt, dass er sich von mir, den Kindern, dem Haus und meinem Geld verabschieden kann. Er stürmte aus dem Haus, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.”

Baldwin tippte mit dem Finger auf die Armlehne der Couch. “Er hatte eine Affäre mit einer Praktikantin? Wissen Sie, ob das hier in der Stadt oder irgendwo außerhalb stattgefunden hat?”

“Ich hege die Hoffnung, dass Jake so viel Anstand besessen hat, seinen Liebschaften in der Ferne nachzugehen.” Sie hielt einen Moment inne, überlegte. “Natürlich habe ich damit falschgelegen. Gabrielle und Whitney. Direkt vor meiner Nase. Mein Gott, ich bin so eine unglaublich dumme Gans.”

“Das sind Sie natürlich nicht. Diese Dinge passieren”, beruhigte Baldwin sie. “Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen müssen, Mrs. Buckley. Aber die Affäre, die Praktikantin. Wissen Sie …”

“Ich glaube, es war in New Orleans, während des Mardi Gras; irgendwie so etwas.”

“Hat er einen Namen erwähnt?”

“Oh, irgendetwas Französisches. Er fing mit einem J an.”

“Jeanette Lernier?”, hakte Baldwin nach.

Quinn winkte ab. “Kann sein. Ich war ehrlich gesagt nicht sonderlich erpicht darauf, alle pikanten Details zu erfahren.” Sie schwieg wieder, dachte nach. “Warten Sie. Sie wussten den Namen. Sie wussten bereits, dass er mit ihr etwas hatte. Wie konnten Sie … ach, ich will es gar nicht wissen.” Sie hörte auf zu reden, geschlagen, mit der Hand ihre Augen bedeckend.

Baldwins und Taylors Blicke trafen sich. Quinn musste es erfahren. Baldwin atmete tief ein. “Jeanette Lernier war das zweite Opfer des Southern Strangler.”

Quinns Hand fiel herunter, und sie riss ihre Augen auf. Langsam dämmerte ihr die Erkenntnis.

“Oh mein Gott”, flüsterte sie.

Ihnen lief die Zeit davon. Taylor räusperte sich. “Jake hat sich diese Woche nicht zu Hause gemeldet? Kein Wort von ihm?”

“Nein, Lieutenant, kein Ton.” Sie lachte schrill. “Vielleicht habe ich die Sachen doch nicht so gut im Griff gehabt. Ich hätte ihm die Wahrheit gleich am ersten Tag sagen sollen, als wir uns kennengelernt haben.”

Baldwin sprach sehr sanft. “Die Wahrheit über was, Mrs. Buckley?”

Sie schaute ihn einen Moment an, kühl, abschätzend. Dann drehte sie sich weg. “Die Wahrheit darüber, was mit Whitney und mir passiert ist, als wir noch Kinder waren. Darüber, was für eine Farce unsere Leben waren. Sie erinnern sich”, beschuldigte sie Taylor. “Als Polizistin kennen Sie die ganze Geschichte sehr wahrscheinlich bereits.”

Alle drei schraken zusammen, als Taylors Telefon klingelte. Sie war versucht, es klingeln zu lassen, aber sie wusste, dass sie rangehen musste. “Es tut mir leid. Bitte lassen Sie mich nur eben diesen einen Anruf entgegennehmen. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, Quinn. Polizeiberichte und Gerichtsmitschriften erzählen nur die Hälfte. Ich würde gerne auch Ihre Seite hören. Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.”

Sie schaute auf das Display. Es war Fitz. Sie ging aus dem Zimmer und nahm den Anruf entgegen. “Jackson hier.” Als er sprach, konnte sie nicht glauben, was sie hörte.

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie zurück in die Bibliothek. Baldwin und Quinn waren schweigsam, zurückhaltend. Taylor straffte die Schultern, bevor sie sprach. Diese Neuigkeiten würden einen so tiefen Riss durch Quinns Leben ziehen, dass er sehr wahrscheinlich nicht wieder repariert werden konnte.

“Quinn, bitte. Ich habe Neuigkeiten von Jake.”

Quinn schaute sie nicht an, sondern sank elegant in einen Sessel und faltete die Hände im Schoß. Sie drückte sie so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. “Immer heraus damit. Dieser Tag kann nicht schlimmer werden.”

“Quinn, Jake ist verhaftet worden. Man hat sein Auto auf der I-65 von Kentucky in südlicher Richtung nach Nashville angehalten. Er hatte …” Ihre Stimme zitterte kurz, gewann dann aber wieder an Stärke. “Er hatte eine Leiche im Kofferraum. Wir glauben, dass es sich um Ivy Tanner Clark handelt, das Mädchen, das gestern in Louisville als vermisst gemeldet wurde.”

Baldwin stand auf, bereit, sie mit Fragen zu löchern, doch sie hielt abwehrend eine Hand hoch. “Jake wird gerade ins Strafjustizgebäude in der Stadt gebracht. Special Agent Baldwin und ich werden dort jetzt sofort gebraucht. Wir müssen ihn verhören, sobald die Formalitäten abgeschlossen sind. Verstehen Sie, was ich sage, Quinn?”

Quinns Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, eine blutleere Linie quer durch ihr niedergeschlagenes Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. “Muss ich ihm einen Anwalt besorgen?”

“Ja, das wäre gut. Außer er verzichtet auf das Recht auf einen Anwalt und spricht mit uns. Warum kommen Sie nicht mit uns, dann können Sie das vor Ort klären.”

“Nein. “Quinns Stimme hatte den ganzen Nachmittag über noch nicht so stark geklungen wie jetzt. “Lassen Sie ihn schmoren. Wenn er es getan hat, werde ich ihm nicht helfen.” Sie stürzte aus dem Raum, und Taylor hörte, wie sie die Treppe hinauflief. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich an Baldwin.

“Wir sollten los. Ich will ein paar Minuten alleine mit Mr. Buckley haben.”