48. KAPITEL

Taylor, Baldwin und Lincoln standen vor einem Coffeeshop mit dem Namen Bongo Java, direkt neben dem Campus der Belmont University. In dem Laden wimmelte es nur so von Menschen, künstlerisch angehauchten Studenten, Yuppies in grauen Anzügen, Grunge-Rocker mit Tattoos und schwarz lackierten Fingernägeln. Es war einer dieser Orte, der Klassen übersprang, sich nicht dafür interessierte, was man war oder wer man sein wollte. Hier wurde Kaffee serviert, es gab eine großartige Internetecke, und genau weil es so unspektakulär war, war das Café einer der beliebtesten Plätze der Stadt.

Sie hatten sich vorsichtshalber einen Durchsuchungsbefehl besorgt, um sich die Arbeit zu erleichtern. Als sie eintraten, sog Taylor tief die Luft ein und genoss den Duft nach frischem Kaffee. Ein Latte Macchiato kam ihr jetzt gerade recht.

Sie gingen an den Tresen und gaben ihre Bestellung auf. Baldwin bezahlte zwinkernd. Die Rechnung ging heute aufs FBI, eine kleine Belohnung, weil sie endlich auf dem richtigen Weg waren. Taylor und Lincoln zeigten ihre Marken und baten, mit dem Manager sprechen zu können. Stattdessen kam der Besitzer des Ladens aus dem rückwärtig liegenden Büro, bereit, der Polizei von Nashville mit allem zu helfen, was sie benötigten.

Während Lincoln erklärte, was genau sie brauchten, sah Taylor sich um. An einer kleinen, aber wohlgeordneten Pinnwand hingen Konzertankündigungen, Wohnungsgesuche, Hinweise auf eine Lesung. Sie dachte, dass der Strangler vielleicht genau dort gestanden hatte, wo sie jetzt stand, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie waren nah dran, das konnte sie fühlen. Eine unterschwellige Reaktion auf die Gegenwart des Bösen. Er könnte in diesem Augenblick hier irgendwo sitzen. Sie sah sich um. Der da, mit dem halben Irokesenschnitt und dem Nasenpiercing. Ihr Blick glitt weiter, als der Punk ihr den Mittelfinger zeigte. Anarchie, Baby. Oder er, der sanft aussehende Mann, der allein vor seinem aufgeklappten Aktenkoffer saß und aus dem Fenster starrte, als wenn seine Welt gerade untergegangen wäre? Vielleicht auch der Besitzer des Ladens selbst, ein auf die fünfzig zugehender Mann mit Bauchansatz, der sehr ernst aussah, während er mit Baldwin sprach. Das Böse hatte viele Gesichter, und viele davon sahen harmlos aus. Es war nicht immer gleich zu erkennen.

Lincoln saß an einem der Computer, die Finger flogen über die Tastatur, als er ein Programm laufen ließ, dass er selbst geschrieben hatte. Er schaute zu ihr hinüber und hob den Daumen. Er hatte also den richtigen Computer gefunden, die Spuren des Mörders im Cyberspace aufgespürt.

Aber die Tatsache, dass die E-Mail am Abend zuvor verschickt worden war, bedeutete, dass unzählige Leute den Computer benutzt haben konnten, seitdem der Strangler daran gesessen und seine Nachricht getippt hatte. Fingerabdrücke schieden also aus. Und es gab keine andere Spur zu ihm. Sie hatten seinen letzten Kommunikationstandort gefunden, aber konnten damit gar nichts anfangen.

Taylor ging zu Baldwin und dem Besitzer und unterbrach ihre Unterhaltung. “Ist irgendjemand hier, den Sie von gestern Abend wiedererkennen?”

Baldwin nickte ihr zu. “Darüber haben wir gerade gesprochen. Er sieht niemanden, der gestern Abend auch hier war, außer den Stammgästen. Sie hatten eine Art Poetry Slam, und es waren ungefähr fünfzig Leute da. Ihm ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.”

“Mir aber.” Eine kleine Stimme unterbrach sie, sie kam aus der Höhe von Baldwins Ellenbogen. Eine Elfe in einem langen, fließenden Bauernrock und einem lebhaften Schal in Regenbogenfarben musste praktisch aufzeigen wie in der Schule, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie war winzig, nicht mal eins fünfzig, und bezaubernd zart. Sie schenkte ihnen ein gewinnendes Lächeln, als sie zu ihr hinunterschauten.

“Ich meine, ich habe letzte Nacht jemanden an dem Computer arbeiten sehen, während der Lesungen. Ich habe Leute beobachtet, wissen Sie? Hier sind so viele verschiedene Menschen, das ist ganz großartiges Material für meine Arbeit. Ich bin Künstlerin”, fügte sie stolz hinzu. Taylor unterdrückte ein Grinsen. Das Mädchen war so winzig und so kunterbunt angezogen, dass sie es auf Anhieb mochte. Sie hatte schon immer Leute bewundert, die ihre Persönlichkeit auf diese Art ausdrücken konnten.

“Wow, was ist denn mit Ihnen passiert?”, fragte das Mädchen Taylor. “Sie sehen ziemlich krass aus.” Sie betrachtete Taylor genauer. “Ich weiß nicht mal, ob ich die richtigen Farben mischen könnte, um das zu malen. Tut es weh?”

Taylor lächelte. “Es ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste, aber danke der Nachfrage. Wir müssen wissen, was Sie gestern Abend gesehen haben.”

“Ja, Ma’am, was haben Sie beobachtet?”, fragte Baldwin, die Hände vor Anspannung zu Fäusten geballt.

Plötzlich das Zentrum aller Aufmerksamkeit, richtete sich das Mädchen ein bisschen gerade auf und räusperte sich. “Gestern Abend hat ein Mann an dem Computer gesessen. Es ist mir aufgefallen, weil er so verdammt gut aussehend war. Ich hatte überlegt, zu ihm zu gehen und mich vorzustellen, aber als ich endlich den Mut beisammenhatte, loggte er sich aus und ging. Ich war enttäuscht. Einen so schönen Mann sieht man nicht oft. Ich hätte es toll gefunden, wenn er für mich Modell gesessen hätte.”

Taylor fühlte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. “Wie hat er ausgesehen … wie war doch gleich Ihr Name?”

“Ich bin Isabella. Ich bin an den meisten Abenden hier. Oft auch tagsüber. Kommt drauf an, wie die Kunst so läuft, ob die Muse mir hold ist oder nicht.”

“Okay, Isabella, wie sah er aus?” Baldwin wollte wieder zum Thema zurückkommen.

“Er war gut eins fünfundneunzig groß, beinahe so groß wie Sie. Muskulös. Er trug ein schwarzes Kaschmir-T-Shirt, das aussah, als wäre es aufgemalt. Man konnte jeden Muskel erkennen. Er war auch sehr süß. Ein echter Adonis. Schwarze Haare, leicht gewellt und etwas länger. Und diese blauen Augen. So einen Blauton habe ich noch nie gesehen. Ich müsste die Farbe selber anmischen, um sie hinzubekommen; als fertige Farbe gibt es so etwas nicht, wissen Sie?” Sie schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. “Ach, ich bin aber auch dumm. Ich habe ihn doch gezeichnet.”

Sie öffnete ihre Mappe und blätterte ein wenig hin und her. “Hier, das ist er. Erstaunlich, nicht?”

Erwartungsvoll nahm Taylor ihr das Blatt aus der Hand. Sie und Baldwin hielten je eine Ecke und starrten auf den perfekten Kiefer, die gemeißelte Nase, die vollen Lippen, die das Gesicht beinahe feminin aussehen ließen. Taylor war überrascht. Dieser Engel konnte doch sicherlich nicht ihr Mörder sein? Ihre Blicke trafen sich, und sie bemerkte, dass Baldwin das Gleiche dachte. Er nickte ihr kurz zu.

“Isabella, dürfen wir das behalten?”, fragte er.

Die Elfe sah einen Moment lang traurig aus, dann nickte sie. “Ja, sicher, natürlich können Sie es haben. Aber wenn Sie es nicht mehr brauchen, könnte ich es dann vielleicht wiederbekommen? Es war das Beste von allen Bildern.” Sie errötete. “Ich habe mehrere gemacht”, gab sie zu.

Taylor streckte ihre Hand aus und schüttelte die des Mädchens. “Ich verspreche, wir werden es Ihnen zurückgeben. Sie wollen es dann vielleicht nicht mehr haben, aber wir bringen es zurück.” Sie reichte Isabella ihre Visitenkarte. “Ich danke Ihnen, Isabella. Sie haben uns sehr geholfen.”

“Darf ich fragen, was er getan hat, damit Sie sich so sehr für ihn interessieren? Ich meine, hat er Bombendrohungen verschickt oder so?” Ihre Augen verschleierten sich ein wenig bei dem Gedanken an einen gefährlichen Mann in einer so attraktiven Verpackung.

Taylor schüttelte den Kopf. “Nein. Aber tun Sie mir einen Gefallen. Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, laufen Sie weg, so schnell Sie können. Und dann rufen Sie mich an.”

Sie verließen das Café, und das Mädchen sah ihnen nach, versuchte sich vorzustellen, was er wohl so Schreckliches getan haben könnte, dass die Polizei hinter ihm her war. Dann zuckte sie die Schultern und widmete sich wieder ihrem Kaffee.