26. KAPITEL
Taylor war zurück in ihrem Büro und wartete darauf, dass Lincoln und Marcus von der Befragung des vorletzten Rainman-Opfers zurückkamen. Sie hatte einen Anruf von Baldwin verpasst, was ihre Stimmung ein wenig trübte. Sie wollte mit ihm sprechen, aber er steckte ja quasi bis über beide Ohren in toten Mädchen.
Als sie an ein paar Berichten herumdokterte, die fertiggestellt werden mussten, betrat Fitz, gefolgt von Marcus und Lincoln, das Zimmer.
“Alles okay?”, fragte er schroff.
Taylor schaute ihn erstaunt an. “Ja, alles in Ordnung. Warum fragst du?”
“Du siehst nur ein bisschen krank aus, das ist alles. Du hast dir doch nichts eingefangen, oder?”
Taylor wischte seine Besorgnis beiseite. “Ich hatte eine lange Nacht. Mir geht’s gut, wirklich.”
“Bereit, dir anzuhören, was die Jungs über den Rainman herausgefunden haben?”
Sie nickte. “Ja, lasst uns anfangen. Aber wir gehen dazu in den Konferenzraum. Hier ist es mir zu eng.”
Sie ging vor, den Flur entlang bis zum Konferenzraum. Als alle versammelt waren, schloss sie die Tür hinter sich ab, damit sie nicht in einem ungünstigen Moment gestört werden konnten.
“Okay, was habt ihr? Marcus und Lincoln, ihr fangt an.”
Lincoln lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und öffnete eine Mappe auf seinem Schoß. “Wir haben mit dem letzten Opfer des Rainman gesprochen, Lucy Johnson. Sie war Opfer Nummer sieben und hatte Betsy erzählt, dass sie glaubte, den Mann erkannt zu haben. Nachdem sie nun ein paar Tage darüber nachgedacht hatte, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie wirklich mit dem Finger auf jemanden zeigen könnte. Marcus hat sie aber mit seinem Charme eingewickelt und sie davon überzeugt, dass es das Richtige wäre. Sie glaubt, es ist ein Mann, der mit ihr im gleichen Fitnessstudio ist. Sie sieht ihn auch in der Stadt, an der Tankstelle, im Supermarkt. Also wohnt er in der Gegend und kennt sich dort gut aus. Zu gut.”
Taylor nickte. “Ist sie vertrauenswürdig?”
Lincoln schüttelte den Kopf. “Wir wissen, dass er in einem bestimmten geografischen Umkreis tätig ist. Er hat sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, um an Betsy in East Nashville heranzukommen. Alle anderen Vergewaltigungen sind in den westlichen und südlichen Gegenden der Stadt passiert. Bellevue, Forest Hills Franklin und Brentwood.”
“Wo wohnt Lucy Jonson?”, unterbrach ihn Taylor.
“In dem Teil des südlichen Davidson County nahe Highway 100, der in Williamson County übergeht.”
“Und welches Fitnessstudio besucht sie?”
“Das YMCA in Maryland Farms.” Lincoln holte weitere Notizen aus der Mappe. “Mindestens drei der anderen Opfer trainieren ebenfalls dort. Das wäre also eine Verbindung zwischen ihnen. Ich glaube, ich verstehe, wieso Betsy ganz aufgeregt war, als Miss Johnson ihr erzählt hat, sie glaube, der Mann sei aus ihrem Studio.”
“Nun ja, das ist schön, aber konnte sie ihn auch identifizieren?”
Marcus verzog den Mund zu einem halben Lächeln. “Genau das ist das Problem. Sie nutzt die Geräte, er aber wohl hauptsächlich die Gewichte. Außerdem hat sie sein Gesicht damals nicht gesehen, sodass sie ihn nicht identifizieren kann. Außer an den Armen.”
Taylor blätterte in der Akte, ging noch einmal die Zeugenaussagen durch. “Gewichte? Ich dachte, er wäre eher schmaler gebaut”, fragte sie.
“Schmal, nicht groß, aber muskulös und stark. So sagt es zumindest Lucy Johnson.”
Fitz hatte die ganze Zeit über geschwiegen. “Könnte sie ihn bei einer Gegenüberstellung identifizieren?”, brachte er die Diskussion zurück auf gute alte Polizeimethoden.
“Sie erinnerte sich nicht an ein Gesicht. Es sind die Arme, der Körper, die Art, wie er geht. Sie sagte außerdem, dass sie ihn eine Weile schon nicht mehr im Studio gesehen hätte. Also wenn wir uns nicht alle Daten beschaffen und alle Mitgliedsausweise überprüfen, um dann eine Gegenüberstellung der Arme zu veranlassen, führt dieser Weg wohl nirgendwohin.”
Taylor biss auf ihre Unterlippe. “Ich dachte ihr hättet gesagt, sie sähe ihn ab und zu in der Stadt, bei Einkäufen und so.”
Marcus schaute zu Lincoln, und sie tauschen einen stillen Blick.
“Kommt schon, Jungs, spuckt es aus. Da steckt doch noch mehr hinter ihrer Aussage. Was ist es?”
Lincoln nickte Marcus unmerklich zu. “Wenn sie ihn in der Stadt sieht, trägt er keine Sportklamotten. Sie glaubt, dass er einen Undercover-Wagen fährt. Sie denkt, er ist einer von uns.”
Taylor legte die Akte auf den Tisch und hob eine Augenbraue. “Undercover wie in ‘einer unserer Undercover-Polizisten’? Oder einfach nur ein Kriminaler in ziviler Kleidung?”
“Das weiß sie nicht. Sie scheint sowieso nicht sonderlich viel zu wissen. Aber sie ist sich sicher, ihn in einen weißen Caprice einsteigen gesehen zu haben. Im Supermarkt meinte sie die Art an ihm zu erkennen, wie ein Polizist sich bewegt; sie glaubt zu wissen, dass er in ihrem Fitnesscenter trainiert und dass er derjenige war, der eines Abends vor ihrer Tür gestanden und sie dann vergewaltigt hat. Ich gebe zu, es ist ein bisschen dünn.”
“Weiß sie, wie der Cop heißt?”
“Nein, aber sie hat eine Beschreibung von ihm geliefert. Klingt wie ein Marineinfanterist. Ich weiß nicht, Taylor, ich kann mir nicht vorstellen, jemanden aufgrund der Art, wie er geht, zu verhaften. Und diese Lucy Johnson schien mir nicht allzu helle zu sein, falls du verstehst, was ich meine. Es könnte sein, dass sie Phantome sieht. Vergewaltigungen können sehr traumatisch sein.”
“Danke für die Erklärung, Marcus.” Taylor lächelte ihn an. “Aber ich bin im Moment nicht gewillt, auch nur die kleinste Spur außer Acht zu lassen. Lasst uns mit Betsy sprechen und sehen, was sie davon hält. Könnt ihr euch darum kümmern? Ich glaube, dass sie heute entlassen wird, also könnt ihr sie zu Hause besuchen. Und, Jungs, ich weiß, dass ich euch nicht daran erinnern muss, ab und zu über eure Schultern zu schauen. Wir wollen nicht, dass die Presse ihre Zelte vor ihrer Haustür aufschlägt, okay?”
“Sicher, Lieutenant, kein Problem.” Marcus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. “Ich frage mich, warum er nur bei Regen zuschlägt.”
Taylor wartete, ob irgendjemand anders antworten wollte. Dann antwortete sie: “Weil der Regen seine Sünden fortwäscht. Ganz zu schweigen von den Beweisen.”
Alle drei Männer schauten sie an und nickten langsam. Ja, das ergab Sinn.
Als Marcus und Lincoln gingen, um sich mit Betsy zu unterhalten, bedeutete Taylor Fitz, zu bleiben.
“Was ist los?”, fragte er und rollte einen Stift zwischen seinen fleischigen Fingern.
“Julia Page war bei mir. Mir scheint, sie ist etwas besorgt über die Fähigkeit unseres Freundes Terrence Norton, unbeschadet aus jeder Anklage gegen ihn hervorzugehen.”
“Ja, ich hab von dem widerwilligen Zeugen gehört, der von irgendeinem Typen aus Atlanta erschossen worden ist. Der Schütze hatte auch noch einen ausstehenden Haftbefehl – jetzt kühlt er hier seine Hacken, während Atlanta es gar nicht erwarten kann, ihn wieder in die Finger zu bekommen. Sie wollen ihn unbedingt, weil sie denken, dass er der Geldeintreiber für einen ihrer größten Dealer ist. Sie wollen mit ihm einen Deal aushandeln, und zwar sofort. Du weißt, wie schnell diese Jungs vom Erdboden verschwinden, sobald ihren Bossen gedroht wird.”
“Ja. Page scheint allerdings zu denken, dass diese Sache tiefer reicht. Sie glaubt, er wurde eingeflogen, um den Zeugen zum Schweigen zu bringen, nur für den Fall, dass er sich das mit der Zeugenaussage doch noch mal überlegt. Sie glaubt auch, dass Terrence es angeordnet hat.”
“Alles ist möglich. Terrence ist ein kleiner Scheißer, aber so etwas ist ihm durchaus zuzutrauen. Ich glaube nicht, dass er schon auf diesem Level ist, aber …”
“Wärst du bereit, der Sache für mich mal nachzugehen? Zu prüfen, wie stark Terrence geworden ist? Page würde ihn zu gerne wegen Beeinflussung, Einschüchterung, irgendetwas drankriegen, was ihn endlich mal hinter Gitter bringt.”
Fitz stand auf und streckte sich, sein beeindruckender Bauch reckte sich zum Himmel. “Sicher. Ich spreche mal mit ein paar vertraulichen Informanten, mal sehen, was man sich auf der Straße so erzählt. Eins kann ich dir sagen, er ist schon ganz gut darin, sich zu schützen. Vielleicht ist er eine größere Nummer, als wir alle denken.”
“Dann brich seinen Schutz für mich auf. Die Drogen- und Gangszene ist hier schon stark genug, wir brauchen keinen weiteren Mitspieler. Sprich mit wem auch immer du musst. Aber behalt’s für dich, okay?” Einen Moment kaute sie nachdenklich auf ihrem Stift. “Page glaubt, dass die Korruption sogar noch viel tiefgreifender ist. Ganz bis rauf zur Richterbank.”
Fitz lachte. “Darüber würde ich mir nicht meinen hübschen Kopf zerbrechen. So viel Macht hat Terrence nicht. Außerdem war Hamilton tierisch sauer auf Page, weil die Jury Terrence dieses Mal freigesprochen hat. Ich hab gehört, er ist wild auf Pages Hintern, und nicht auf gute Art.”
“Ja, das habe ich mir schon gedacht. Aber verfolg bitte mal den Zeugen-Jury-Ansatz mit Page und sieh zu, ob du auf etwas stößt. Halt die Ohren offen, befrag deine Quellen, du weißt schon.”
“Hab verstanden. Ich beschäftigte mich sowieso lieber mit Kriminellen, die ich verstehe. Drogendealer, Zuhälter, den ganz normalen Abschaum Nashvilles. Ich hasse diesen Serienmörderscheiß.”
Taylor sammelte ihre Sachen zusammen und versuchte etwas Ordnung zu schaffen, als das Telefon läutete.
“Lieutenant Jackson.”
“Taylor, ich bin’s, Mitchell. Sie müssen mir einen Gefallen tun.”
“Da Sie mein Boss sind, wird alles, was Sie mir sagen, als direkter Befehl verstanden.”
Normalerweise brachten ihn ihre frechen Kommentare zum Lachen, und heute gab es keine Ausnahme von dieser Regel. “Während ich es sehr zu schätzen weiß, dass Sie meine Untergebene sind, habe ich doch das Gefühl, dass Sie den Laden ganz alleine schmeißen. Ich hab gehört, Sie waren heute Morgen am Unfallort, dort, wo Whitney Connolly ihr Leben verlor?”
“Stimmt. Sam und ich waren um die Ecke einen Kaffee trinken, also bin ich mit hingegangen. Wieso, ist irgendwas nicht in Ordnung?”
“Nein, alles okay so weit. Aber ich muss Sie bitten, zu Quinn Buckley zu fahren. Sie ist Whitney Connollys Schwester.”
“Ich weiß, wer sie ist, Boss. Ich war ein paar Jahre lang mit ihnen zusammen auf der Schule. Nach dem ‘Vorfall’ sind sie auf meine Schule gewechselt. Außerdem glaube ich nicht, dass es irgendjemanden in Nashville gibt, der nicht weiß, wer Quinn und Whitney sind.”
“Ja, sicher, es ist lange her, und die Mädchen haben Schreckliches durchlitten. Und jetzt ist Whitney bei einem Unfall getötet worden. Ein großer Schock, nach allem, was ich so höre. Nicht nur eine normale Schwester, sondern ein eineiiger Zwilling. Offenbar trifft diese Nachricht Quinn Buckley schwer, was nicht anders zu erwarten war. Ich habe gehört, dass Zwillinge so eine bizarre Verbindung miteinander haben, die es bei normalen Geschwistern nicht gibt. Wie auch immer, ich schweife ab. Sie hat den Officers, die sie von dem Unfall unterrichtet haben, erzählt, dass Whitney versucht hat, sie zu erreichen. ‘Panisch’ war das Wort, das sie gebrauchte. Ich dachte, Sie könnten mal rüberfahren und schauen, was ‘panisch’ in Belle Meade bedeutet.”
“Gerne. Ich hab mich schon eine ganze Weile nicht mehr unters gemeine Volk gemischt. Wie ist eigentlich der Status in ihrem Fall? Ist der Kerl jemals auf Bewährung entlassen worden?”
“Nein. Er sitzt immer noch, und das wird wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben. Also glaube ich nicht, dass es etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hat, sondern mit der Gegenwart. Aber wenn Sie rüberfahren und es für mich herausfinden würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.”
“Okay, mach ich.”
“Wo stehen Sie mit den Vergewaltigungen?”
“Lincoln und Marcus haben ein Opfer befragt, das glaubt, ihn erkannt zu haben. Sie ist etwas wacklig mit ihrer Aussage, sodass ich nicht sicher bin, ob sie die beste Informationsquelle für uns ist. Aber die Jungs haben mir was Interessantes erzählt: Sie denkt, er ist ein Cop.”
Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. “Glauben Sie das? Könnte es sein, dass da auch die undichte Stelle herkommt? Wenn es einer von uns ist, hätte er die Information selber durchsickern lassen können.”
“Sehr gut spekuliert, Captain, aber ich glaube, es ist etwas zu früh für solche Annahmen. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass die undichte Stelle außerhalb dieses Gebäudes zu suchen ist. Lincoln und Marcus überprüfen die Angelegenheit jedenfalls gerade. Ich habe sie losgeschickt, um noch mal mit Betsy zu sprechen. Wir kriegen den Fall schon gelöst, das verspreche ich.”
Sie legten auf, und Taylor fuhr fort, ihre restlichen Sachen zusammenzupacken. Dann ging sie zur Hintertür raus, blieb einen Augenblick auf dem obersten Treppenabsatz stehen, wo Zigarettenfilter wie Stachelschweinborsten aus einem mit Sand gefüllten orangefarbenen Eimer sprossen. Sie atmete durch und ging weiter, aber zwanzig Schritte später hielt sie an und wühlte in ihrer Tasche nach der Packung Camel Lights. Sie zündete sich eine davon mit einem billigen Einwegfeuerzeug an und nahm einen tiefen Zug. Sie rechtfertigte sich zum millionsten Mal: Sobald dieser Fall vorbei war, würde sie endlich aufhören.
In ihrem Auto kurbelte sie das Fenster herunter und legte einen Gang ein. Den Rauch aus dem Fenster pustend fuhr sie auf den Broadway, bog dann rechts ab und fuhr weiter Richtung West End.
Sie hatte schon lange nicht mehr an den Connolly-Fall gedacht. Es war passiert, als sie erst dreizehn war, und zu der Zeit hatten ihre Eltern alle Informationen so gut es ging von ihr ferngehalten, um sie nicht zu verängstigen. Aber ihr waren die Gerüchte natürlich auch zu Ohren gekommen, wie jedem Kind in der Stadt. Und auch wenn die Geschichte korrekt wiedergegeben worden war, fehlten doch entscheidende Details.
Eines Nachmittags waren die Connolly-Schwestern auf dem Heimweg von der Schule verschwunden. Sie gingen auf die Harpeth Hall, eine exklusive Mädchenschule in Belle Meade. Die Schule war nicht weit von ihrem Zuhause entfernt, und normalerweise gingen sie in ihren niedlichen Uniformen zu Fuß oder fuhren mit dem Fahrrad. Die Nachbarschaft war so sicher, dass niemand sich darüber Gedanken machte. Als die Mädchen am Abend immer noch nicht zu Hause waren, benachrichtigten die Eltern endlich die Polizei. In den Tagen vor Livesendungen mit Berichterstattung rund um die Uhr hatte die Nachricht sich nicht sehr weit verbreitet. Taylor konnte sich nicht daran erinnern, je etwas im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen zu haben. Alles, was sie wusste, hörte sie von Freundinnen. Die Mädchen verschwanden und wurden ein paar Tage später gefunden. Sie waren ihrem Entführer entkommen, einem seltsamen Mann namens Nathan Chase. Laut offizieller Aussage ging es ihnen gut, als sie nach Hause kamen. Aber die Gerüchteküche brodelte umso heftiger.
Das Auftauchen der Connolly-Schwestern auf Father Ryan, der Highschool von Taylor und Sam, verursachte kaum Aufsehen. Die wohlerzogenen Schüler und ihre vornehmen Eltern sorgten dafür, dass die Mädchen mit offenen Armen aufgenommen und niemals wegen der Geschichte belästigt wurden. Zumindest war das der Eindruck, der an der Oberfläche entstand. In Wahrheit wurde einfach nur sehr diskret geflüstert und gestarrt, wurden die Geschichten hinter verschlossenen Türen weitergegeben, tuschelten die privilegierten Teenager während des Cheerleadertrainings und der Footballspiele. Die Wände des Belle Meade Country Clubs gaben die Geschichte weiter und schwiegen schnell stumm, wenn ein Mitglied der Connolly-Familie auftauchte.
Aber die Connolly-Mädchen wurden problemlos akzeptiert, zu allen wichtigen Partys eingeladen, von den besten und klügsten Jungs ausgeführt, erzielten hervorragende Noten und versäumten niemals, sich anzupassen. So sah es zumindest aus. Anstatt ihnen zu schaden, hatte der Skandal sie zu etwas Besonderem gemacht.
Der Sommerhimmel verdunkelte sich durch ein heranrollendes, für diese Gegend typisches Nachmittagsgewitter. Taylor öffnete das Sonnendach ihres Autos und genoss die frische Luft, die den Sturm ankündigte. Auf der Interstate 40 lief der Verkehr langsam und ziellos. Über die ruhigen Straßen des West Ends erreichte sie endlich die Kreuzung Harding Road und White Bridge Road. Es schien Tage her zu sein, dass sie hier einen Kaffee mit Sam getrunken hatte, und nicht erst die paar Stunden seit heute Morgen. Sie hatte es geschafft, alle Gefühle der letzten zwei einer Achterbahnfahrt ähnelnden Tage zur Seite zu schieben, aber der Anblick des Starbucks brachte die Erinnerung an die Neuigkeiten – oder besser die Nicht-Neuigkeiten – mit einem Schlag zurück.
Sie nahm an, dass sie Baldwin von dem falschen Alarm erzählen, ihre Gefühle so leichtherzig wie möglich mit ihm teilen sollte. Sie wollte weiß Gott nicht, dass irgendetwas ihre Beziehung auseinanderbrachte. Die Dinge liefen gut. Sie war zufrieden. Sie liebte ihn, er liebte sie. Ende der Geschichte. Sie wollte nicht unbedingt das, wonach sich anscheinend so viele Frauen sehnten. Ein toller Mann, ein wundervoller Bettgefährte, Freundschaft – das reichte ihr. Ganz sicher hatte ihr Plan keinen Platz für die statistischen zwei Komma fünf Kinder und den einen Hund. Sie war nie verheiratet gewesen, nicht mal verlobt. Vor Baldwin hatte sie sich die körperlichen Freuden gegönnt, wo sie sich anboten, und alle emotionalen Verwicklungen gemieden. Diskrete, kurzlebige Affären nach ihren Regeln. Sex, keine Liebe. Komisch, ihr war nie aufgefallen, wie einsam sie gewesen war.
Sie fuhr langsamer, als sie an die Zufahrt zu Belle Meade kam. Der Unfallort war aufgeräumt und die Straße wieder freigegeben worden, aber am Straßenrand und im Gras auf dem Mittelstreifen glitzerten immer noch Scherben in der Sonne. Autos flitzten sorglos über die Kreuzung, sich der vier Menschenleben, die an diesem Ort genommen worden waren, nicht bewusst. Das Zittern einer Vorahnung durchlief Taylor, und sie schloss das Fenster, schob die Schuld auf die kühle Brise, die vom grauen Himmel wehte. Sie bog links ab und fuhr den ruhigen, eleganten Boulevard entlang.
Sie ignorierte die Seitenstraße, die zu dem Haus führte, in dem sie aufgewachsen war.
Vor ihr tauchte die Auffahrt zum Anwesen von Quinn Buckley auf. Sie bog ab und stieß auf ein schwarzes, schmiedeeisernes Tor. Auf Fensterhöhe war ein kleiner Kasten angebracht. Sie öffnete das Fenster und steckte ihren Kopf hinaus.
“Taylor Jackson für Mrs. Buckley, bitte.”
Anstatt einer verbalen Antwort schwangen die massiven Torflügel langsam auf. Als Taylor mit dem Auto hindurchfuhr, wurde sie von einem sommergrünen Wald verschluckt, der ihr in der Brise abschreckend zuzuwinken schien. Der Weg schlängelte sich ein paar Hundert Meter durch diesen Wald. Als sie um eine Kurve bog, kam die Villa in Sicht. Das weiße, im Plantagenstil erbaute Haus hatte zwei Etagen und massive Säulen, die eine elegante Terrasse umschlossen. Vier steinerne Kamine reckten sich in den Himmel. Ein West- und ein Ostflügel grenzten an das Haupthaus, und Taylor sah eine separat stehende Garage, in der mindestens fünf Autos Platz hatten und die durch einen von Efeu überwachsenen Gang mit dem Ostflügel verbunden war. Die westliche Seite verlor sich im Wald. Dem Architekten war es gelungen, die natürliche Schönheit der Umgebung in seine Gestaltung zu übernehmen. Schwarze Fensterläden schienen bekümmert in die Sonne zu blinzeln, und die Luft schien hier schwerer zu sein, so als ob das ganze Anwesen selbst trauerte.
Taylor parkte vor einem Springbrunnen, der an die italienische Renaissance erinnerte. Ihr fiel auf, wie viel Pflege und Sorgfalt auf den vorderen Teil des Gartens verwandt worden waren. Der Ort roch förmlich nach Geld. Taylor zog an der Klingelschnur und ging wartend die Treppen auf und ab. Gerade als sie anfing, ungeduldig zu werden, schwangen die mit Ornamenten verzierten Doppeltüren auf, und Quinn Buckely erschien.
Taylor hatte Quinn schon länger nicht mehr gesehen. Hätte sie sich für die Klatschmagazine Nashvilles interessiert, dann hätte sie Quinn sofort wiedererkannt. Aber alles, was sie sah, war das Gesicht von Quinns Schwester. Taylor hatte Whitney Connollys Gesicht vor Augen, und sie musste leicht den Kopf schütteln, um festzustellen, dass sie es nicht war. Als sie die Treppen zur Eingangstür emporstieg und Quinn besser sehen konnte, waren die kleinen Unterschiede zwischen den beiden Frauen sofort ersichtlich. Quinn war nicht so kurvig wie Whitney, ihr Mund war zwar auch groß, aber die Lippen nicht so voll und schmollend. Taylor ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie viele Schönheitsoperationen Whitney Connolly wohl im Laufe der Jahre gehabt hatte.
Quinn Buckley hatte das gute Aussehen ihrer Schwester, so viel stand fest. Aber während Whitney auf dem Fernsehschirm immer als ganz hübsch rübergekommen war, verströmte Quinn eine Aura von Klasse und Geld. In ihren tief auf den Hüften sitzenden Jeans und den legeren Cowboystiefeln kam Taylor sich ein wenig schäbig vor. Ihr fielen Quinns perfekte Strähnen auf, und instinktiv fasste sie sich an ihren eigenen blonden Pferdeschwanz. Dann riss sie sich zusammen, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und ging mit energischen Schritten die letzten Stufen hinauf.
Quinn streckte ihr eine schmale, manikürte Hand entgegen, als Taylor auf der obersten Stufe angekommen war. “Lieutenant Jackson?”
Sogar ihre Stimme unterschied sich von Whitneys. Sie war sanfter, etwas höher, und sie hatte definitiv einen leichten Südstaateneinschlag. Wie zwei Frauen sich so ähnlich und doch so verschieden sein konnten, war erstaunlich.
Taylor nahm Quinns Hand und nickte. “Die bin ich. Wie geht es Ihnen, Mrs. Buckley? Ich glaube, wir haben uns seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen. Ich war ein Fan Ihrer Schwester.”
Kurz huschte ein Schatten über Quinns Gesicht, dann lächelte sie anmutig. “Natürlich. Bitte, kommen Sie doch herein.” Sie drehte sich um und ging in die große Eingangshalle voraus, in der sich eine ausladende Treppe links und rechts die Wand entlang emporschwang. Taylor fühlte einen kleinen Stich. Ihr Elternhaus sah genauso aus, und sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind das geschwungene Treppengeländer heruntergerutscht war. Quinn bemerkte ihren Blick und sah sie fragend an.
“Das erinnert mich an … ach, ist egal.” Taylor hatte diesen Blick schon öfter gesehen, und auch dieses Mal brachte er ihr Herz zum Flattern. Als ob sie noch nie in einem noblen Haus gewesen wäre. Bitte. Bei dem leicht herrischen Blick, den Quinn ihr schenkte, wäre sie beinahe in lautes Lachen ausgebrochen. Von ihren ehemaligen Mitschülern und deren Eltern erntete Taylor immer die gleiche Reaktion. Ihre Eltern hatten Geld, und doch hatte sie sich für den Polizeidienst entschieden, anstatt ein privilegiertes Leben zu führen, wie es Quinn Buckley offensichtlich tat. Einige von ihnen konnten einfach nicht verstehen, dass Geld ihr nichts bedeutete.
“Ich verstehe. Wenn Sie mir dann bitte folgen würden? Ich dachte, wir könnten im Arbeitszimmer reden.” Quinn wandte sich nach links und betrat einen riesigen, wundervoll eingerichteten Raum. Der satte Geruch von Leder kitzelte Taylor in der Nase, und sie bemerkte auch einen Hauch von Zitronenöl. Als sie weiter in das Zimmer trat, schnappte sie nach Luft. Ein Arbeitszimmer, ja, sicher. Das hier war eine der schönsten Bibliotheken, die sie je gesehen hatte. Deckenhohe Bücherregale, einladende Möbel, oh, sie könnte hier Jahre verbringen. Es hatte nichts von der Kühle und Sterilität, die Taylor im restlichen Erdgeschoss verspürt hatte. Dies hier war ein Raum, um Ruhe und Trost zu finden. Ein Ort, an dem man im wahrsten Sinne des Wortes seine Seele baumeln lassen und es sich gemütlich machen konnte. Sie schaute zu Quinn und bemerkte, dass deren Lippen amüsiert zuckten.
“Ich nehme an, Sie lesen gerne?” Quinn ging hinüber zu einem der Walnussregale und nahm ein zufällig gewähltes Buch heraus. “Ich auch. Whitney hat früher auch gerne gelesen, aber als Teenager hat sie die Lust daran verloren. Ich hingegen kann mir keine bessere Möglichkeit vorstellen, einen Nachmittag zu verbringen, als mich in meinem Sessel zusammengekuschelt in einem Buch zu verlieren.”
“Das geht mir genauso, aber ich habe leider nicht so einen schönen Ort dafür. Dieser Raum ist wundervoll.”
Quinn zeigte das erste echte Lächeln. “Ja, es ist mein privates Refugium. Ich ermutige den Rest meiner Familie, mir meine Privatsphäre zu gönnen, wenn ich hier drinnen bin. Es ist mein eigener kleiner Zufluchtsort vor der Außenwelt.”
Sie klang so abgespannt, dass sie Taylor leidtat. Gerade erst hatte sie ihre Schwester verloren, und schon war Taylor da und benahm sich wie ein Kind im Bonbonladen. Schnell riss sie sich zusammen und wandte sich mit einer angemessenen Mischung aus Trauer und professioneller Sorge wieder an Quinn. Kurz überlegte sie, warum Quinn die Polizei in ihr Heiligtum ließ – das schien gar nicht zu ihr zu passen. Quinn kam ihr nicht gerade wie der vertrauliche Typ vor.
“Das mit Whitney tut mir wirklich leid. Mein Captain hat erwähnt, dass sie versucht hat, Sie zu erreichen?”
Quinn ließ sich in einen Sessel sinken und zog die Füße unter. “Versuchen ist ein bisschen milde ausgedrückt. Sie muss seit gestern zwanzig-, fünfundzwanzigmal angerufen haben. Auf meinem Handy, bei meinem Anschluss hier zu Hause, und sogar im Country Club hat sie Nachrichten hinterlassen.”
Ah, dachte Taylor, der Belle Meade Country Club. Das Lieblingsrefugium von Nashvilles Society.
“Wenn die Frage erlaubt ist: Wo waren Sie?”
Quinn schenkte ihr einen unlesbaren Blick. Dann stand sie auf und ging im Zimmer herum, berührte einige Gegenstände, als wollte sie sich vergewissern, dass sie sich immer noch in ihrem Besitz befanden. “Ich war einfach … unterwegs, habe ein Dinner vorbereitet, Besorgungen erledigt. Nichts Besonderes. Ich habe viele Verantwortlichkeiten, und ich habe die Neigung, viel auf den Beinen zu sein. Manchmal vergesse ich, mein Handy aufzuladen, manchmal auch, meinen Anrufbeantworter abzuhören. Jake war in der Stadt, sodass ich ganz sicher nicht ans Telefon gegangen bin. Mein Mann ist geschäftlich oft unterwegs, und wenn er zu Hause ist, versuche ich, so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen. Wir hatten ein schönes Abendessen und sind früh ins Bett gegangen. Heute Morgen bin ich spazieren gegangen und habe mein Telefon nicht mitgenommen. Als ich zurückkam und sah, wie viele Anrufe von Whitney ich verpasst hatte, war es zu spät. Da hatte sie bereits den Unfall gehabt.”
Quinns Stimme brach, und sie drehte sich zu der verglasten Doppeltür in den Garten. Taylor gab ihr einen Moment, um die Fassung zurückzugewinnen, dann stellte sie eine Frage.
“Mrs. Buckley, standen Sie und Ihre Schwester sich nahe? Haben Sie jeden Tag miteinander gesprochen oder vielleicht eher einmal die Woche?”
Quinn hatte sich wieder im Griff. “Nein, Lieutenant, wir standen uns nicht sonderlich nah. Ich weiß, für eineiige Zwillinge ist das seltsam, aber im Laufe der Jahre haben wir uns auseinanderentwickelt.” In ihren Augen glitzerte es, entweder eine Träne oder Erinnerungen an früher, und Taylor machte sich in Gedanken eine Notiz, herauszufinden, weshalb sie sich auseinandergelebt hatten. “Es tut mir leid, Lieutenant, ich bin fürchterlich unhöflich. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee? Ich denke, ich nehme eine Cola light, wenn das für Sie in Ordnung ist.”
“Für mich auch, vielen Dank.”
Quinn trat an den Tisch und nahm eine silberne Glocke zur Hand. Beinahe hätte Taylor laut gelacht, es schien so unglaublich prätentiös. Quinn läutete die Glocke und einen Augenblick später kam eine junge Frau mit fließenden schwarzen Haaren und glänzenden braunen Augen herein.
“Sì, Signora Quinn?”
Quinn schenkte ihr ein warmes Lächeln, das sie alles andere als herrisch im Umgang mit ihrer Angestellten wirken ließ. “Gabrielle, possiamo avere due Cola lights, per favore? Grazie.”
Gabrielle verschwand wieder, und Quinn wandte sich an Taylor. “Sie ist wundervoll. Italienerin. Ihre Familie stammt aus Florenz. Sie wollte gerne in den Staaten arbeiten, um ihr Englisch zu verbessern, und wir brauchten jemanden, der sich um die Zwillinge und einige Dinge im Haushalt kümmert. Offiziell ist sie das Au-pair-Mädchen meiner Kinder. Sie lieben sie und sprechen inzwischen besser Italienisch als ich. Nicht, dass meines fließend wäre.”
Die Erklärung kam schnell und etwas hastig. Taylor hatte das Gefühl, dass Quinn etwas verbarg. Interessant.
Und Zwillinge? Taylor wusste, dass Quinn Kinder hatte, aber sie hatte nicht gefragt, wie viele oder ob Junge oder Mädchen. Manchmal vergaß sie solche Höflichkeiten einfach. Gott sei Dank beantwortete Quinn sogar ihre ungestellten Fragen.
“Die Zwillinge, Jillian und Jake Junior, sind im Moment in der Schule. Sie sind beinahe vier und so unglaublich klug. Ich bin wirklich gesegnet.”
“Schule? In dem Alter?”
“Nun, es ist nie zu früh, mit dem Lernen anzufangen. Sie besuchen an drei Tagen die Woche einen Kindergarten. Haben Sie Nachwuchs, Lieutenant?”
Der plötzliche Wechsel erwischte Taylor kalt. Wie sollte sie darauf antworten? Mal sehen, vor zwei Tagen wurde mir gesagt, dass ich schwanger bin, aber gestern fand ich heraus, dass es nicht stimmt. Ich habe meinem Liebhaber nichts davon erzählt, also werden wir eine lange Unterhaltung darüber führen müssen, sobald er damit fertig ist, einen Serienmörder durch die Südstaaten zu jagen. Sie musste ein Lachen unterdrücken, bevor sie so ehrlich wie möglich antwortete: “Noch nicht, aber meine beste Freundin erwartet Zwillinge. Sie haben es gerade erst herausgefunden. Erinnern Sie sich an Sam Owens? Jetzt heißt sie Sam Loughley. Sie war in meiner Klasse.” Gute Arbeit, Taylor, gratulierte sie sich. Ablenkung ist immer noch die beste Taktik.
“Ich erinnere mich an Samantha. Sie ist jetzt Gerichtsmedizinerin, nicht wahr? Bestimmt ein interessanter Beruf. Und wie schön für sie. Kinder sind so eine Freude. Jake und ich waren ganz aus dem Häuschen, als wir erfuhren … Oh Lieutenant, ich sollte Ihre Zeit nicht mit diesem Geplauder verschwenden. Das wird meine Schwester auch nicht zurückbringen.”
Sie wurde von Gabrielle unterbrochen, die mit einem Silbertablett eintrat, auf dem zwei mit Eiswürfeln gefüllte Kristallgläser standen. “Grazie tanto, Gabrielle. Lascili prego sulla tavola.” Das Mädchen setzte das Tablett auf einem Tischchen mit Marmorplatte ab und verließ den Raum.
Quinn ging zum Tablett, nahm sich eine Dose Cola und ignorierte die Gläser. Taylor zog eine Augenbraue hoch und tat es ihr dann gleich. Die Geste schien sehr leger für eine so formelle Frau. Vielleicht war Quinn Buckley doch nicht so neurotisch, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hatte.
Sie gingen hinüber zu den Sesseln vor dem Kamin, die so angeordnet waren, dass man sich gegenübersitzen konnte. Taylor setzte sich und holte ihr Notizbuch heraus.
“Okay, Mrs. Buckley, können Sie mir sagen, worüber Whitney so aufgebracht war?”
“Es wird einfacher sein, wenn Sie es sich selbst einmal anhören.” Sie fasste hinter sich und drückte einen Knopf. Erst jetzt bemerkte Taylor den Anrufbeantworter, der dort auf einem kleinen Tisch stand.
Aha, darum also das Treffen in Quinns Refugium.
“Vorhin sagten Sie, mein Anrufbeantworter, Mrs. Buckley. Haben Sie mehr als einen?”
“Oh, wir haben ein Voicemail-System für die Familie. Dieser hier ist nur für meine Privatnummer.” Mehr erklärte sie nicht.
Der Apparat summte kurz, dann klickte es, und eine Stimme füllte den Raum.
“Quinn? Quinn, bist du da? Verdammt, geh ans Telefon. Ich muss mit dir reden. Ich komme jetzt zu dir, das kann einfach nicht warten. Wenn du diese Nachricht bekommst, warte zu Hause auf mich. Und, Quinn? Um Himmels willen, pass bitte auf dich auf.”
Die Stimme klang hysterisch, und Taylor fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.
“Waren alle Nachrichten so wie diese, Mrs. Buckley?”, fragte sie.
“Ja, die meisten. Sie hat nie gesagt, was so verdammt wichtig ist, dass sie in der Eile, zu mir zu kommen, ihr Auto zu Schrott fährt. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie mich hätte wissen lassen, worin das Problem lag. Und warum ich auf mich aufpassen sollte. Meine Güte, diese Frau hat normalerweise nie so überreagiert.”
Sie fummelte nervös an der Goldborte eines Sofakissens herum.
“Ich hatte gehofft, dass Sie der Sache für mich nachgehen könnten, Lieutenant. Vielleicht einige der Storys näher unter die Lupe nehmen, an denen sie gearbeitet hat. Vielleicht ist sie ja bei Recherchen auf etwas gestoßen, was mich oder meine Familie betreffen könnte.” Sie räusperte sich. “Vielleicht ist Whitney auf etwas … Peinliches gestoßen? Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch erzählen kann.”
Taylor schwieg einen Augenblick. “Mrs. Buckley …”
“Sagen Sie doch bitte Quinn. Immerhin sind wir im gleichen Alter. Wenn ich Mrs. Buckley höre, muss ich immer an Jakes Mutter denken.”
Taylor nickte. “Quinn, Sie erwähnten, dass Ihr Mann viel reist. Darf ich fragen, was er beruflich macht?”
“Meine Güte, Sie sind wirklich nicht mehr auf dem Laufenden, was, Lieutenant?”
“Taylor, bitte. Wieso auf dem Laufenden?”
“Nun, Ihr Vater, Win? Er ist mit Jake befreundet.”
Ah, Win Jackson. Das war ein Thema, das sie im Augenblick nicht behandeln wollte. “Mein Vater und ich stehen uns nicht sehr nahe. Also klären Sie mich auf, was tut Jake?”
“Er ist Senior-Vizepräsident von Health Partners. Ihr Vater sitzt im Aufsichtsrat der Firma.”
“Oh”, gab Taylor von sich. Als wenn ihr das was sagen sollte. Quinn musste ihren verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie fuhr mit ihrer Erklärung fort.
“Health Partners ist das führende Unternehmen für kleine, kommunal geführte Krankenhäuser im Land. Jake muss ständig von einem Standort zum nächsten reisen, um sicherzustellen, dass alles reibungslos läuft und seine Ordnung hat. Sie haben Kliniken im gesamten Südosten und auch ein paar im Nordosten. Das Unternehmen wächst, und Jakes Job ist es, sich darum zu kümmern, dass sie an den richtigen Standorten wachsen.” Quinn klang gelangweilt, als wenn sie eine Kurzbeschreibung des Unternehmens aus dem Jahresbericht ablesen würde. Sogar ihre Augen glänzten leicht. Taylor vermutete, dass Quinn kein großes Interesse an dem Beruf ihres Mannes hatte, trotz all der offensichtlichen Vorteile, die er mit sich brachte. An Geld zumindest mangelte es ihnen ganz bestimmt nicht.
“Okay, das reicht mir schon. Wissen Sie was? Sicherlich möchten Sie die privaten Sachen Ihrer Schwester durchsehen. Ich werde Sie begleiten und mich ein wenig umschauen. Klingt das gut?”
“Das wäre sehr schön. Wann würde es Ihnen passen?”
Taylor fiel auf, dass in dem Moment, als Quinn von ihrem Mann sprach, ihre Stimme alle Wärme und Lebendigkeit verloren hatte. Doch sie kehrten jetzt wieder, als es um ihre Schwester ging.
“Ich habe Zeit. Wollen wir jetzt gleich gehen?”
“Mir wäre morgen früh lieber. Ich muss mich noch um ein paar Sachen kümmern, und ich hab auch unseren jüngeren Bruder Reese noch nicht erreicht. Er ist in Guatemala auf einer Missionsreise mit mehreren Ärzten vom Vanderbilt. Er ist der jüngste Assistenzarzt aller Zeiten, der so eine Reise mitmachen darf. Sie werden zwei Wochen lang Operationen an Gaumenspalten, Gelenken, na ja, allem, was diese armen Menschen sich nicht leisten können, durchführen. Reese wird einige Vor- und Nachbehandlungen vornehmen. Wie auch immer, das tut ja gerade nichts zur Sache. Er wird frühestens in einer Woche zurückkommen. Ich werde versuchen, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, aber bevor er geflogen ist, hat er mir schon gesagt, dass es keine verlässliche Verbindung zu ihm geben wird.”
Taylor reichte ihr eine Visitenkarte. “Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie so weit sind. Mir passt es morgen jederzeit.”
Sie tauschten noch ein paar Nettigkeiten zum Abschied aus, dann zog Taylor sich hastig zurück. Irgendetwas an Quinn Buckley wirkte auf sie sehr traurig, und zwar nicht nur die Tatsache, dass gerade ihre Zwillingsschwester gestorben war.
Zurück in ihrem Auto, entschied Taylor, dass sie noch genug Zeit hatte, um bei Betsy Garrison vorbeizuschauen. Sie wählte die Nummer, und Brian Post antwortete.
“Hey, Post, kann ich vorbeikommen? Ich will mal nach Betsy sehen. Vielleicht ein paar Minuten über den Fall sprechen.”
“Weiß du was, Taylor? Es wäre vielleicht am besten, wenn wir ihr noch einen Tag Ruhe gönnen. Die Wirkung der Medikamente lässt nach, und sie fängt langsam an, zu begreifen, was passiert ist. Sie ist ziemlich sauer, und dass die Geschichte an die Öffentlichkeit gekommen ist, hilft dabei auch nicht gerade. Ich will nicht, dass sie das jetzt alles durchmachen muss, während andere Leute dabei sind, verstehst du?”
“Natürlich. Kein Problem. Sie soll mich einfach anrufen, wenn sie Lust hat zu reden. Soll ich in der Zwischenzeit dich auf dem Laufenden halten?”
“Ich habe bereits mit Lincoln und Marcus gesprochen. Sie haben mir alles erzählt. Sieht so aus, als wenn wir nach einem der Unseren Ausschau halten müssen, nicht wahr?”
“Na ja, es gibt viele unterschiedliche, lokale Polizeieinheiten in den mittleren Südstaaten. Vielleicht gehört er ja zu einer von den anderen.”
“Das wäre großartig”, erwiderte er mit einer Spur Sarkasmus. “Weißt du was, ich rufe deine Jungs morgen früh an, und dann können wir entscheiden, wie wir weitermachen.”
“Klingt gut. Grüß Betsy schön von mir. Klingt so, als hätte sie verdammtes Glück, dich bei sich zu haben.”
“Mach ich, Taylor. Danke.”